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Wenn Lukaschenko plötzlich stirbt

Auf den Fotos von der Parade am Tag des SiegesDer Tag des Sieges wird in den meisten Nachfolgestaaten der UdSSR sowie in Israel am 9. Mai gefeiert. Er erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland und ist in Russland inzwischen der wichtigste Nationalfeiertag. Der 9. Mai ist nicht nur staatlicher Gedenktag, sondern wird traditionell auch als Volks- und Familienfest begangen. Подробнее в нашей гнозе in Moskau, an der Alexander LukaschenkoAlexander Lukaschenko, 1954 geboren, wurde nach der Unabhängigkeit von Belarus 1994 zum ersten Präsidenten des jungen Landes gewählt. Mit seinem Talent, Menschen zu erreichen, und seinen populistischen Losungen, die versprachen, die Korruption und die Wirtschaftskrise zu bekämpfen, konnte er die Wahl für sich entscheiden. Danach begann er, die demokratischen Freiheiten sukzessive abzuschaffen, das Parlament zu entmachten und die Opposition zu verfolgen. Er errichtete eine Diktatur, die sich bis heute als äußerst zäh erweist. Waleri Karbalewitsch über die Entwicklung des Systems Lukaschenko und die Gründe für dessen Langlebigkeit.   Подробнее в нашей гнозе traditionell teilnimmt, konnte man sehen, dass es dem belarussischen Machthaber nicht gut ging. Tatsächlich fehlte er dann zum Festessen, zu dem Putin geladen hatte. In Minsk überließ er seinem Verteidigungsminister Viktor Chrenin das Reden bei den dortigen Feierlichkeiten, danach war von ihm ein paar Tage nichts mehr zu hören. Ungewöhnlich für den Diktator, der seit 1994 nahezu omnipräsent in den staatlichen Medien zu sein scheint. Schnell machten Spekulationen die Runde, Lukaschenko könnte ernsthaft erkrankt sein. Schließlich tauchte er wieder auf, noch sichtlich angeschlagen, aber lebendig. 

Was aber würde passieren, wenn Lukaschenko tatsächlich plötzlich stirbt? Welche Dynamiken würden sich in Gang setzen – in der Machtelite, in der Opposition, auf der Seite von Russland? In seiner Video-Kolumne Shraibman antwortet für das belarussische Medium Zerkalo sucht der Politikanalyst Artyom Shraibman Antworten auf diese drängenden Fragen.

Источник
Tut.by – Zerkalo.io

Tut.by – Zerkalo.io

Auf den Fotos von der Parade am Tag des Sieges in Moskau, kann man sehen, dass es Alexander Lukaschenko nicht gut ging / Foto © Gavriil Grigorov/ITAR-TASS/imago images

Auf den Fotos von der Parade am Tag des Sieges in Moskau, kann man sehen, dass es Alexander Lukaschenko nicht gut ging / Foto © Gavriil Grigorov/ITAR-TASS/imago images

Alexander Lukaschenko ist nicht mehr der Jüngste, und wir sehen, dass seine Gesundheit nachlässt. Das schränkt bereits seine Arbeitsfähigkeit ein. Vor Kurzem war er für fünfeinhalb Tage von der Bildfläche verschwunden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sein Gesundheitszustand mit der Zeit wie der der Generalsekretäre der KPdSUDie Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) war die zentrale Machtstruktur im Einparteiensystem der Sowjetunion. Ihr Vorläufer, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, wurde 1898 gegründet. In der Zeit ihres Bestehens bis 1991 vertrat die Partei unterschiedliche Strömungen: vom (Marxismus-)Leninismus bis zum (Neo-)Stalinismus. Das Zentralkomitee (ZK) der Partei bildete das oberste Entscheidungsgremium. Das daraus gewählte Politbüro und dessen Vorsitzender – der Generalsekretär der KPdSU – war der faktisch deckungsgleiche Führungskern von Partei und Staat. zu Beginn der 1980er Jahre sein wird. Welche politischen Perspektiven eröffnen sich für die herrschende Regierung und die demokratischen Kräfte im Fall einer dauerhaften Einschränkung von Lukaschenkos Arbeitsfähigkeit? 

Zunächst ein kleiner lyrischer, oder besser gesagt theoretischer Exkurs: Autoritäre Regime unterscheiden sich voneinander nicht nur im Ausmaß der Brutalität und Repressionen, sondern auch darin, ob sie sich auf eine Führerpersönlichkeit oder auf kollektive Institutionen stützen. Das belarussische Regime kann man mit Fug und Recht als eines der personalistischsten in ganz Eurasien bezeichnen. Lukaschenko hat während seiner gesamten politischen Karriere Institutionen abgelehnt, sie bekämpft und versucht, eine direkte Verbindung zwischen sich und dem Volk aufzubauen. Regime, die auf eine Person konzentriert sind, sind im Durchschnitt besser vor Komplotten oder Spaltungsversuchen der Eliten geschützt. Wenn diese Eliten unzufrieden mit dem Führer sind, haben sie nicht einmal einen Ort, an dem sie sich physisch treffen und diskutieren können, was zu tun ist. Selbst in Italien unter Mussolini gab es den Großen Faschistischen Rat, der ihn schließlich aus seinem Führeramt absetzen konnte. In der Sowjetunion gab es die Kommunistische Partei und Organe, in denen regelmäßig Umstürze heranreiften, wenn die NomenklaturaNach der lateinischen Wortherkunft bezeichnet der Begriff ein Namensregister. Er wurde speziell in den sozialistischen Parteienstaaten verwendet für ein Register, in dem die Inhaber von Führungspositionen gelistet waren. Es hat sich aber etabliert, mit dem Begriff die Gesamtheit der Personen, also die politische und wirtschaftliche Elite der jeweiligen Länder zu bezeichnen. Das Wort wurde – oft auch abwertend – für die in sich abgeschlossene herrschende Klasse verwendet. unzufrieden mit dem Generalsekretär war. 

Im heutigen Belarus gibt es nichts dergleichen. Das ist in gewisser Weise der Faktor, der das Regime aufrechterhält. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem Lukaschenko selbst entscheidet abzutreten oder dies aus biologischen Gründen spontan tut. Und er hat bereits damit begonnen, Prototypen zukünftiger kollektiver Institutionen zu schaffen, zum Beispiel die Regierungspartei oder die Allbelarussische VolksversammlungDie Allbelarussische Volksversammlung (belaruss. Ussebelaruski narodny schod) ist eine Versammlung von Vertretern der belarussischen Staatsführung, zu der Delegierte aus dem staatlichen Verwaltungsapparat aus allen Regionen des Landes, von Staatsunternehmen, Bildungs-, Kultur- oder Sporteinrichtungen nominiert werden. Die Versammlung wird auf Präsidialerlass einberufen. Das erste Mal fand sie 1996 statt, das bisher letzte Mal im April 2024. Auf der Versammlung sollen gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklungen und Leitlinien diskutiert und erörtert werden. Während die Regierung die Versammlung für „ein wichtiges demokratisches Organ“ hält, wird sie von der Opposition als „Lukaschenko-Show“ kritisiert. Im Zuge des geplanten Umbaus des politischen Systems soll die Versammlung mehr Macht bekommen, indem sie als oberste staatliche Führungsinstanz fungieren soll.. Allerdings sind das bislang nur Keime, oder überhaupt nur Pläne. Sollte diese Situation im Fall eines spontanen Abtritts Lukaschenkos noch dieselbe sein, dann wird aus der Stärke des Regimes mit einem Mal seine Achillesferse, denn sobald in einem personalistischen System die einzige Person geht, die die Machtspitze hält, also der autoritäre FührerIm Original: woshd (dt. Führer). Der Autor benutzt den Begriff offenbar polemisch zur Zuspitzung. Als woshdism wird im Russischen oft eine absolute und personalisierte Herrschaftsform bezeichnet. Die sowjetische Propaganda der 1920er bis 1940er Jahre nannte Stalin nicht selten woshd., und er bis dahin nicht geschafft hat, einen Nachfolger zu ernennen, versinkt der Apparat der Staatsbeamten im Chaos. Sie haben keine Ahnung, wie es weitergehen soll. In Belarus sind diese Leute nicht gewohnt, politisch selbständig zu handeln, sie führen Anweisungen aus. Sie haben keine Erfahrung mit der Bildung von Allianzen und damit, untereinander Dinge auszuhandeln. Für sie ist es das Wichtigste, Einfluss auf Lukaschenko zu nehmen. 

Ja, sie können Intrigen spinnen, um den Einfluss anderer Personen auf ihn zu schwächen, doch das ist eine Politik, die nur darauf ausgerichtet ist, die Hauptperson im System zu überzeugen, nicht darauf, eigenständig Entscheidungen zu treffen und Kompromisse zu finden. 

Für Moskau ist Lukaschenkos Abgang nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Möglichkeit

Dies also die lange Herleitung zur Antwort auf unsere Frage. Im Fall, dass Lukaschenko plötzlich stirbt oder durch eine ernste Erkrankung das Land nicht mehr führen kann, eröffnet sich vor allen Akteuren ein riesiges Fenster von Möglichkeiten. Einen belastbaren Plan für einen Machttransfer gibt es nicht. Selbst in Russland ist das anders – hier hat es in den vergangenen Jahrzehnten, ob real oder nur nominell, PräsidentenwechselRokirowka - zu Deutsch Rochade - ist ein aus dem Schach entlehnter Begriff, der im russischen politischen Diskurs einen Ämtertausch meint, genauer die Rückkehr Wladimir Putins in das Präsidentenamt 2012 nach der Interimspräsidentschaft von Dimitri Medwedew (2008-2012). Подробнее в нашей гнозе gegeben. Also wird es von entscheidender Bedeutung sein, wer zuerst die Initiative ergreift und Bedenken gegenüber seiner Macht wirksam ausräumt, denn in diesem Fall wird ein Großteil der Nomenklatura erleichtert aufatmen, weil an Lukaschenkos Stelle ein neuer, klarer Führer auftaucht, auf den man sich einfach wie gewohnt einstellen kann. 

An dieser Stelle ist eine Weggabelung, wo mehrere Szenarien denkbar sind. Der Akteur, der Initiative zeigt, könnte RusslandSeit ihrer Unabhängigkeit 1991 unterhält die Republik Belarus enge politische, wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu Russland. Und auch für den großen östlichen Nachbarn ist Belarus der zentrale regionale Verbündete. Seit der Niederschlagung der Proteste von 2020 und seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich die Abhängigkeiten von Belarus deutlich zu Gunsten Russlands verschoben. Подробнее в нашей гнозе sein, wenn es zu diesem Zeitpunkt Kraft und Interesse hat, sich mit dem Machttransfer in Belarus zu befassen, und in Minsk selbst völlige Ratlosigkeit herrscht. Für Moskau ist Lukaschenkos Abgang nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Möglichkeit, den Einfluss auf den Nachfolger zu erhöhen, indem Moskau in der ersten Zeit wirtschaftliche und militärische Unterstützung leistet, bis er seine Macht konsolidiert hat. Dieser Einfluss kann später genutzt werden, um ihn zu Zugeständnissen zu bringen, auf die Lukaschenko sich zu Lebzeiten nie eingelassen hat. 

Andererseits kann die Quelle für diese politische Initiative inländisch sein. Zum Beispiel könnten sich die belarussischen SilowikiÄhnlich wie in Russland, bezeichnet der Sammelbegriff Silowiki auch in Belarus Amtspersonen aus Sicherheitsorganen des Staates.  untereinander erfolgreich auf einen Anführer aus ihren Reihen einigen, die zivile Bürokratie zerschlagen, den Kriegszustand ausrufen oder auf andere Weise vor einer möglichen inneren Destabilisierung warnen, und dann, schon aus einer Position relativer Stärke, Gespräche mit Moskau aufnehmen. 

Eine dritte Option ist, dass sich die formelle Nachfolgerin Lukaschenkos – aktuell ist das der Verfassung nach Natalja KotschanowaNatalja Kotschanowa (geb. 1960, belarussisch: Natallja Katschanawa) ist eine belarussische Politikerin. Sie stammt aus dem nordbelarussischen Polatzk, wo sie nach ihrem Studium auch in den Kommunalwerken und in der Stadtverwaltung tätig war. 2014 wurde sie zur stellvertretenden Ministerpräsidentin von Belarus ernannt, von 2016 bis 2019 leitete sie die Präsidialverwaltung. Seit Dezember 2019 ist sie Vorsitzende des Rates der Republik, dem Oberhaus des belarussischen Parlaments. Kotschanowa gilt als eine der wichtigsten Funktionärinnen im Machtapparat Lukaschenkos., die Vorsitzende des Rates der RepublikDer Rat der Republik (belaruss. Sawet Respubliki) ist im Zweikammersystem der Republik Belarus als Verfassungsorgan das Oberhaus, während das Repräsentantenhaus das Unterhaus des Parlaments bildet. Der Rat setzt sich aus 64 Mitgliedern zusammen, die durch die Oblaste des Landes und die Stadt Minsk bestimmt werden. Acht Mitglieder werden durch den Präsidenten nominiert. – als machtliebender und cleverer erweist, als wir das von ihr erwarten, da wir sie nur als die rechte Hand betrachten, die Lukaschenko lobt und preist. 

Theoretisch könnte sie schnell eine Koalition aus ihr loyalen Staatsbeamten zimmern, die mit ihrer Unterstützung unter Lukaschenko ernannt wurden. Dann kann Kotschanowa die gesamte Führung der Silowiki austauschen, denn der Verfassung nach wird sie die Befugnis dazu haben. Moskau kann sie zusichern, dass sie sich an alle roten Linien halten wird. Danach, wenn sich die Situation stabilisiert hat, wird sie nichts daran hindern, allein zur Wahl anzutreten oder die Wahl ganz abzusagen, wieder durch die Ausrufung irgendeines Kriegszustandes. Ähnlich ambitioniert können theoretisch auch andere hohe Staatsbeamte sein, zum Beispiel der Premierminister oder der Chef der Präsidialverwaltung Lukaschenkos. Doch die müssten irgendwie damit zurechtkommen, dass es laut Verfassung auf dem Weg zur Macht ein Hindernis für sie gibt – den Vorsitzenden des Rates der Republik. Heute ist das Natalja Kotschanowa. Um dieses Hindernis zu überwinden, braucht es Absprachen mit den Silowiki. 

Anders gesagt, es gibt viele Möglichkeiten. Und über revolutionäre Szenarien und die Beteiligung der Opposition haben wir noch gar nicht gesprochen. Angesichts dieser Ungewissheit, können heute weder wir noch die potentiell Beteiligten voraussagen, wie sich die Ereignisse entwickeln werden. Und wenn wir ergänzen, dass wir nicht wissen, wie stark oder schwach Russland zu diesem Zeitpunkt sein wird, gibt es ohnehin kein unvorstellbares Szenario. 

Haben die belarussischen demokratischen Kräfte irgendeinen Plan zur Machtübernahme im Land, falls sich die Situation in Belarus kardinal verändert, zum Beispiel durch den Tod Lukaschenkos? Haben sie eine Chance, diese Pläne erfolgreich umzusetzen?

Die Frage nach dem Plan sollte man besser direkt an die demokratischen Kräfte richten. Swetlana TichanowskajaSwetlana Tichanowskaja (geb. 1982, belarussisch: Swjatlana Zichanouskaja) ist eine parteilose belarussische Politikerin. Bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 ist sie als Kandidatin gegen den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko angetreten. Die Wahl war offensichtlich manipuliert, das offizielle Wahlergebnis von rund 80 Prozent für Lukaschenko war teils nachweislich gefälscht. Tichanowskaja, die den Wahlsieg zunächst für sich reklamiert hat, musste Belarus offenbar unfreiwillig in Richtung Litauen verlassen. Seither ist sie aus dem Exil heraus die wichtigste Leitfigur der organisierten belarussischen demokratischen Opposition. Подробнее в нашей гнозе hat gesagt, dass an verschiedenen Handlungsszenarien gearbeitet wird für den Fall, dass Lukaschenko stirbt. Alexander Asarow, der Vorsitzende von BYPOL, hat häufig betont, dass es für diesen Fall den Plan PeramohaDie exilierte belarussische Opposition, die sich rund um die frühere Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja gebildet hat, stellte Mitte 2021 den so genannten Peramoha-Plan vor (dt. Sieges-Plan). Dahinter verbirgt sich eine Road Map, mit der für den Widerstand gegen das Lukaschenko-Regime vom Ausland aus mobilisiert werden soll. Operativ handelt es sich um eine Art Untergrundbewegung, die von BYPOL (einer Vereinigung ehemaliger Mitarbeiter von Strafverfolgungsbehörden) angeleitet wird. Erklärtes Ziel ist der „organisierte und friedliche Machtwechsel“. gibt. Für unabhängige Beobachter wie mich sind das Katzen im Sack, weil wir nicht wissen, wie viele Menschen tatsächlich zur Verfügung stehen, die zum Zeitpunkt X mobilisiert werden können. Wir wissen auch nicht, wie weit dieser Plan bereits ausgearbeitet ist und was die Silowiki tun werden, um seine Umsetzung im Vorhinein zu verhindern. Für eine Erfolgschance der demokratischen Kräfte in einer solchen Situation müssten vier Bedingungen gleichzeitig eintreffen.  

Erstens, sie müssen geeint sein und entschlossener handeln als 2020. Sie müssen von sich aus die Initiative ergreifen und nicht abwarten, wohin ein spontaner Ausbruch an politischer Energie in der Masse das Land treibt. Zweitens, die Machtvertikale, vor allem die Silowiki, müssen zerstreut oder paralysiert sein. Das kann durch eine Zerstörung der Unterordnung geschehen, durch eine Spaltung der Eliten oder einfach Passivität, wenn die Angst vorherrscht, Verantwortung zu übernehmen, wenn die andere Seite gewinnt. Drittens ist es notwendig, dass Russland sich in die Situation nicht einmischt, entweder aufgrund eigener Probleme oder, dass Russland es gar nicht schafft, wenn sich die Ereignisse in Belarus so rasant entwickeln, einzugreifen. Viertens wird es nicht ohne eine Mobilisierung der Massen gelingen. Wenn die Menschen nicht bereit sind, auf die Straße zu gehen, zu protestieren und zu streiken, endet jede Entschlossenheit der Opposition beim Sturm eines Grenzübergangs oder in sehr emotionalen YouTube-Filmchen. 

Schauen wir also, was davon realistisch ist, falls Lukaschenko plötzlich sterben sollte. Einheit und Entschlossenheit der Opposition – die ist vorhanden. Historische Umbruchsituationen lassen alten Streit und Beleidigungen schnell in Vergessenheit geraten und diejenigen bedeutungslos werden, die weiterhin schimpfen, anstatt an der gemeinsamen Sache zu arbeiten. Irrungen und Wirrungen auf der Machtebene – sind nicht garantiert, aber durchaus möglich. Wir wissen nicht, wie die Elite auf einen solchen Schock reagiert, da es so etwas in der Geschichte von Belarus bislang nicht gegeben hat. Aber es ist nicht auszuschließen, dass das Land für eine gewisse Zeit die Regierbarkeit einbüßt. Problematisch ist es allerdings mit der Zurückhaltung Russlands. 

Die demokratischen Kräfte stehen im besten Falle noch vor wenigstens zwei Barrieren auf dem Weg zum Erfolg

Wenn Lukaschenko verschwindet und den demokratischen Kräfte tatsächlich etwas gelingt, kann ich mir keinen Grund vorstellen, warum der Kreml sich zurückhalten und einfach zuschauen sollte, wie in seinem wichtigsten militärischen Brückenkopf moskaufeindliche Kräfte die Macht übernehmen. Beschwörungsformeln vom „weisen Putin“ oder „unser Verhältnis wird dann sogar noch besser sein als unter Lukaschenko“ zu wiederholen, werden dann nichts mehr bringen. Daran hat auch damals niemand so recht geglaubt. Durch den Krieg gegen die Ukraine hat Russland eventuell nicht genügend Landstreitkräfte verfügbar, doch Einheiten der NationalgardeAm 5. April 2016 unterschrieb Präsident Putin einen Erlass, mit dem die Sicherheitskräfte um eine neue Einheit erweitert werden – die Nationalgarde. Sie führt Teile der inneren Truppen und der Polizei zusammen und ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Die Einheit soll zur Terrorabwehr und zur Extremismusbekämpfung eingesetzt werden. Zu ihrem Chef wurde Viktor Solotow ernannt, der zuvor den Personenschutz des Präsidenten und die inneren Truppen befehligt hatte. würden vermutlich ausreichen. Bis 2020 hatten viele, darunter auch ich, Zweifel, dass Putin Lukaschenko seinen OMONOMON (Otrjad Mobilny Osobogo Nasnatschenija – dt. „Mobile Einheit besonderer Bestimmung“) umfasst verschiedene Spezialeinheiten der Polizei. Sie werden vor allem bei Demonstrationen und Massenveranstaltungen herangezogen, aber auch bei Geiselnahmen, Aktionen gegen organisierte Kriminalität oder für den Objektschutz eingesetzt. Das 1988 gegründete Format untersteht seit 2016 der neu geschaffenen Nationalgarde Russlands. zu Hilfe schicken würde, wenn der nicht zurechtkommt. Doch heute würde daran wohl niemand mehr zweifeln. 

Dieselbe Skepsis ruft bei mir die Option einer massenhaften Mobilisierung zu Protesten hervor, angesichts des Zustands der Gesellschaft. Es sei denn, eine neue Regierung verkündet aus irgendeinem Grund eine Amnestie und weist die Silowiki selbst in die Schranken. Aber warum sie das tun sollte, weiß ich nicht. Somit stehen die demokratischen Kräfte selbst im besten Falle – Chaos im Regime und innere Einheit – noch vor wenigstens zwei ernstzunehmenden Barrieren auf dem Weg zum Erfolg. Deshalb hängt die Antwort auf unsere Frage völlig davon ab, wann die plötzliche Veränderung eintritt, wie es Russland zu diesem Zeitpunkt geht und wie es um das Protestpotential der Belarussen bestellt sein wird. 

Wenn Russland nach dem Tod Lukaschenkos versucht, Belarus schnell zu schlucken und den konfusen Kräften in Minsk ein entsprechendes Ultimatum stellt, könnte der Westen das dann verhindern? Und würde er das überhaupt wollen?

Die ehrliche Antwort lautet hier vermutlich: Nein. Der Westen verfügt schlicht nicht über die Ressourcen und Hebel, um eine solche Entwicklung zu verhindern. Auch wenn im Westen der unmissverständliche Wunsch herrscht, ein unabhängiges Belarus zu erhalten. Doch das bedeutet nicht, dass der Westen eine Okkupation von Belarus oder den Machttransfer an einen Nachfolger Lukaschenkos stillschweigend schlucken wird. Dessen Legitimität wird nicht größer sein als jetzt. Und das bedeutet, dass alle tiefgreifenden Entscheidungen, die den Interessen der belarussischen Gesellschaft klar zuwiderlaufen, vom Westen wohl nicht als rechtserheblicher Tatbestand anerkannt werden.  

Aus formeller Sicht würde eine solche Übernahme des Landes als Okkupation betrachtet und eine neue Regierung Russlands auf unserem Territorium würde zumindest im Westen – aber vielleicht auch von anderen Staaten auf der Welt – nicht anerkannt. Und hier hängt viel davon ab, wie sich die neue Regierung und die unter Druck stehende belarussische Gesellschaft verhalten. Natürlich wird es innerhalb des Landes nicht genügend Ressourcen geben, um sich allein als belarussische Gesellschaft Russland entgegenzustellen. Doch die pure Existenz von öffentlichen Rücktritten, Protesten, Partisanenaktionen, anderen Widerstandsformen kann Einfluss darauf haben, wie weit sich die Nichtanerkennung dieser Einverleibung ausdehnen kann. 

Auch die NATO wird für Belarus nicht in den Krieg eintreten

Tichanowskajas Kabinett, die einzige halbwegs legitime Vertretung der Belarussen in der Welt, könnte in einer solchen Situation zur vollwertigen Exilregierung werden. Im Westen und selbst in der Ukraine würde die Anerkennung dieser Regierung keinerlei Aufwand bedeuten. Eher im Gegenteil, sie kann dem Kampf der Belarussen behilflich sein, ihnen Hoffnung geben, die Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Eine ähnliche Rolle spielten die Exilregierungen Polens und Frankreich während der Besatzung ihrer Länder durch die Nationalsozialisten. Sie gaben den Menschen Kraft im Kampf und ermöglichten eine effektive Koordinierung der Aktivitäten vom Ausland aus. Was die Hebel und Druckmittel angeht, so wurden gegenüber Russland bereits beispiellos harte Sanktionen verhängt. Im Falle eines „Anschlusses“ von Belarus würden diese natürlich noch einmal verstärkt. Doch das würde den Kreml kaum zum Umdenken bewegen. Auch die NATO wird für Belarus nicht in den Krieg eintreten, da der Wunsch, einen dritten Weltkrieg zu verhindern, dort viel größer ist als die Sorge um die Souveränität eines Landes, das viele ohnehin seit Langem für einen Verbündeten Moskaus halten. Doch falls der Widerstand in Belarus umfassenden Charakter und vor allem bewaffnete Form annimmt, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er als Komplex mit dem Widerstand in der Ukraine wahrgenommen würde. Und dies kann Möglichkeiten für die Unterstützung mit Waffen eröffnen. 

Die belarussischen Partisanen werden wohl kaum Panzer oder Flugzeuge bekommen, aber eine Lieferung leichter Waffen oder Sprengmaterials ist durchaus vorstellbar. Alles hängt vom Umfang des Widerstandes ab und der klaren, einheitlichen Koordinierung dieses Kampfes durch ein Zentrum als Ansprechpartner. Ein solches Koordinierungszentrum kann durchaus aus den heutigen demokratischen Kräften hervorgehen und sogar einem sich dazu gesellenden Teil der Nomenklatura, der die Okkupation nicht unterstützt. 

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer KolchoseDas Wort bezeichnete in der Sowjetunion eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Es setzt sich zusammen aus den Anfängen der Wörter „kollektiv“ (kollektiwny) und „Wirtschaft/Haushalt“ (chosjaistwo). Seit 1929 wurde die Landwirtschaft mit Zwangskollektivierungen in Kolchosen organisiert. Die Betriebe waren formal selbstverwaltet, die Produktionsmittel gehörten dem Kollektiv. Die Leiter der Kolchosen wurden allerdings von der Partei eingesetzt, und der Boden gehörte dem Staat., hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander FedutaAlexander Feduta (geb. 1964, belarussisch: Aljaxandr Fjaduta) ist ein belarussischer Philologe, Publizist und Politiker. Sowohl in der Sowjetunion als auch in der Republik Belarus hatte er leitende Funktionen in staatlichen Jugendorganisationen inne. Feduta war 1994 Teil von Lukaschenkos Wahlkampfteam und später in der Präsidialadministration tätig. Ab 1995 arbeitete er als freier Journalist und Publizist. Nach den Präsidentschaftswahlen 2010 wurde er als Mitarbeiter des Kandidaten Wladimir Nekljajew verhaftet und 2011 schließlich zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Nach einem erneuten Prozess wegen eines angeblich von ihm geplanten Staatsstreichs wurde er am 5. September 2022 zu zehn Jahren Straflager verurteilt. Seit  April 2021 war er in Untersuchungshaft, nachdem er in Moskau festgenommen worden war. Beim Prozess erklärte er sich teils für schuldig. Das Urteil gilt als politisch motiviert., nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstrukAls bajstruk wird im Belarussischen jemand bezeichnet, dessen Vaterschaft nicht geklärt ist. In den Statuten des Großfürstentum Litauens wurden bajstruki dem Stand der Leibeigenen zugeordnet, die in den Städten beispielsweise als Mülllwerker, Henker oder Krankenpfleger arbeiteten..“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der PerestroikaIm engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion. Подробнее в нашей гнозе , mit GlasnostGlasnost ist ein politisches Schlagwort, das Transparenz, Informationsfreiheit und das Fehlen von Zensur bezeichnet. Michail Gorbatschow (geb. 1931) führte den Begriff 1986 ein und stellte damit die Weichen für mehr Meinungs- und Redefreiheit. 
 
und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-SowchoseSchklou (russ. Schklow) ist eine Kleinstadt im Nordosten von Belarus. Berühmtheit erlangte die Gemeinde, die urkundlich erstmals im Jahr 1535 erwähnt wurde und die heute mehr als 20.000 Einwohner hat, weil der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko in den 1980ern die im Rajon Schklou ansässige Sowchose Udarnik als stellvertretender Vorsitzender mit leitete.  zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSRDie Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) war eine Unionsrepublik der Sowjetunion. Sie wurde erstmals am 1. Januar 1919 im russischen Smolensk ausgerufen und bestand bis August 1991. Nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg und dem Friedensvertrag von Riga wurde die BSSR 1920 neu gegründet, ohne die westlichen Territorien, welche an Polen abgetreten wurden. Durch den Hitler-Stalin-Pakt wurden diese Gebiete 1939 jedoch wieder Teil der BSSR und blieben es auch nach 1945. Die rund 70 Jahre BSSR haben Belarus stark verändert und prägen das Land bis heute.  Подробнее в нашей гнозе . Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der SowjetunionDer Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik. Подробнее в нашей гнозе wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996Als Minsker Frühling werden eine Reihe von Protesten im Frühjahr 1996 und 1997 bezeichnet, an denen zehntausende Belarussen teilnahmen. Auslöser waren die Unterzeichnung der ersten Integrationsabkommen zwischen Belarus und Russland im April 1996, der zehnte Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe sowie ein Referendum vom November 1996, welches eine Verfassungsänderung zugunsten des Präsidenten nach sich zog und das Parlament entmachtete. Bei den Protesten kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Staatsgewalt und den Demonstranten. verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der FührerIm Original: woshd (dt. Führer). Der Autor benutzt den Begriff offenbar polemisch zur Zuspitzung. Als woshdism wird im Russischen oft eine absolute und personalisierte Herrschaftsform bezeichnet. Die sowjetische Propaganda der 1920er bis 1940er Jahre nannte Stalin nicht selten woshd. hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und LeninNach der Februarrevolution fixierte sich Lenin auf den gewaltsamen Sturz der Provisorischen Regierung. Die bolschewistische Partei wurde zum Anziehungspunkt für alle unzufriedenen, radikalen und anarchistischen Elemente. Nach dem misslungenen Juliaufstand nutzte Lenin das Machtvakuum aus, um seine Strategie des bewaffneten Aufstandes im Oktober 1917 zu verwirklichen. Подробнее в нашей гнозе und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und FahneDie rot-grüne Flagge, die zudem ein belarussisches Ornament ziert, ist seit 1995 die Staatsflagge der Republik Belarus. Die aktuelle Version stammt aus dem Jahr 2012. Die Flagge, eingeführt durch ein umstrittenes Referendum unter Alexander Lukaschenko, ist weitgehend identisch mit der Flagge der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR), die im Jahr 1951 eingeführt wurde. Bis dahin war die Flagge rot wie die der Sowjetunion.  der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSRDie Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) war eine Unionsrepublik der Sowjetunion. Sie wurde erstmals am 1. Januar 1919 im russischen Smolensk ausgerufen und bestand bis August 1991. Nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg und dem Friedensvertrag von Riga wurde die BSSR 1920 neu gegründet, ohne die westlichen Territorien, welche an Polen abgetreten wurden. Durch den Hitler-Stalin-Pakt wurden diese Gebiete 1939 jedoch wieder Teil der BSSR und blieben es auch nach 1945. Die rund 70 Jahre BSSR haben Belarus stark verändert und prägen das Land bis heute.  Подробнее в нашей гнозе in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGBDas Komitee für Staatssicherheit der Republik Belarus (russ. Komitet gosudarstwennoi besopasnosti, kurz KGB) ist der belarussische Geheimdienst. Er ging 1991 aus dem gleichnamigen Geheimdienst der Sowjetunion hervor. Formell untersteht der KGB Präsident Lukaschenko, geleitet wird er seit dem 3. September 2020 von Iwan Tertel. Die Behörde spielt im System Lukaschenko eine zentrale Rolle für die politische Machterhaltung und für die Verfolgung von politischen Gegnern. Beobachter werfen dem belarussischen KGB wiederholte Verstöße gegen die Menschenrechte vor. Seit 2006 befanden sich seine Vorsitzenden sowie leitende Offiziere jeweils auf Sanktionslisten der EU. noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische SpracheIn den vergangenen 200 Jahren hinderten unterschiedliche Herrschaftsbereiche und politische Systeme die moderne belarussische Sprache daran, sich durchzusetzen. Sie wurde unterdrückt und an den Rand gedrängt. Heute ist sie eine der beiden Amtssprachen der Republik Belarus und hat einen hohen Symbolwert. Подробнее в нашей гнозе an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das WappenDas Wappen Pahonja ist ein bedeutendes Wappen aus Belarus. Der Ursprung des Reiters auf Pferd, der ein Schild mit einem Doppelkreuz trägt, geht bis in das 14. Jahrhundert zurück. Es ist fast identisch mit dem heutigen Staatswappen von Litauen, was auf die gemeinsame Geschichte der beiden Länder zurückzuführen ist. Das Pahonja, was sich als Verfolgung übersetzen lässt, wurde nach dem Ende der Sowjetunion 1991 zum Staatswappen der Republik Belarus bestimmt. Nach einem umstrittenen Referendum im Jahr 1995 wurde es von Alexander Lukaschenko durch das heutige Wappen ersetzt, das sich an dem der Belarussischen Sowjetrepublik orientiert. Seitdem ist das Wappen, wie auch die weiß-rot-weiße Fahne, zum Symbol der Oppositionsbewegung avanciert.
 
in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki MirDas Konzept der Russischen Welt (russ. russki mir) wurde in den Jahren 2006/07 entwickelt und hat seitdem an Popularität gewonnen. War es zunächst eher ein kulturelles Konzept, das die soziale Bindungskraft russischer Sprache und Literatur betonte (es existiert eine gleichnamige kulturpolitische Stiftung), so dient es heute auch zur Legitimierung außenpolitischer Aktionen, die den Einfluss Russlands im postsowjetischen Raum stärken sollten.  Подробнее в нашей гнозе , mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit RusslandSeit ihrer Unabhängigkeit 1991 unterhält die Republik Belarus enge politische, wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu Russland. Und auch für den großen östlichen Nachbarn ist Belarus der zentrale regionale Verbündete. Seit der Niederschlagung der Proteste von 2020 und seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich die Abhängigkeiten von Belarus deutlich zu Gunsten Russlands verschoben. Подробнее в нашей гнозе und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine SilowikiÄhnlich wie in Russland, bezeichnet der Sammelbegriff Silowiki auch in Belarus Amtspersonen aus Sicherheitsorganen des Staates. . Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris JelzinBoris Jelzin (1931–2007) war der erste demokratisch gewählte Präsident Russlands. Er regierte von 1991 bis 1999, seine Amtszeit war durch tiefgreifende politische und ökonomische Krisen geprägt. Jelzin setzte massive Reformen in Gang: unter anderem ein Programm zur Privatisierung von Staatseigentum und ein folgenschweres Programm zur Umgestaltung der politischen Kultur. Letzteres bezeichnen viele Wissenschaftler als „Entsowjetisierungs-Programm”., den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana TichanowskajaSwetlana Tichanowskaja (geb. 1982, belarussisch: Swjatlana Zichanouskaja) ist eine parteilose belarussische Politikerin. Bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 ist sie als Kandidatin gegen den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko angetreten. Die Wahl war offensichtlich manipuliert, das offizielle Wahlergebnis von rund 80 Prozent für Lukaschenko war teils nachweislich gefälscht. Tichanowskaja, die den Wahlsieg zunächst für sich reklamiert hat, musste Belarus offenbar unfreiwillig in Richtung Litauen verlassen. Seither ist sie aus dem Exil heraus die wichtigste Leitfigur der organisierten belarussischen demokratischen Opposition. Подробнее в нашей гнозе jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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