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Ein Akt der Rache

Der neue Präsidialerlass mit der Nummer 278 hat es in sich: Belarussen, die im Ausland leben, erhalten an den diplomatischen Vertretungen ihrer Länder keine Ausweisdokumente mehr, können ihre Pässe nicht mehr verlängern, zudem sind auch Eigentumsgeschäfte von der neuen Regelung betroffen. Für all das müssen sie nun nach Belarus reisen, wovor sich viele Belarussen scheuen. Vor allem die rund 170.000, die nach den Protesten von 2020 ins Ausland geflohen sind. 

Andrej Strishak von BYPOL sieht den neuen Präsidialerlass in einer langen Kette von Maßnahmen: „Das belarussische Regime beschneidet seit 2020 konsequent die Möglichkeiten für Diaspora und Emigranten. Zunächst wurde angekündigt, dass man im Ausland nicht mehr an Wahlen teilnehmen kann. Der zweite Schritt besteht darin, Menschen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, weil sie in ,extremistischen Formationen‘ mitwirken oder unter ,extremistischen‘ oder ,terroristischen‘ Paragraphen vorbestraft sind. Und jetzt kommt diese Geschichte mit den Pässen.“ Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja warnt ihre Mitbürger vor einer Rückkehr nach Belarus: „Selbst wenn Ihr Pass abläuft, sollten Sie nicht in Ihr Heimatland zurückkehren, wenn Sie Verfolgung riskieren.“

Das Online-Medium Reform.by hat sich den Präsidialerlass genauer angeschaut und analysiert mögliche Beweggründe der belarussischen Machthaber für diesen Schritt, der die Exilbelarussen aufwühlt. 

Источник Reformation

Einfach ausgedrückt, beim Verkauf von Eigentum werden keine Vollmachten mehr akzeptiert, die von Notaren im Ausland beglaubigt wurden. Ebenso können laut dem neuen Erlass keine Vollmachten in der belarussischen Botschaft des Aufenthaltslandes ausgefertigt werden. Dasselbe gilt für eine Vielzahl anderer Dokumente, die belarussische Staatsbürger bislang in den diplomatischen Vertretungen und Konsulaten im Ausland neu beantragen oder verlängern konnten.

Der Erlass tritt mit dem Zeitpunkt seiner offiziellen Bekanntmachung in Kraft. Aus dem Text des Dokumentes geht hervor, dass Immobiliengeschäfte nur noch persönlich oder auf Grundlage einer Vollmacht getätigt werden können, die auf dem Gebiet von Belarus beglaubigt wurde. Auch eine Reihe weiterer sensibler bürokratischer Anliegen fallen unter diese Beschränkung. Dazu gehören standesamtliche Urkunden und Bescheinigungen, die für die Eheschließung notwendig sind, die Ausstellung von Zeugniskopien, die Beglaubigung offizieller Dokumente und vieles mehr. 

Auch die Beantragung eines neuen Passes oder die Verlängerung seiner Gültigkeitsdauer wird nicht mehr ohne einen Besuch in der Heimat möglich sein. Im Erlass heißt es, dass Reisepässe an Staatsbürger, die dauerhaft im Ausland leben und beim zuständigen Konsulat gemeldet sind, nur von den Meldebehörden am Ort der letzten Meldeadresse im Inland ausgestellt werden können. Alle Dokumente, die bis zum Inkrafttreten des Erlasses beantragt wurden, werden noch nach dem bislang geltenden Verfahren bearbeitet. Doch wer das nicht geschafft hat, steht über kurz oder lang vor dem Problem eines abgelaufenen oder, schlimmer noch, verlorenen Passes. 

Mehr als nur Rache

Das Ziel, das die Auftraggeber und Verfasser dieses Erlasses verfolgen, ist klar: Den Belarussen, die das Land aus Sicherheitsgründen verlassen haben, soll das Leben so schwer wie möglich gemacht werden. Rache an den Emigranten – eine weitere Form der Repression. Auf die ein oder andere Weise trifft der Erlass alle Staatsbürger unseres Landes, die im Ausland leben. Doch während die neuen Regelungen für diejenigen, die in der Heimat keine Festnahme aus politischen Gründen fürchten müssen, nur einen Verlust an Zeit und Geld für die Fahrt bedeuten, stellen sie die politischen Emigranten vor reale Probleme. Und im Moment ist noch nicht absehbar, wie diese gelöst werden können. 

Mit dem Erlass erkennt die Regierung indirekt das Problem und den Umfang der Emigration aus Belarus seit 2020 an. Entsprechende Beschränkungen ausschließlich für öffentliche Vertreter und Aktivisten der Demokratiebewegung einzuführen, hätte keinen besonderen Sinn gemacht. Für diese Gruppe gibt es andere Gesetzesartikel, die unter anderem die Konfiszierung des Eigentums und die Aberkennung der Staatsangehörigkeit vorsehen. Daher sind die im Erlass verankerten Regelungen gegen die Mehrheit der Emigranten gerichtet. Sie entziehen faktisch allen, die in Belarus mit Verfolgung rechnen müssen, die Möglichkeit, in der Heimat befindliches Eigentum zu verkaufen oder zu überschreiben. Zudem erschweren sie die Legalisierung des Aufenthaltes im Zufluchtsland. 

Der Beschluss ist ein empfindlicher Schlag für alle Emigranten, die bislang noch unentschlossen waren, ob sie ihr Eigentum in der Heimat verkaufen oder lieber abwarten sollten. Für alle also, die auf eine baldige Rückkehr und eine perspektivische Änderung der Situation hofften. Einerseits hat die Regierung nach den Ereignissen von 2020 den Menschen drei Jahre Zeit gegeben, um Eigentumsangelegenheiten und Dokumente in Ordnung zu bringen. Doch viele Menschen wollten oder konnten aus verschiedenen Gründen nicht alles aufgeben, was ihnen in der Heimat geblieben war. Nun werden solche Rechtsgeschäfte unmöglich, es sei denn, man geht ein Risiko ein, das längst nicht alle auf sich nehmen werden. 

Der Erlass wird auch jene beeinflussen, die bislang über eine Emigration nachdenken. In Anbetracht der Probleme, die sich perspektivisch daraus ergeben und der Notwendigkeit, vor der Ausreise alle Brücken abzubrechen, indem man allen Besitz verkauft, könnten einige ihre Emigrationspläne gezwungenermaßen durchaus aufgeben. 

Die Verfasser des Erlasses verfolgen vermutlich noch ein weiteres Ziel: Wenigstens diejenigen zur Rückkehr ins Land zu zwingen, die unverzüglich Eigentums- oder Passangelegenheiten erledigen müssen. Wahrscheinlich werden sie möglichst vielen, die ein Risiko eingehen, Strafverfahren anhängen. Da die vom Regime geschaffene Rückkehrerkommission keine Ergebnisse brachte, mussten andere Methoden gefunden werden, um die Emigranten zur Rückkehr zu zwingen. 
 
Natürlich steht es jedem frei, das selbst zu entscheiden. Doch zuvor sollten alle Faktoren sehr genau gegeneinander abgewogen werden. Wenn das Eigentum schon mehrere Jahre ohne seinen Besitzer überstanden hat, kann das vielleicht auch noch eine Weile so bleiben. Nichts währt letztlich ewig. Ist der Verkauf einer Wohnung oder eines Autos das Risiko des Freiheitsverlustes wert? Das entscheidet jeder selbst. Doch die vom Regime eingeführten Beschränkungen der Verfügungsgewalt über Eigentum sind ein Verstoß gegen die Grundrechte und eine Weigerung des Staates, seinen grundlegenden Verpflichtungen gegenüber den Staatsbürgern nachzukommen – und das ist den belarussischen Machthabern offenbar auch vollkommen bewusst. Doch der Wunsch nach Rache und Schwierigkeiten für die verhassten „Geflohenen“ überwiegt. 

Ein weiterer Spaltungsversuch

Der unterzeichnete Erlass ist auch ein Versuch, einen Keil in die Diaspora zu treiben. Die Perspektiven auf einen kürzlich vom Vereinten Übergangskabinett präsentierten neuen belarussischen Pass sind bislang nur vage. Das liegt vor allem daran, dass völlig unklar ist, welche Staaten ihn anerkennen werden, wann das passieren wird und ob überhaupt. Swetlana Tichanowskaja versicherte heute, dass ihr Team daran arbeite, dass die Staatsbürger nicht ohne Pässe blieben. Ihr zufolge werden im September Beratungen mit der EU-Kommission stattfinden, ebenso werde das Thema in der UN-Generalversammlung besprochen. Doch in jedem Fall nehmen diese Abstimmungsprozesse einige Zeit in Anspruch, unterdessen werden viele Belarussen bereits mit dem Ablauf der Gültigkeit ihres wichtigsten Personaldokumentes konfrontiert sein. Die daraus entstehenden Probleme wird manch einer wohl auch den Demokratischen Kräften anlasten, die ihre Mitbürger nicht ausreichend schützen. Das kann wiederum zu Konflikten zwischen Vertretern der Diaspora und der Führung der Demokratischen Kräfte führen, worauf es das Regime auch angelegt hat. 

Und in der Zwischenzeit?

Vieles wird davon abhängen, wie sich die Regierungen der Staaten positionieren, in denen heute viele Belarussen leben. Sie könnten zum Beispiel beschließen, die Gültigkeitsdauer belarussischer Pässe zu verlängern. Oder bei abgelaufenen Dokumenten einfach „nicht genau hingucken“. Dabei hängt auch viel von den belarussischen Demokratischen Kräften ab, die entsprechende Verhandlungen führen müssen, immer unter Berücksichtigung der schwierigen Situation, in der sich viele Belarussen auf absehbare Zeit befinden werden. Und es gibt Präzedenzfälle. In Polen können belarussische Staatsbürger beispielsweise seit dem 1. Juli in vereinfachtem Verfahren ein sogenanntes polnisches Ersatzreisedokument erhalten, das einen verlorenen oder abgelaufenen Reisepass ersetzt. Es ermöglicht die Aus- und Einreise nach bzw. aus Polen. Bislang gilt diese Regelung temporär bis Ende 2023. Doch in Anbetracht der neuen Situation nach Lukaschenkos Erlass ist es durchaus möglich, dass die polnische Regierung dieses Verfahren fortsetzt. Auch hier wird viel von den Kontakten zur polnischen Seite und den Bemühungen des Vereinten Übergangskabinetts abhängen. 

Doch die Diaspora sollte nicht nur auf die Demokratischen Kräfte hoffen. Die Belarussen in der Emigration stehen tatsächlich vor ernstzunehmenden Herausforderungen. Aber ihre Anzahl ist groß genug, um sich gemeinsam an die Regierungen der Aufnahmestaaten zu wenden. Diese Regierungen haben zwar keinen Einfluss auf das Problem der Eigentumsgeschäfte in Belarus, doch sie können den in ihrem Land lebenden Belarussen zuhören und durchaus dabei helfen, die Probleme mit den Dokumenten zu lösen. Das Wichtigste ist also, nicht passiv zu bleiben. So ist es nunmal mittlerweile: Das Regime handelt garstig, die Belarussen suchen einen Ausweg. Und der wird sich finden. Und die Garstigkeiten werden früher oder später ein Ende finden.

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Die belarussische Diaspora: Erneuerte Solidarität

Die politische Krise, die mit den Protesten vom Sommer 2020 begann, hat zu einer neuen Welle der Massenmigration aus Belarus beigetragen und die  Politisierung der belarusischen Diaspora gefördert. Den vorliegenden Daten zufolge haben innerhalb des ersten Jahres seit den Ereignissen schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Menschen das Land verlassen. Bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von insgesamt rund 4,3 Millionen Menschen ist dies eine sehr hohe Zahl. Zugleich ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Angesichts der anhaltenden Repressionen im Land planen oder erwägen weiterhin viele Menschen die Ausreise. Auch im Zuge des Krieges in der Ukraine sind viele Belarusen wieder auf der Flucht, denn viele hatten in Kiew oder anderen ukrainischen Städten neu angefangen. 
Die neuen Migranten treffen auf eine Diaspora, die aus einer langen Geschichte mehrerer Auswanderungswellen hervorgegangen und in zahlreichen Ländern organisiert und politisch aktiv ist. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja gibt der Demokratiebewegung im Ausland ein neues, international bekanntes Gesicht mit politischem Gewicht.

Bereits die Wahlkampagne im Frühjahr 2020 in Belarus, in der Kandidaten nicht zugelassen, verhaftet oder ins Exil getrieben wurden, und die friedlichen Massenproteste nach der gefälschten Präsidentenwahl  gaben der Diaspora bemerkenswerten Aufschwung: Bestehende Auslandsorganisationen (unter anderem in den USA, Schweden, Großbritannien und Polen) wurden so gestärkt und neue Organisationen (unter anderem in Italien, Deutschland und der Tschechischen Republik sowie in den USA) registriert. 

Diese neue Solidarität lässt sich an der hohen Beteiligung der belarusischen Diaspora an kontinuierlichen politischen Aktivitäten ablesen, mit denen auf Ungerechtigkeiten in Belarus aufmerksam gemacht wird. Daran zeigt sich auch, dass die außerhalb des Landes organisierte belarusische Demokratiebewegung eine wichtige Rolle spielt. Für Aljaxsandr Lukaschenka erschwert das ein neuerliches Lavieren zwischen dem Westen und Russland. Das ist mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine allerdings mehr denn je in den Bereich des Undenkbaren gerückt, da Lukaschenka der russischen Führung gewährt, Belarus  als Aufmarschgebiet für russische Truppen zu nutzen. In einer Zeit, in der die Opposition im Land selbst zunehmend unterdrückt wird, dient die Diaspora dabei als Stimme von außen, um demokratische Veränderungen einzufordern.

Vor der politischen Krise von 2020

Die Geschichte der Auswanderung aus der Region des heutigen Belarus beginnt zur Zeit des Großfürstentums Litauen: Damals studierten Hunderte junger Belarusen an Universitäten in West- und Mitteleuropa. Emigranten wie Francysk Skaryna, Ilja Kapijewitsch und andere berühmte Persönlichkeiten der belarusischen Kultur haben im Ausland prägend gewirkt. 

Die Massenauswanderung setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Zu dieser Zeit wurden Migranten nicht als Belarusen erfasst, weil die zaristische Regierung diese Nationalitätsbezeichnung offiziell nicht zuließ und es ablehnte, das ethnografisch belarusische Gebiet unter eine einheitliche Verwaltung zu stellen. Obwohl die Zahlenangaben schwanken, liegen sie überwiegend in derselben Größenordnung: Zwischen 1860 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs verließen etwa 1,5 Millionen Belarusen ihre Heimat. Die meisten gingen nach Sibirien, der Rest wanderte in Richtung Westen aus – nach Europa und in die USA. Diese Migrationswelle hatte einen vorwiegend wirtschaftlichen, teils aber auch politischen Hintergrund. Belarusische Juden wanderten in den 1850er Jahren aufgrund religiöser Verfolgung durch die Obrigkeiten aus.

Die Entstehung der belarusischen Diaspora

Die zweite Welle der belarusischen Emigration wurde durch den Ersten Weltkrieg und die revolutionären Ereignisse von 1917 ausgelöst. In den folgenden Jahren gab es in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) über zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Belarus, mehr als 100.000 Menschen gingen in andere Länder. Mit der Proklamation der Belarusischen Volksrepublik (BNR) 1918 und der Gründung der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) im Jahr 1919 erhielt das erwachende Nationalbewusstsein einen Schub. Die Belarusen sahen sich zunehmend als eigenständige Gruppe. 

Die Politisierung der belarusischen Diaspora begann in den 1920er Jahren in den USA: Zu dieser Zeit nahm die Führung der Rada BNR Kontakt zu neu gegründeten belarusischen Organisationen in New York, New Jersey, Chicago, Michigan und Pennsylvania auf und begann, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Archivdokumente zeigen, dass die kommunistischen Führungen in Moskau und Minsk sogar Versuche unternahmen, belarusische Emigranten über die Schaffung pseudo-nationaler belarusischer Organisationen für die kommunistische Bewegung zu mobilisieren – um die Weltrevolution voranzutreiben. In seinem Buch Belarusians in the United States liefert Vitaut Kipel mit Gershan Duo-Bogen ein Beispiel eines kommunistischen Agenten, der daran beteiligt war, die kommunistische Bewegung auf der anderen Seite des Ozeans zu aktivieren.

Belarusen engagieren sich von den USA aus für nationale Selbstbestimmung

Der Zweite Weltkrieg führte zur dritten Auswanderungswelle. Bei Kriegsende zählte die belarusische Diaspora in Europa etwa eine Million Menschen, von denen es viele weiter in die USA zog. Die politischen Emigranten der 1950er Jahre und ihre Nachkommen bildeten die Basis der modernen belarusischen Diaspora. Diese nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA eingewanderten Belarusen waren nationalbewusst. Sie setzten sich bei der US-Regierung mit Nachdruck dafür ein, den belarusischen Staat als nationale und ethnische Einheit mit dem Recht auf Freiheit und nationale Selbstbestimmung anzuerkennen. So hielten beispielsweise belarusische Priester laut Protokoll des US-Kongresses in den 1960er bis 1980er Jahren fast an jedem Jahrestag der Proklamation der BNR Eröffnungsgebete für den Kongress ab. Zum 50. Jahrestag der BNR-Gründung im Jahr 1968 verzeichnet das Protokoll 23 Redebeiträge im US-Kongress, die die Unabhängigkeit von Belarus unterstützten.

Von 1960 bis 1989 war kaum Auswanderung möglich

In den 1960er bis und 1980er Jahren wuchs die belarusische Diaspora nicht nennenswert an, weil die Emigration aus der Sowjetunion rechtlich nicht möglich war. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der massiven Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Republik Belarus sowie den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 erhöhte sich die Zahl der Ausreisen wieder deutlich. Im Jahr 1989 erlaubte die Sowjetrepublik dem Innenministerium zufolge 14.700 Menschen auszureisen. 1990 lag diese Zahl bei 34.100 Menschen und war damit mehr als doppelt so hoch. 

Feierlichkeiten der kanadischen Diaspora zum 50. Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik / Foto © Rada BNR

Nachdem Aljaxandr Lukaschenka im Jahr 1994 an die Macht gekommen war, schwand die anfängliche Hoffnung der belarusischen Diaspora auf eine demokratische Zukunft. An ihre Stelle traten politische Aktivitäten, die von dem Gedanken geleitet waren, Belarus als unabhängigen demokratischen Staat zu erneuern. Die neuen belarusischen Migranten konnten sich im Laufe der Zeit mit der älteren organisierten Diaspora in den USA, Kanada, Europa und anderen demokratischen Ländern auf gemeinsame Positionen verständigen. So wurde in den USA nach erheblichem Engagement der belarusischen Diaspora der Belarus Democracy Act von 2004 verabschiedet – ein US-Bundesgesetz, das erlaubte, politische Organisationen, NGOs und unabhängige Medien zu unterstützen, die sich für die Förderung von Demokratie und Menschenrechte in Belarus einsetzen. Diese Bewilligung wurde in den Jahren 2006, 2011 und 2020 erneuert.

Neue Migrationswelle nach den Repressionen in Belarus

Seit der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2019 emigrierten jährlich schätzungsweise zwischen 10.000 und 20.000 Menschen aus Belarus. Das brutale Vorgehen gegen die Opposition nach den größten Protesten in der Geschichte des unabhängigen Belarus 2020/2021 löste dagegen eine beispiellose Migrationswelle aus. Im ersten Jahr nach August 2020 haben etwa 100.000 bis 150.000 Menschen Belarus verlassen. Viele gingen nach Lettland, Estland und noch weiter weg. 

Nicht eingerechnet sind diejenigen, die nach Russland oder in die Ukraine übersiedelten, weil es kein Visum braucht, um in diese Länder zu reisen. Mit präzisen Zahlen ist es dort daher schwierig. Trotzdem lässt sich die Vorstellung einer Größenordnung bekommen: Laut den Zahlen, die der Staatliche Migrationsdienst der Ukraine herausgibt, stiegen die befristeten Aufenthaltsgenehmigungen für belarusische Staatsbürger dort beispielsweise um 39 Prozent (von 2175 im Jahr 2019 auf 3042 im Jahr 2021). Im Oktober 2020 unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky zudem ein Dekret, das es Unternehmern und hochqualifizierten Fachkräften mit belarusischer Staatsangehörigkeit sowie deren Familienangehörigen erleichtert, eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine zu erhalten. Infolgedessen sind seit der Protestwelle nach der Präsidentschaftswahl bis zu 1500 belarusische IT-Spezialisten aus politischen Gründen in die Ukraine emigriert. 

Doch die meisten Belarusen gingen nach Polen. Laut Eurostat sind dort zwischen August 2020 und November 2021 knapp 2000 Asylanträge von belarusischen Staatsbürgern eingegangen – mehr als in jedem anderen EU-Land. Das ist ein eindrucksvoller Zuwachs, denn zwischen  Anfang 2019 und  September 2020 hatten Belarusen in Polen nur 165 Asylanträge gestellt. Nach Angaben des polnischen Außenministeriums hat das Nachbarland im Zeitraum von Juni 2020 bis Ende Juli 2021 zudem 178.711 Visa an Personen aus Belarus erteilt, darunter mehr als 20.000 „Poland.Business Harbour“-Visa, etwa für Programmierer und Unternehmer im IT-Bereich.

Das EU-Land mit der zweithöchsten Zahl von Asylanträgen aus Belarus ist Litauen: Dort beantragten 235 belarusische Bürger Asyl – von Anfang 2019 bis zum Beginn der Proteste waren es dagegen nur 35. Nach den Zahlen der litauischen Migrationsbehörde hat das Land von September 2020 bis November 2021 zudem 26.200 nationale Visa an belarusische Bürger ausgestellt. 

Die Politisierung der Diaspora nach den Protesten in Belarus

Nach dem Ausbruch der Krise hat sich die belarusische Diaspora innerhalb weniger Monate weltweit zu einer ernstzunehmenden Kraft mit politischem Einfluss entwickelt. Ihre Aktivitäten sind jetzt eng mit neuen politischen Kräften verknüpft, etwa dem Koordinationsrat von Belarus, dem Büro der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja und dem NAM (Nationales Antikrisen-Management).

Der Koordinationsrat von Belarus wurde im August 2020 von Zichanouskaja im litauischen Exil ins Leben gerufen, um auf eine friedliche Machtübergabe hinzuarbeiten und die Krise im Land zu überwinden. Er versteht sich als das ausschließliche Repräsentativorgan der demokratischen belarusischen Gesellschaft. Die Arbeitsgruppen des Rats befassen sich unter anderem damit, Bildungsinitiativen zu entwickeln, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und über Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen zu informieren, die ihren Arbeitsplatz verloren haben.

Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja ist eine separate Einrichtung. Es besteht aus ihr selbst, acht Beratern für nationale und internationale Angelegenheiten sowie Kommunikationsmitarbeitern.

Die von Pawel Latuschka im Oktober 2020 gegründete Organisation NAM (Nationales Antikrisen-Management) in Warschau arbeitet mit dem Koordinationsrat und Zichanouskajas Büro zusammen. Zudem gibt es zahlreiche Initiativen, darunter ByPol, das von ehemaligen Sicherheitskräften gegründet wurde, und BySol für Sportler, ein Projekt von Sportfunktionären und Athleten.

Die belarusische Diaspora hat viele Anstrengungen unternommen, um sich weltweit zu vernetzen und sich in das Ringen um ein künftiges Belarus einzubringen. Ein Beispiel dafür ist die neu gegründete Organisation Association of Belarusians in America (ABA), die Repräsentanten belarusischer Communitys aus 25 Städten in 18 US-Staaten verbindet. Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja organisierte im September 2021 eine Konferenz der Belarusen der Welt in Vilnius und brachte Vertreter belarusischer Communitys aus über 27 Ländern und 40 Organisationen zusammen. 

Durch die Repressionen sind die Proteste 2021 abgeebbt. Infolge der brutalen Unterdrückung durch die belarusische Regierung und mit der Rückendeckung durch Russland bestand kaum noch Aussicht, etwas zu erreichen. Gleichwohl ist zu erwarten, dass die neu erstarkte und vereinte Diaspora sowie die organisierten demokratischen Kräfte von außen weiter und stärker als vor dem Krisenjahr 2020 eine demokratische Zukunft für Belarus einfordern und denjenigen helfen werden, die unter den Repressionen des Lukaschenka-Regimes leiden. 

ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

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