Belarus ist nahezu vollständig aus der Diskussion um den russischen Krieg gegen die Ukraine verschwunden. Dabei ist das Schicksal des Landes eng mit dem Ausgang des Krieges verbunden. Die demokratische belarussische Opposition hat im Dezember 2023 ein lang angekündigtes Strategiepapier vorgelegt, in dem sie verschiedene Szenarien für einen Regimewechsel formuliert. Ausgehend von der Annahme, dass Russland den Krieg verliert oder in seinen Handlungsmögichkeiten stark eingeschränkt wird.
Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat sich das Papier für das Online-Medium Pozirk genau angeschaut – und er fragt sich, ob ein Machtwechsel in seiner Heimat tatsächlich unausweichlich ist, wenn Russland im Zuge des Krieges entscheidend geschwächt wird.
Im Dezember, kurz vor Jahresende, haben die demokratischen Kräfte um Swetlana Tichanowskaja endlich einen Strategieentwurf für den Übergang zu einem neuen Belarus vorgelegt. In dem Dokument wird umrissen, wie der Staat neu geordnet werden soll, wenn die demokratischen Kräfte an die Macht kommen. Für jene, die sich Veränderungen herbeisehnen, ist aber vielmehr die Frage wichtig, wie die derzeitige Tyrannei zu beenden wäre, damit der Weg in diese lichte Zukunft beschritten werden kann. Diese Frage wird jedoch nur sehr spärlich in Anhang 1 des umfangreichen Dokuments behandelt. Vier denkbare Szenarien werden skizziert.
Ist ein Dialog zwischen Opposition und Regime überhaupt denkbar?
1. Gehen wir die Szenarien einmal durch. Das erste geht davon aus, dass „Russland durch den Krieg geschwächt wird und dann nicht mehr in der Lage ist, Belarus im gleichen Maße wirtschaftlich, militärisch und politisch zu unterstützen“. Dadurch würde sich in Belarus die soziale und wirtschaftliche Lage verschlechtern. Die Nomenklatura würde versuchen, „Verhandlungen mit den Ländern des Westens und den demokratischen Kräften aufzunehmen, um ein Ende der Sanktionen und eine Wiederaufnahme der Beziehungen zu erreichen“. Es würde ein nationaler runder Tisch eingerichtet und eine Übergangsregierung gebildet, zu der laut dem Szenario Vertreter der Nomenklatura wie auch der demokratischen Kräfte gehören würden.
Hier stellt sich umgehend die Frage, ob es die Nomenklatura eilig haben wird, diejenigen zum runden Tisch einzuladen, die jetzt verächtlich als „Abtrünnige“ bezeichnet werden, und sie zudem noch an der Macht zu beteiligen. Die Einführung wie auch die Aufhebung der Sanktionen hängt in erster Linie von den Staaten des Westens ab. Die belarussische Opposition hat hierauf nur einen sehr mittelbaren Einfluss. Somit wäre wohl eher ein Deal mit den Führungen westlicher Staaten wahrscheinlich. Die Vertreter des Regimes dürften dabei eher auf Realpolitik setzen und versuchen, eine Demokratisierung zu vermeiden.
Es hat zwar auch 1989 in Polen einen runden Tisch zwischen der kommunistischen Regierung und der Gewerkschaft Solidarność gegeben. Doch stellte die Solidarność da eine einflussreiche Kraft dar. Das damalige Regime dort wurde durch wirkungsmächtige Streiks erschüttert.
In Belarus sind die Schrauben heute derart fest „angezogen“, dass nicht einmal eine individuelle Mahnwache möglich ist. Ganz zu schweigen von einem Massenstreik. Der ist undenkbar. Die oppositionellen Kräfte sind – anders als die Solidarność – ins Ausland verdrängt worden. Sie können kaum auf die Situation im Land einwirken, wo die Bevölkerung zunehmend entpolitisiert wird.
Wie wahrscheinlich ist ein Volksaufstand?
2. Das zweite Szenario geht davon aus, dass in Russland nach einer Niederlage im Krieg gegen die Ukraine ein Regimewechsel erfolgt: „Russland ist durch den Krieg und die Sanktionen erschöpft, und es kann sich nicht mit Belarus befassen“. Auch hier würde sich in Belarus die soziale und wirtschaftliche Lage drastisch verschlechtern, Streiks würden aufflammen und sich ausbreiten, was zu Zusammenstößen mit Truppen des Innenministeriums führen würde. Das Militär würde jedoch „seine Neutralität wahren“, „in den Sicherheitsstrukturen“ würde „eine Spaltung erfolgen“, Protestierende würden die Präsidialadministration und andere Objekte der kritischen Infrastruktur stürmen. Alexander Lukaschenko würde „entweder verhaftet oder ins Exil fliehen“.
Auch dieses Szenario wirft viele Fragen auf. Die Angst vor Repressionen ist jetzt in Belarus derart groß, dass es selbst bei einem beträchtlichen Absacken des Lebensstandards nicht viele sein werden, die sich den Schlagstöcken der OMON entgegenstellen. In Nordkorea ist das Leben mehr als aussichtslos, und dennoch probt die Bevölkerung nicht den Aufstand. Und Lukaschenkos Regime bewegt sich jetzt in Richtung Nordkorea.
Darüber hinaus sind die Sicherheitskräfte gut ausgebildet und ausgerüstet. Viele, besonders die mit Blut an den Händen, sind überzeugt, dass sie nach einem Machtwechsel vor Gericht landen (oder gar das Ziel von Selbstjustiz) würden. Sie würden erbittert um ihr Schicksal und das ihrer Familien kämpfen.
Und wenn die Armee, die schon 2020 an den Repressionen beteiligt war, nicht neutral bleibt? Lukaschenko hatte ja seinerzeit Schützenpanzer vor seinem Palast auffahren lassen und gezeigt, dass er bereit ist, auf Menschenmassen zu schießen. Und dass er nicht das Land verlassen werde, wie einst Janukowitsch die Ukraine. Der Ausgang eines solchen hypothetischen Maidan in Belarus ist also keineswegs ausgemacht.
Und wer sagt schließlich, dass nach einem Machtwechsel in Russland ein Liberaler oder Friedenswilliger in den Kreml einzieht? Was wäre, wenn dann ein völlig archaischer Imperialist an die Macht kommt, der beschließt, den Misserfolg in der Ukraine durch einen Anschluss von Belarus wettzumachen?
Was, wenn Belarus die Unabhängigkeit tatsächlich an Moskau verliert?
3. Das dritte Szenario geht davon aus, dass Lukaschenko – aus welchem Grund auch immer – nicht mehr das Präsidentenamt ausüben kann (wegen schwerer Krankheit oder durch sein Ableben) und sein aus der Nomenklatura stammender Nachfolger angesichts der Last der ererbten Probleme eine Deeskalation im Verhältnis zum Westen und einen Systemwandel unternimmt. Hierbei wird vorausgesetzt, dass „Russland durch den Krieg geschwächt ist und nicht mehr das volle Repertoire seiner Instrumente einsetzen kann, um auf Belarus einzuwirken“.
Aber halt! Wenn nun aber Lukaschenko stirbt und Russland noch stark genug ist? Und was, wenn der Nachfolger prorussisch gesinnt ist und beschließt, sich der ererbten Probleme dadurch zu entledigen, dass die Reste der belarussischen Souveränität einfach dem Kreml übertragen werden?
4. Das vierte Szenario postuliert, dass „die belarussische Armee sich unmittelbar und auf Seiten Russlands an dem Krieg in der Ukraine beteiligt und auf ukrainisches Territorium vorrückt“. Dann werde es Lukaschenko voll erwischen: „Ukrainische Truppen würden, mit belarussischen Freiwilligenverbänden an der Spitze, nach Belarus einmarschieren“, und die Zerschlagung des Regimes wäre dann nur noch eine Frage der Technik.
Mag sein, doch bislang hat es der belarussische Herrscher erfolgreich verstanden, eine direkte Beteiligung seiner Streitkräfte am Krieg zu vermeiden. Und es ist ja nicht so, dass Putin ihm deswegen an die Kehle geht. Im Gegenteil: Moskau ist so großzügig wie noch nie. Das heißt, es ist zufrieden mit den anderen Diensten seines Verbündeten.
Wie gefällt Ihnen diese Variante: Lukaschenko schließt sich der „militärischen Spezialoperation“ Russlands symbolisch in einer Phase an, in der Kyjiw am Rande einer Niederlage steht, nicht die Kraft zu einer Gegenoffensive hat und die beiden Verbündeten dann gemeinsam ihre Ziele erreichen?
Die Opposition hat kaum Einfluss auf das Geschehen
Ich kritisiere natürlich bewusst an diesen Szenarien herum, um aufzuzeigen, dass sie alle viel zu glatt sind und auf einer Menge Annahmen beruhen, die für die Regimegegner günstig sind. Es mag ja tatsächlich zu dieser Verkettung von Umständen kommen. Allerdings wäre es besser, von Anfang an auch höchst wahrscheinliche negative Hindernisse zu berücksichtigen.
Es fällt auf, dass sämtliche Szenarien mehr oder weniger auf der Annahme beruhen, dass Russland durch den Krieg geschwächt sein wird oder überhaupt eine Niederlage erleidet, also kurz gesagt, dass es sich überhaupt nicht mit Belarus befassen kann. Der Krieg ist jetzt aber in einer Phase, in der sich – seien wir ehrlich! – viele bereits fragen, ob die Ukraine standhalten wird. Also verdüstert sich die Aussicht auf ein Fenster der Möglichkeiten für einen Wandel in Belarus noch stärker.
Es stimmt zwar, dass sich die Lage in einer für die demokratischen Kräfte günstigeren Richtung verändern kann. Doch rechnen all diese Szenarien vor allem mit externen Faktoren wie etwa großen Erfolgen der Streitkräfte der Ukraine, einer durchschlagenden Wirkung der westlichen Sanktionen usw. Die demokratischen Kräfte können diese Faktoren aber nur unwesentlich beeinflussen. Es liegt auf der Hand, dass das Büro von Tichanowskaja die ukrainischen Streitkräfte nicht mit Storm Shadow-Raketen, Patriot-Systemen oder mit F-16 versorgen kann. Der Westen verhängt seine Sanktionen nach eigenem Gutdünken, flammende Aufrufe des Leiters des Nationalen Anti-Krisen-Management, Pawel Latuschka, spielen da keine große Rolle. Und es ist heute erkennbar, dass der Westen nicht in der Lage ist, Sanktionen gegen die [russische – dek] Atomwirtschaft durchzusetzen.
Hier ist zu erwähnen, dass auch Vertreter des Kalinouski-Regiments versuchen, eine Strategie zur Befreiung von Belarus zu entwickeln. Die Konferenz, die Ende November in Kyjiw stattfand, hat diese Aufgabe nicht bewältigt. Es wurde lediglich beschlossen, eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung einer Strategie einzurichten. Auch das Kalinouski-Regiment macht keine großen Sprünge. Es gibt zwar die belarussischen Freiwilligen dort, doch ist es ein Teil der ukrainischen Streitkräfte. Kyjiw hat derzeit nicht Absicht, gegen Lukaschenko zu kämpfen, solange dieser nicht selbst vorrückt.
Wenn der Rückhalt durch den Kreml tatsächlich bröckelt
Mit der Präsentation der Strategie für den Übergang zu einem neuen Belarus hat sich Tichanowskajas Team deutlich Zeit gelassen. Logischer wäre es gewesen, dieses Werk auf der Konferenz Neues Belarus 2023 im August vorzustellen. Dort wurden aber lediglich einige Deklarationen verabschiedet. Gleichzeitig muss man verstehen, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, sich eine Wunder wirkende Strategie einfach aus den Fingern zu saugen.
Putin und Lukaschenko sitzen derzeit fest im Sattel und feiern (wenn auch eindeutig zu früh). Die russische Wirtschaft hat den Schlag der Sanktionen überstanden und ist eine Stütze für die belarussische Volkswirtschaft. Die russischen Streitkräfte gehen in der Ukraine zum Gegenangriff über, während der Westen Zeichen der Ermüdung offenbart, was die Unterstützung der Ukraine angeht. Mehr noch: Ein Teil der westlichen Politiker möchte nicht, dass der Kreml eine ernste Niederlage erfährt, weil sie einen Zerfall Russlands und eine Verbreitung von Atomwaffen befürchten.
Auch dem Westen geht es letztendlich nicht um Belarus
Die Welt befindet sich heute in der dramatischen Phase einer Konfrontation der Autokratien mit den Demokratien. Die genannten Szenarien der demokratischen Kräfte gehen davon aus, dass es Russland nicht mehr um Belarus geht. Wir können es aber offen aussprechen: Auch dem Westen geht es letztendlich nicht um Belarus.
Die demokratischen Kräfte sollten einerseits – geb’s Gott – dafür sorgen, dass die belarussische Frage auf der Agenda des Westens bleibt. Andererseits sollten sie wenigstens irgendein Interesse der protestbereiten Bevölkerung für sich wecken. Es wäre gut, wenn sich die politisch motivierten Emigranten nicht untereinander überwerfen und sich endgültig marginalisieren würden, wenn die demokratischen Kräfte sich die nötigen Ressourcen zum Selbsterhalt sichern sollten, damit ihre Mission zur Stunde X denn erfüllt werde. Zudem ist es wichtig, nicht in ein klischeehaftes Pathos zu verfallen, dessen bereits viele Anhänger eines Wandels müde sind.
Wenn denn die Zeit eines Wandels anbricht, so werden sich zweifellos Führer finden, und das können ganz neue Leute sein. Aber sonst: Es wühlt sich der Maulwurf durch die Geschichte. Lukaschenko hat zwar die Kontrolle über die Gesellschaft verloren und das Land eingefroren. Bislang steht der Kreml hinter ihm. Das Regime zu zerstören ist kaum denkbar. Es ist ein Fest der Finsternis; das Böse könnte länger dauern.
Russland wird wohl früher oder später den Weg anderer Imperien gehen. Die Herausforderung, die Putin dem Westen entgegenschleudert, ist abenteuerlich. Sie verdammt Russland zum Niedergang und ist für den Kreml letztlich tödlich. Das Imperium muss sterben. Wichtig ist, dass für Tichanowskaja und ihr Team ein antiimperiales Narrativ zum Axiom wird.