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Ein Schweißer auf Abwegen

Das war der Stoff, aus dem Helden gemacht werden: Ein bekannter junger Regimekritiker wird festgenommen, indem das Flugzeug, in dem er sitzt, zur Landung genötigt wird. Roman Protassewitsch wurde so zum bekanntesten politischen Gefangenen des Regimes von Alexander Lukaschenko, das ihn auf die Liste gesuchter „Terroristen” gesetzt hatte. Sein Vergehen: Der damals 26-Jährige war zeitweise Chefredakteur von Nexta, einer digitalen Plattform, die während der Proteste 2020 in Belarus zu einem der wichtigsten Medien avancierte.    

Dann aber bekam die Geschichte einen gewaltigen Knick. Was ist passiert? Für das russische Online-Portal Novaya Gazeta Europe geht die belarussische Journalistin Iryna Chalip der Verwandlung des Roman Protassewitsch nach. 

Источник Novaya Gazeta Europe

Die Verhaftung von Roman Protassewitsch und seiner Freundin Sofia Sapega war filmreif: Am 23. Mai 2021 machte ein Flugzeug der Ryanair, das von Athen nach Vilnius flog und sich gerade in belarussischem Luftraum befand, auf Anweisung der Flugsicherung eine Notlandung in Minsk. Angeblich bestand Verdacht, ein Sprengsatz sei an Bord. Alle Passagiere durften später nach Vilnius weiterreisen, nur Protassewitsch und Sapega wurden festgenommen.  

Der Westen reagierte prompt: Der einzigen belarussischen Fluggesellschaft Belavia wurden nicht nur Flüge nach Europa verboten, sondern auch das Durchqueren des EU-Luftraums. Auf europäischen Flughäfen tauchten Porträts von Roman Protassewitsch auf, an Minsker Balkonen hingen Plakate mit einem einzigen Wort: Roma. Und schließlich erschien Roman höchstselbst.  

Am 14. Juni versammelten sich Journalisten zu einer Pressekonferenz über den Zwischenfall mit dem Flugzeug. Das Aufgebot der Redner konnte sich sehen lassen: Igor Golub, Kommandeur der belarussischen Luftstreitkräfte und Flugabwehr, Dmitri Gora, Vorsitzender des Ermittlungskomitees, Artjom Sikorski, Chef der Abteilung für den Flugverkehr im Transportministerium, Andrej Filatow, Leiter der Ersten Hauptverwaltung des staatlichen Grenzkomitees – und der verhaftete Protassewitsch. 

Roman war gutgelaunt und optimistisch, sagte, keiner würde ihm was tun, seine Kooperation mit den Ermittlern sei absolut freiwillig, das Wichtigste sei für ihn, den Schaden wiedergutzumachen, den er als Chefredakteur von Nexta seinem Heimatland zugefügt habe, er fordere seine Eltern zur Rückkehr nach Belarus auf, denn hier seien sie vollkommen außer Gefahr.  

Damals hätte niemand gewagt, Protassewitschs Auftritt zu verurteilen oder auch nur schief zu gucken: Der Mann war im Gefängnis, und alle kennen die Methoden, mit denen Schuldeingeständnisse, Zusammenarbeit mit den Behörden und Reuebekundungen erzielt werden. Zehn Tage später wurde bekannt, dass Protassewitsch und Sapega in den Hausarrest wechseln durften, nämlich in ein Landhaus im Grünen, das die Silowiki den beiden zur Verfügung stellten.

 

Ein Mann zeigt ein Plakat mit dem Porträt von Roman Protassewitsch auf dem Marsch der Solidarität mit Belarus am 29. Mai 2021 in Krakau / © Foto Beata Zawrzel/ NurPhoto/ Imago 

Ein erfolgloser Telegram-Kanal 

Im darauffolgenden Sommer 2021 gab Roman Protassewitsch reihenweise Interviews für Propagandamedien, in denen er genüsslich erzählte, wer von den Oppositionellen im Exil heftig trinke, wer Geldprobleme habe und wer Orgien feiere. Er stellte Nexta-Gründer Stepan Putilo bloß, der Roman zufolge gar nichts gegründet und geleitet habe, sondern nur ein Großmaul sei. Seine Behauptungen, die Proteste von 2020 in Belarus hätten westliche Geheimdienste organisiert und finanziert, waren Musik in den Ohren der Propagandisten. Alexander Lukaschenko war begeistert von Protassewitschs „eisernen Eiern“. 

Im August gründete Protassewitsch seinen eigenen Telegram-Kanal, auf dem er Insiderwissen und exklusive Details versprach. Er kündigte an, auf seinem Kanal werde es „keine Feindseligkeit, keine ungesicherten Informationen und keinen Platz für unverblümte Propaganda“ geben. Der Hintergedanke des Regimes lag somit offen. Wer in Belarus unter Hausarrest steht, hat kein Recht auf Kontakte und darf keine Kommunikationsmittel benutzen. Interviews für Propagandamedien sind allerdings eine Ausnahme, für die auch Gefängnisse ihre Tore öffnen. Doch wenn einer unter Hausarrest einen Telegram-Kanal gründet, bedeutet das, dass er damit eine Aufgabe erfüllt, die ihm jene stellen, die ihn verhaftet haben.            

In Protassewitschs Fall ist alles klar: Er ist der berühmteste Häftling von Belarus (niemand wurde je mit einer erzwungenen Landung eines Flugzeugs und unter Begleitung eines Kampffliegers MiG-29 im Abfangmodus verhaftet), sein Foto ist in der ganzen Welt bekannt, alle machen sich Sorgen um ihn. Immerhin war er Chefredakteur von Nexta, das 2020 über Belarus hinaus auf der ganzen Welt eines der beliebtesten Medien war. Und auch diesmal würden alle Belarussen und die ganze progressive Menschheit Roman Protassewitschs Telegram-Kanal abonnieren. Das ist kein Propagandist wie Asarjonok mit seinen anderthalb Bauarbeitern, die ihm folgen, und das nur zum Spaß. Das ist eine echte Chance, staatliche Lügen in einem riesigen Publikum zu verbreiten.        

Doch dazu kam es nicht. Die Hoffnung wurde enttäuscht. Roman Protassewitschs Kanal folgten gerade mal zweieinhalbtausend Abonnenten – offenbar aus Mitgefühl. Die überwiegende Mehrheit der Belarussen, auch jene, denen er leidtat, ignorierten seinen Versuch, ein „alternatives“ Medium zu gründen: die einen, weil sie davon ausgingen, dass er das sowieso alles unter Folter macht, die anderen, weil sie den wahren Sinn dahinter schon begriffen hatten und nicht einmal mit simplen Views daran beteiligt sein wollten.  

Zumal gleich der erste Post davon handelte, dass die Befreiung politischer Häftlinge kein Märchen sei, sondern Realität, aber unter der Bedingung, dass sie ihre Schuld eingestehen und ehrlichen Herzens bereuen. Und davon, dass auf Lukaschenkos Schreibtisch bereits die Liste der Menschenrechtler, Journalisten und engagierten Bürger liege, die demnächst das Gefängnis verlassen würden. Darunter auch der Blogger Ihar Losik, der seine Schuld gestehe und bereue. (Übrigens befindet sich Ihar Losik seit zwei Jahren in völliger Isolationshaft, sodass er diese Meldung nicht einmal dementieren oder bestätigen kann.)  

Generell sind angesichts der Tatsache, dass noch nie eine Journalistin oder ein Menschenrechtsaktivist ohne [Lukaschenkos – dek] „Anruf“ freigekommen ist, die Informationen auf Protassewitschs Telegram-Kanal keinen roten Heller wert. Das haben wohl auch die Erfinder des Plans mit diesem alternativen Medium kapiert, denn der Kanal ist längst verstummt. 

Im Mai 2022 gingen sogar den paar Wenigen die Augen auf, die noch glaubten, Protassewitsch werde auf der Folterbank dazu gezwungen, Posts über die notwendige Reue vor dem Staat zu verfassen. Gerade mal drei Tage, nachdem Sofia Sapega wegen „Anstiftung zum sozialen Unfrieden“ zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde, sagte Roman sich von ihr los und publizierte einen Post mit dem Text: „Sonja wurde für ihre reale Tätigkeit verurteilt und nicht dafür, dass sie eine Beziehung mit mir hatte.“ Er beschrieb detailreich, wie Sapega den Telegram-Kanal Tschjornaja kniga Belarusi (dt. Schwarzbuch Belarus) betrieb, auf dem persönliche Daten von Silowiki veröffentlicht wurden: Er berichtete von Spam-Angriffen und Drohanrufen an Telefonnummern aus diesem „Schwarzbuch“ und von „Brandstiftungen und diversen anderen Aktionen“.  

Überhaupt, schrieb Protassewitsch, sei er nicht mehr mit ihr zusammen, er habe geheiratet, und außerdem sei er politisch engagiert, während sie immer ganz direkt gegen die Silowiki agiert habe.  

Apropos, auch Protassewitsch hatte inzwischen vor Gericht gestanden und war sogar zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Wobei er nicht inhaftiert wurde, sondern nach Hause gehen durfte. Zehn Tage später wurde er begnadigt. 

Der letzte Verrat 

Die Belarussen sind in den vergangenen Jahren zu einer Nation von Gefangenen geworden. Und haben vor allem eines verinnerlicht: Man darf sein Leben und seine Freiheit mit allen Mitteln verteidigen – man darf öffentlich Reue bekunden, Gnadengesuche schreiben, seine Schuld bekennen, gegen sich selbst aussagen. Nur eines darf man nicht: Man darf keine anderen Menschen preisgeben. Man darf nicht denunzieren. Man darf sich nicht durch Petzen freikaufen. Mit seinen Berichten auf Propagandasendern darüber, wer säuft, wer schnieft und wer in einer zu teuren Wohnung wohnt, hat Roman diese Grenze überschritten. Sein Post über Sofia nach dem Urteil gegen sie war sein letzter Verrat – danach hielt ihn endgültig niemand mehr für ein Opfer.          

Wenn 2021 die Hochsaison des Bloggens war, so stand 2022 der Versuch im Vordergrund, Protassewitsch zum staatlichen Rechtsvertreter zu machen. Das Regime versuchte, ihn in der Wirtschaft einzusetzen, und im Januar 2022 wurde Roman, der offiziell noch unter Hausarrest stand, Mitarbeiter des regierungstreuen Zentrums Sistemnaja prawosaschtschita (dt. Systemische Menschenrechtsarbeit). 

Zusammen mit „System-Kollegen“ begann er, eine Klage gegen die Fluggesellschaft Ryanair vorzubereiten und gleichzeitig seine ehemaligen Anhänger zu beschuldigen, den belarussischen Geheimdiensten die Informationen zu seinem Flug „gesteckt“ zu haben. Das Schicksal dieser Klage ist nicht bekannt, im Mai 2023 allerdings kommentierte Dmitri Beljakow, Direktor von Sistemnaja prawosaschtschita, Roman Protassewitschs Begnadigung durch Lukaschenko mit den Worten: „Wir sind sehr froh, dass unser Freiwilliger Roman Protassewitsch begnadigt wurde.“  

Eigentlich hatten ein Jahr davor noch beide gesagt, dass Roman dort angestellt sei und nicht nur ehrenamtlich helfe. Aber egal, schon hatte die nächste Saison angefangen, und die vorige war wieder gescheitert, da Protassewitsch als staatlicher Rechtsschützer auch nicht wirklich „glänzte“. Also gaben sie ihm Helm und Visier und sagten: Du wirst jetzt Schweißer, du hast ja eh von nichts ‘ne Ahnung. 

Als Schweißer in den Diensten der Propaganda tauchte Protassewitsch wieder öfter im belarussischen und russischen Fernsehen auf – bei Asarjonok, Sobtschak, Pridybajlo. Er erzählte, dass Schweißer in Belarus so viel verdienten, wie angehende IT-Fachkräfte nicht mal zu träumen wagten. Dass bei ihm in der Fabrik lauter starke, echte Männer arbeiteten, die viel schafften, viel verdienten und sich einen Dreck um Politik scherten.  

Nach eineinhalb Jahren Stille holte Protassewitsch seinen verstaubten Telegram-Kanal wieder hervor und postete dort seine Urlaubsfotos aus den Emiraten: Seht alle her, ein einfacher belarussischer Arbeiter kann sich locker einen Urlaub in den Emiraten leisten, also, wer im Exil ist – beneidet uns. Wer in Belarus bleibt, schätzt bitte das, was ihr habt, und wer hinter Gittern sitzt – zeigt Reue!     

Man muss ihm lassen, das Schweißer-Image zeigte in den ersten Wochen fast Wirkung: Protassewitsch bekam wieder Aufmerksamkeit. Aber nicht lange.              

Fotos wie von Zauberhand 

Das Problem mit den schlauen Köpfen der belarussischen Regierung ist, dass sie nicht über den nächsten Tag hinausdenken können, für übermorgen fehlt ihnen die Fantasie. Vom Schweißer haben sie genug gesehen, also widmen sie sich wieder wichtigeren Dingen. Aber so viel Aufwand, so viel Mühe, so viel Sendezeit, so viele Projekte – das schmeißt man doch nicht einfach weg, für nichts und wieder nichts.  

Und da ließen sich Lukaschenkos Superköpfe einen schlauen Plan einfallen. Denn wer die Belarussen am allermeisten interessiert, um wen sie sich Sorgen machen und über wen sie mehr wissen wollen, das sind die politischen Häftlinge. Vor allem jene, die inkommunikado, also völlig isoliert, inhaftiert sind. Und wenn es Protassewitsch ist, der die Eisentür zur Gefängnisbaracke öffnet, dann kriegt eben er die Lorbeeren und die Aufmerksamkeit des Publikums, und alles, was er sagt, wird gierig verschlungen.  

Der 12. November 2024 brachte dann eine Sensation: Die Belarussen bekamen ein Foto von Maria Kolesnikowa gezeigt, die seit 22 Monaten inkommunikado inhaftiert war. Der Kontakt zu ihr war im Februar 2023 abgerissen: Es kamen keine Briefe mehr, der Anwalt wurde nicht vorgelassen, und Frauen, die aus der Strafkolonie in Homel entlassen wurden, erzählten, Maria sei in eine Isolationszelle gesperrt worden und niemand habe sie gesehen. Es gab nur schreckliche Gerüchte, dass man sie verhungern lasse, sie wiege 45 Kilogramm. Im September veröffentlichte Kolesnikowas Schwester Tatjana Chomitsch auf Facebook die Forderung nach Nahrung und ärztlicher Versorgung für Maria. 

Am 12. November 2024 konnten alle sehen, dass Maria am Leben ist. Roman Protassewitsch brachte ihren Vater in die Strafanstalt, und das Tor öffnete sich wie von Zauberhand. Der Schweißer wurde in das Gefängnis eingelassen und durfte Vater und Tochter fotografieren. Später nahm Roman im Auto ein Video auf, in dem Marias Vater sagt, sie habe ihm versprochen, über ein Gnadengesuch nachzudenken. Insofern wurden dank Protassewitsch nicht nur zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, sondern ein ganzer Fliegenschwarm. Inkommunikado? Ach was, der Papa war da, die Tür ging auf, alle sind happy. Maria wiegt nur 45 kg? Aber seht doch, wie rosig ihre Wangen sind. Ihr Anwalt hat sie zwei Jahre nicht gesprochen? Offenbar war er nicht sehr hinterher. Protassewitsch wurde ja auch reingelassen, dabei ist er für Kolesnikowa ein Niemand – nur so ein Schweißer. Dann noch dieses Versprechen, über ein Gnadengesuch nachzudenken: einfach nur Bingo.                          

Am 8. Januar 2025 war Protassewitsch wieder in einer Strafkolonie, diesmal in Nowopolozk. Und veröffentlichte Fotos und Videos des ebenfalls seit fast zwei Jahren isolierten Viktor Babariko. Genau wie Kolesnikowa war Babariko im Februar 2023 verschwunden. Kein Anwalt, kein Brief, kein Anruf, keine Besuche. Doch dann kam Roman Protassewitsch, und die Türen gingen sperrangelweit auf. Und alle sahen, wie gut es Viktor Babariko geht, wie freundlich er lächelt und wie er überhaupt nicht aussieht wie einer, der hinter Mauern gemartert wird. In dem Video gratulierte er seiner Tochter und seiner Enkelin, und auf dem Foto sah man, wie er etwas schrieb.       

Protassewitsch erklärte: Ich bin hier, um Babariko schöne Grüße von seinen Lieben zu überbringen und umgekehrt einen Brief von ihm mitzunehmen. Die Botschaft war klar: Ihr Menschenrechtler und Anwälte, ihr Journalisten und Politiker, internationale Gemeinschaft und Zivilgesellschaft, ihr seid alle Loser. Ihr habt in zwei Jahren nicht geschafft, was Roma Protassewitsch elegant und mühelos zuwege bringt: die Betonmauern zu durchbrechen. „Wir haben uns ziemlich lange unterhalten, haben gescherzt, sogar das eine oder andere Mal gelacht“, sagte Protassewitsch übermütig. Solche Töne schlugen früher gern die Erzieherinnen auf Pionierlagern an – glückliche Herrscherinnen über Trommel und Horn, für kleine Pioniere unerreichbar. Protassewitsch ist nun der Herrscher über den Zugang zu isolierten politischen Gefangenen, deren Angehörige in ihrem Unwissen seit zwei Jahren am Durchdrehen sind. 

In Belarus wird nicht mehr darüber diskutiert, ob Protassewitsch trotzdem noch als Opfer gelten kann. Selbst die mit den weichsten Herzen haben zugegeben, dass die Opferstory an dem Punkt zu Ende war, als kübelweise Schmutz aus dem Fernsehen quoll. Einer, der auf allen möglichen Sendern genüsslich erzählt, wer von den Oppositionellen kokst, wer einen Preis abgeräumt hat und wer für den Geheimdienst arbeitet – der ist kein Opfer mehr. Die Belarussen sind in den letzten Jahren zu einer Nation von Häftlingen geworden. Sie sind nett zu Mithäftlingen und böse auf Verräter.  

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Alexander Lukaschenko

Vor 30 Jahren trat Alexander Lukaschenko nach gewonnener Wahl sein Amt als Präsident der Republik Belarus an. Er schaffte demokratische Freiheiten ab und errichtete ein autokratisches System. Waleri Karbalewitsch über Lukaschenkos Machtwillen und Gründe für die Beständigkeit der Diktatur.  

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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