„Ich möchte mitteilen, dass ich am Freitagabend, dem Tag, an dem die Zerschlagung von Radio Svaboda stattfand, Belarus verlassen habe.“ Dies teilte Waleri Karbalewitsch am gestrigen Sonntag auf Facebook mit. Der Politologe und Historiker schreibt für den belarussischsprachigen Dienst von Radio Liberty regelmäßig politische Analysen. Karbalewitsch befürchtete wohl, selbst festgenommen zu werden. Denn am Freitag hatten Silowiki die Wohnungen von Leuten durchsucht, die mit dem in Prag ansässigen Sender zusammenarbeiten, und zahlreiche freie Mitarbeiter festgenommen. Drei befinden sich aktuell immer noch in Haft. Die Razzien betrafen auch Mitarbeiter des Auslandsenders Belsat und zahlreiche bekannte NGOs im ganzen Land. Bereits seit dem 8. Juli lassen die belarussischen Machthaber die Büros von Medien, Journalisten, Menschenrechtsorganisationen, Parteien und Initiativen durchsuchen, Dokumente und Gerätschaften konfiszieren und Mitarbeiter festnehmen. Gegen vier Mitarbeiter des Online-Mediums Nasha Niva, das aus der ältesten belarussischen Zeitung hervorgegangen ist, wurde bereits ein Strafprozess eingeleitet. Der Vorwurf: „das Organisieren oder Vorbereiten von Aktionen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen, oder die Teilnahme daran”. Nasha Niva hat daraufhin die Arbeit vorerst eingestellt. Auch wurden weiter Telegram-Kanäle wie beispielsweise Strana dlja shisni (dt. Ein Land zum Leben) – den die Initiative des inhaftierte Videobloggers Sergej Tichanowski betreibt – als „extremistisch“ eingestuft.
Wie ist die neuerliche Repressionswelle zu deuten? Wollen die Machthaber jegliche Form von Zivilgesellschaft, freie Meinungsäußerung und Dissens in Belarus zerstören und Belarus in einen totalitären Staat verwandeln? Ist die Aktion gar eine Antwort auf die EU-Sanktionen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Journalist Pawljuk Bykowski in seiner Analyse für Naviny.by.
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„Gegenwärtig erfolgt eine breit angelegte Operation zur Säuberung von radikal eingestellten Personen“, erklärte der stellvertretende Leiter der Verwaltung Strafermittlung des belarussischen KGB, Konstantin Bytschek. Liest man das Interview dieses Vertreters des KGB aufmerksam durch, dann spricht er zwar von den bekannten „destruktiven Telegram-Kanälen“, doch beziehen sich Bytscheks Worte auch auf einen breiteren Kontext und sind bezeichnend für die Reaktion eines autoritären Regimes, das ins Wanken geraten, aber noch nicht gestürzt ist. Es geht um die Beseitigung jeglicher Protestherde und jeglicher zivilgesellschaftlicher Strukturen, die sich mit diesen solidarisieren könnten, wie auch aller Medien, die zu einem Sprachrohr des Protests werden oder einfach weiterhin mit Empathie für die Opfer der Willkür über die Lage in Politik und Gesellschaft berichten könnten.
Der „Schwarze Donnerstag“
Nach Angaben des unabhängigen Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ) sind seit Jahresbeginn 87 Journalisten und Mitarbeiter von Medien festgenommen worden, von denen derzeit 29 hinter Gittern sitzen.
Am 8. Juli wurden an nur einem Tag sieben Journalisten und die Buchhalterin von Nasha Niva festgenommen. Vier von ihnen sind feste Mitarbeiter der Zeitung. Sie werden in einem Strafverfahren der Organisation oder Vorbereitung von Handlungen verdächtigt, die die gesellschaftliche Ordnung grob verletzen. Zwei weitere Mitarbeiter der Redaktion blieben mit unklarem prozessualem Status in Freiheit, mussten aber eine Verschwiegenheitsverpflichtung unterschreiben.
Am 8. und 9. Juli erfolgten auch in den Redaktionen und in den Wohnungen von Mitarbeitern der Brestskaja Gaseta, der Portale Orsha.eu, Media-Polessje, Intex-Press, Bobr.by sowie bei freischaffenden Journalisten, die mit dem aus Polen sendenden TV-Kanal Belsat zusammenarbeiten, Hausdurchsuchungen, bei denen Computer und Smartphones konfisziert wurden.
Media-Polessje teilte mit, dass die Hausdurchsuchungen bei Redaktionsmitarbeitern in Luninzk und Pinsk von Ermittlergruppen des KGB im Rahmen eines Verfahrens wegen eines „terroristischen Aktes“ erfolgt seien.
Darüber hinaus erging am 8. Juli „aufgrund einer Benachrichtigung durch die Generalstaatsanwaltschaft“ der Beschluss, den Zugang zum Portal nn.by (Nasha Niva) zu blockieren: Diese Domaine ist jetzt für belarussische wie auch für ausländische Nutzer gesperrt.
Am gleichen Tag wurde der Nachrichtenredakteur des Portals Perschy rehijon, Oleg Suprunjuk, in einem Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „der Verbreitung von Informationserzeugnissen, die im Republiksverzeichnis extremistischer Materialien geführt werden“, zu einer Geldstrafe von 590 Rubeln [knapp 200 Euro – dek] verurteilt.
Durch die Unterdrückung unabhängiger Medien wird die Gesellschaft Beiträge lesen, ,die nicht einmal minimalen professionellen Standards genügen‘
Der Belarussische Journalistenverband (BAJ) forderte, „die Vernichtung des freien Wortes [in Belarus] zu stoppen“. „Unter dem Vorwand des Kampfes gegen Extremismus versucht die Regierung, die unabhängigen belarussischen Medien zu vernichten“, heißt es in einer Erklärung des BAJ.
In dem Papier wird prognostiziert, dass durch die flächendeckende Unterdrückung unabhängiger Medien „die Gesellschaft anstelle verifizierter und im Einklang mit der journalistischen Ethik vermittelter Informationen Beiträge lesen wird, die nicht einmal minimalen professionellen Standards genügen“.
Reden mit Kriegsrhetorik
Gleichzeitig erklärte Alexander Lukaschenkoam 8. Juli bei einer Zeremonie zu Ehren der Absolventen der Militärhochschulen und des höheren Offizierskorps, dass ein Krieg heute in der Regel nicht mehr durch eine Aggression von außen begänne: „Er beginnt von innen, damit, dass die Hirne unserer Leute zerstört werden. Er beginnt damit, dass in unserem Land Chaos erzeugt wird, und erst danach werden, wenn nötig, ausländische Truppen hierher entsandt. Davon haben wir gesprochen. Hierin besteht der Kern unserer nationalen Sicherheitskonzeption“.
Die Äußerungen fügen sich in ein propagandistisches Schema, in dem die Proteste keine tieferen Gründe im Land selber haben können
Angesichts des Ortes und der Adressaten lag der Akzent des Auftrittes auf militärischen Aspekten, mit der Rhetorik eines Informationskriegs, der von außen geführt werde. Allerdings fügen sich die Äußerungen sehr wohl in ein propagandistisches Schema, in dem sowohl die Proteste als auch negative Informationen in den Medien keine tieferen Gründe im Land selber haben können, sondern allein als Umsetzung eines Auftrags aus dem Ausland gesehen werden.
In Russland war die Regierung in dieser Hinsicht offener, aber auch raffinierter. Dort wurden die Medien vor allem dadurch unter Kontrolle gebracht, dass die Zeitungen per Kauf übernommen wurden.
Igor Nikolajtschuk, Mitarbeiter des Zentrums für Rüstungsforschung des Russischen Instituts für strategische Studien (RISI), bekannte in einem Interview für die Literaturnaja Gaseta: „Bevor die Krim angeschlossen wurde, erfolgte eine riesige, penible, schmerzliche und nahezu unsichtbare Arbeit, um im medialen Raum in Russland jene Medien auszuschalten, die dem Regime in den Rücken schießen könnten. Der Informationskrieg erfordert eine Übermacht von Medien, die für eine Umsetzung der staatlichen Idee arbeiten. Die propagandistische Katastrophe des ersten Tschetschenienkrieges, als die eigenen Leute [von den Medien] angegangen wurden, ist nicht vergessen und soll sich nicht wiederholen.“
Es geht darum, den nicht loyalen Medien die unternehmerische Basis zu zerstören
Etwas ähnliches versucht man auch in Belarus zu unternehmen, doch geht es hier nicht um die Übernahme von Medien, sondern darum, den nicht loyalen Medien die unternehmerische Basis institutionell zu zerstören, um deren Ausschluss aus dem monopolisierten System, über das Periodika vertrieben werden, und um ein Druckverbot in belarussischen Druckereien.
Die verbleibenden Internet-Medien erhalten Besuch vom KGB oder der GUBOPiK, die Geräte werden konfisziert und die Mitarbeiter der Redaktionen zum Verhör vorgeladen oder in Untersuchungshaft gesteckt. Dadurch werden unabhängige Journalisten gedrängt, ins Ausland zu gehen.
Wird jetzt das Urteil vollzogen, das Makei im April verkündete?
Angesichts der Zerschlagung unabhängiger Medien sind Meldungen über Repressionen gegen Aktivisten und die Zerstörung zivilgesellschaftlicher Strukturen in den Hintergrund getreten. Allerdings wird auch hier das Versprechen von Außenminister Wladimir Makei eingelöst. Der hatte am 10. April erklärt, eine Verhängung von Sanktionen gegen das herrschende Regime werde „zweifellos dazu führen“, dass es „jene Zivilgesellschaft, um die sich unsere europäischen Partner so sehr kümmern, nicht mehr geben wird“.
Jetzt überprüft das Justizministerium auf nationaler Ebene eine Reihe von NGOs, während man sich jetzt schon einige von ihnen auf lokaler Ebene vorknüpft.
So teilte die Staatsanwaltschaft am 8. Juli mit, dass auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft Brest die Einrichtungen Sa swoj gorod und Dsedsitsch durch die Verwaltung des Leninski-Stadtbezirks aufgelöst wurden.
Allem Anschein nach werden sie vernichtet, „damit sie niemandem in den Rücken schießen“. Insbesondere in Bezug auf Dsedsitsch wurde festgehalten, dass diese Einrichtung „Wettbewerbe für Kunstwerke und Clips in sozialen Medien organisiert [hat], die die Herausbildung einer Haltung der Bürger propagieren, die rechtswidrige Handlungen gutheißt“.
Eine „Normalisierung der Lage“ – wie sie vom herrschenden Regime verstanden wird – macht es erforderlich, dass aus dem öffentlichen Raum jede Kritik am Regime und jede abweichende Meinung verschwindet. Uniformierte führen die Befehle aus und werden für Pogrome gegen Andersdenkende belohnt.
Es ist zwar von vornherein klar, dass man auf diese Weise die Belarussen nicht dazu bringen kann, Lukaschenko wieder lieb zu gewinnen. Doch ein taktisches Ziel ist durchaus erreichbar, nämlich bestimmte politische Veränderungen vorzunehmen, ohne dass der Unmut der Bevölkerung sichtbar wird.
Wir können nur mutmaßen, wann sie sich auf eine harte Landung werden vorbereiten müssen – im Vorfeld der für den Herbst angekündigten vertieften Integration mit Russland oder vor dem für Anfang 2022 angesetzten Verfassungsreferendum.
Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2
Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus.
Der Weg zur Macht
Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3
Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“
Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.
Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.
Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.
Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren.
Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht.
Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.
Machthunger und Gewaltenteilung
Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko.
Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.
Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt.
An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9
Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.
Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.
Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt.
Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren.
Gründe für die lange Herrschaft
Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.
Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt.
Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.
Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.
Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD“11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12
Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.
Der Ego-Kult
Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15
Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.
Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.
Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.
Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.
Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus.
Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.
Im Sommer 2020 protestierten die Belarussen für Neuwahlen und für ihre Grundrechte – friedlich, kreativ und äußerst wandlungsfähig. Wir lassen die Vielfalt und Höhepunkte der Protestkultur in diesem visuellen Rückblick Revue passieren.
Die belarussischen Machthaber haben mittlerweile alle Oppositionsparteien verboten. Darunter auch die Belarussische Volksfront (BNF), eine der ältesten Parteien des Landes, die für die Geschichte des Landes eine wichtige Rolle gespielt hat. Das belarussische Medium Zerkalo hat die Geschichte der Bewegung und Partei aufgeschrieben.
Verleiht Alexander Lukaschenko seinem autoritären System immer mehr ein sowjetisches und totalitäres Antlitz? Darauf deutet vor allem die Radikalisierung des Machtapparats seit 2020 hin. Igor Lenkewitsch analysiert die machtstrukturelle Verpuppung.
Die Repressionen in Belarus werden immer wieder mit denen unter Putin in Russland verglichen. Artyom Shraibman erklärt detailliert, mit welchen Mitteln das System Lukaschenko gegen Opposition, Medien und Zivilgesellschaft vorgeht und was der russischen Gesellschaft noch bevorstehen könnte.
Ist der belarussische Protest tot? Hat Alexander Lukaschenko immer noch Angst vor Protesten? Welchen Einfluss hat die neue Diaspora? Waleri Karbalewitsch beleuchtete im August die aktuelle Lage zwei Jahre nach dem Beginn der historischen Proteste in Belarus – seine Analyse ist 2022 einer der meistgelesenen Texte im Belarus-dekoder (Platz 3).
Im Krieg gegen die Ukraine steht der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko an der Seite des russischen Präsidenten Putin. Doch bislang sind keine seiner Truppen beteiligt. Warum hilft er Putin? Was hat er zu gewinnen, was zu verlieren? Und was bedeutet das für seinen eigenen Machterhalt?
Nach 600 Tagen gab es das erste Lebenszeichen von Maria Kolesnikowa. Ihr Vater durfte sie besuchen. Sie war eines der Gesichter der Proteste in Belarus im Jahr 2020, sie wurde verschleppt, festgenommen und schließlich zu elf Jahren Haft verurteilt. Wer ist diese scheinbar unerschrockene Frau, und wie wurde sie zur Oppositionspolitikerin? Zerkalo zeichnet ihren Lebensweg nach.
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