Debattenschau № 83: Das Ende der unabhängigen Medien in Belarus?
От 19.05.2021
Am Morgen des 18. Mai 2021 drangen Mitarbeiter der staatlichen Abteilung für Finanzermittlung (DFR) in die Redaktionsräume des unabhängigen Medienportals Tut.by in Minsk ein. Sie durchsuchten die Räumlichkeiten sowie einige regionale Büros des Unternehmens und auch die Wohnung von Chefredakteurin Marina Solotowa. Im Laufe des Tages wurden die Webseite sowie zahlreiche Spiegelserver blockiert. Am Ende des Tages wurde schließlich bekannt, dass zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Tut.by inhaftiert wurden.
In einer offiziellen Verlautbarung des Informationsministeriums zum Vorgehen gegen das größte unabhängige Medienunternehmen des Landes heißt es: „Die Generalstaatsanwaltschaft stellte zahlreiche Sachverhalte von Verstößen gegen das Gesetz über Massenmedien fest, die die Platzierung von verbotenen Informationen in einer Reihe von Veröffentlichungen auf der Internetressource Tut.by betreffen.“ Zudem wird Tut.by Steuerhinterziehung vorgeworfen. Gegen die Inhaber des Unternehmens wurde ein Strafverfahren eingeleitet.
Tut.by wurde in den vergangenen Jahren immer wieder Ziel von staatlichen Attacken. Journalistinnen und Journalisten, die für unabhängige Medien in Belarus arbeiten, leben seit den Protesten infolge des 9. August 2020 ohnehin gefährlich.
Schon in den ersten Stunden nach Bekanntwerden des Vorgehens gegen Tut.by schwappte eine Welle der Empörung in den belarussischen sozialen Medien auf sowie zahlreiche Bekundungen der Solidarität. Zudem entfachte sich eine Debatte über die Frage, wie der Schlag gegen Tut.by einzuordnen sei und wie weit die Machthaber um Alexander Lukaschenko hinsichtlich der ohnehin weitreichenden Repressionen noch gehen werden. dekoder bringt eine Auswahl von Stimmen aus dieser Debatte.
Источник
Nasha Niva: Abhängiger von Russland?
Das älteste belarussischsprachige Medium Nasha Niva hält das Vorgehen gegen Tut.by für einen schweren Schlag, der die belarussische Medienlandschaft insgesamt betrifft.
Deutsch
Original
Durch die Sperrung von Tut.by ist ein Strich unter die bisherige Existenzweise von Medien in Belarus gezogen worden. Die Zerschlagung des Medien-Flaggschiffs wirft die nationalen Medien um Jahrzehnte zurück und macht den Staat hinsichtlich der Information noch abhängiger von Russland. Es ist nun notwendig, die Gesellschaft für die Unterstützung der Medien zu mobilisieren, die es noch gibt – innerhalb des Landes und im Ausland.
Блакаванне Тут.бая таксама падводзіць рысу пад ранейшым этапам існавання СМІ ў Беларусі. Разгром флагмана медый адкідвае нацыянальныя СМІ на дзесяцігоддзі і зробіць дзяржаву яшчэ больш інфармацыйна залежнай ад Расіі. Спатрэбіцца мабілізацыя грамадства на падтрымку тых беларускіх СМІ, якія застаюцца — унутры краіны і за яе межамі.
Narodnaja Wolja/Pjotr Kusnjazou: „Die Machthaber machen einen riesigen Fehler“
Pjotr Kusnjazou, Direktor der regionalen Informationsplattform Gomel – Silnyje Nowosti, urteilt in einem längeren Kommentar für die Zeitung Narodnaja Wolja, dass die ständigen Repressionen gegen unabhängige Medien vor allem die Hoffnungen auf ein demokratisches Belarus zerstören.
Deutsch
Original
Kann man in diesem Kampf siegen? Für vernünftige Menschen ist offensichtlich, dass man das nicht kann, wenn solche Methoden zum Einsatz kommen. Darüber hinaus ist noch etwas anderes offensichtlich: Jegliche folgerichtige Bewegung in die vorgegebene Richtung „alle zu erwürgen“ kann lediglich dazu führen, dass im Informationsraum von Belarus eine gähnende Leere entsteht. Eine Leere – kein Vakuum. Ein Vakuum kann es in diesem Bereich nicht geben, denn wenn ihnen das gelingt, was sie wollen, dann wird diese Leere unmittelbar gefüllt werden mit einem Produkt von völlig anderem Niveau und völlig anderer Qualität. In diesem Sinne bedeutet der Tod des unabhängigen Mediensektors einen Schlag nicht nur und gar nicht so sehr gegen den demokratisch denkenden Teil der Gesellschaft als vielmehr gegen Belarus als zivilisiertes Land.
Возможно ли победить в этой борьбе? Здравомыслящим людям очевидно, что такими методами – нет. Больше того, очевидно и другое: последовательное движение в заданном направлении «всех придушить» может привести лишь к тому, что в информационном поле Беларуси появятся зияющие пустоты. Пустота – не вакуум, вакуума в этой среде быть не может, поэтому, если у них получится сделать то, что они хотят, пустоту эту, неминуемо, заполнит продукт совершенно другого уровня и качества. В этом смысле гибель существующего независимого медиасектора будет означать удар не только и не столько по демократически мыслящей части общества, сколько по Беларуси как цивилизованной стране как таковой.
SB. Belarus segodnja/Alexander Schpakowski: „Apotheose der Unverschämtheit und Unmoral“
In seiner Einschätzung für die staatliche Zeitung SB. Belarus segodnja hält der Politologe Alexander Schpakowski das Vorgehen des Staates gegen Tut.by aufgrund mutmaßlicher Steuervergehen für völlig legitim. Zudem wirft er ein, dass Unternehmen, die Teil des Minsker Hi-Tech-Parks sind und damit von Steuervergünstigungen profitieren, sich dem Staat gegenüber loyaler zeigen sollten.
Deutsch
Original
Für all diese IT-Unternehmen sind sehr hohe Zuwendungen vorgesehen. Ganz ehrlich – meiner Ansicht nach ist das eine Apotheose der Unverschämtheit und Amoral. Einerseits als Flaggschiff im Informationskrieg gegen den Staat und gegen den Präsidenten persönlich aufzutreten. Gegen Lukaschenko. Denn sie bekämpfen ihn ja nicht nur als politischen Führer, sondern auch als Menschen, beleidigen und diskreditieren ihn mannigfach. Und andererseits sind sie sich gleichzeitig nicht zu fein, Zuwendungen anzunehmen, die ihnen vom belarussischen Staat gewährt werden, und Erlasse dieses Staatsmannes, des Präsidenten der Republik Belarus zu nutzen. Das ist meiner Ansicht nach die Apotheose der Doppelmoral, der Unverschämtheit, der Amoral, die ich rein menschlich nicht verurteilen würde, doch meine Bewertung fällt negativ aus.
Вот для этих всех IT-компаний предусмотрены очень серьезные льготы. И, на мой взгляд, если честно, это апофеоз наглости и аморальности. С одной стороны, выступать флагманом информационной войны против государства и против Президента лично. Против Лукашенко. Ведь они в том числе борются именно с ним не только как с политическим лидером, но как с человеком, всячески его оскорбляя и дискредитируя. Но при этом не стесняются пользоваться льготами, предоставленными белорусским государством и указами этого государственного деятеля — Президента Республики Беларусь. Вот это, на мой взгляд, апофеоз двойных стандартов, наглости, аморальности, который чисто по-человечески я не берусь осуждать, но моя оценка этого негативная.
Lavon Volski gilt als Ikone der alternativen Musikszene in Belarus. Er ist der Meinung, dass die ständigen Repressionen das Fass zum Überlaufen bringen könnten.
Deutsch
Original
Ich verstehe, dass das Niveau gehalten werden muss. Das Level darf nicht gesenkt werden. Immer wieder muss deutlich gemacht werden, wer hier der Herr im Hause ist. Alle müssen in Angst gehalten werden. Das ist eine einfache Bauernregel: Angst haben – das bedeutet: jemanden zu achten. Nur wächst mit jedem neuen Druck nicht die Angst, sondern der Hass. Und der erfasst mit jedem Tag, mit jedem neuen „kriminellen“ Fall mehr und mehr Leute. Er sammelt sich immer weiter an, er staut sich auf in diesem geschlossenen Raum. Der Zeiger schlägt schon längst aus dem roten Bereich, und sie kippen immer mehr Zündstoff hinein, immer mehr … Je suis Tut.by
Я разумею, што ўзровень трэба трымаць. Не зьніжаць градус. Раз за разам дэманстраваць, хто тут гаспадар. Трымаць усіх у страху. Такі просты мужыцкі разьлік: баяцца — значыць паважаюць. Толькі ад кожнага новага ціску расьце ня боязь, а нянавісьць. І яна з кожным днём, з кожнымі новымі “крымінальнымі” справамі ахапляе ўсё болей і болей людзей. І яна ўсё назапашваецца, усё расьце ў гэтай замкнёнай прасторы. Стрэлка даўно на чырвонай зоне, а яны ўсё падкідаюць паліва, болей і болей... Je suis TUT.by
YouTube/Swetlana Tichanowskaja: „Sie töten die Presse“
Für Swetlana Tichanowskaja, die führende Figur der belarussischen Oppositionsbewegung, ist es völlig klar, welches Ziel die belarussischen Machthaber mit der Abschaltung von Tut.by verfolgen.
Deutsch
Original
Wir alle sind heute Zeugen des vorsätzlichen Mordes an dem Medium und unabhängigen Portal Tut.by. 20 Jahre hat es den Belarussen einwandfrei seriöse Nachrichten vermittelt und war ein Paradebeispiel für die unabhängige Presse. Viele haben befürchtet, dass es so kommen wird. Doch es ist ein völlig anderes Gefühl, wenn man die konsequente Zerstörung der Freiheit mit eigenen Augen sieht. Die Zusammenrottung von Leuten, die in Belarus die Regierungsmacht fest in ihren Händen halten – das ist ein wahres Besatzerregime: Sie töten die Presse, töten Parteien und Gruppierungen, sie töten uns – auf der Straße und in den Gefängnissen.
Сегодня мы все – свидетели умышленного убийства медиа и независимого портала TUT.by. Он 20 лет исправно сообщал беларусам честные новости и был образцом независимой прессы. Многие опасались, что так и произойдет, но это совсем другое чувство, когда смотришь на последовательное уничтожение свободы собственными глазами. Сборище людей, которые удерживают власть в Беларуси, – это и есть настоящий оккупационный режим: они убивают СМИ, убивают партии и сообщества, убивают нас – на улицах и в тюрьмах.
Tribuna/Maxim Beresinski: „Sie können nicht alle zum Schweigen bringen“
Maxim Beresinski, der für das populäre Online-Sportmedium Tribuna die belarussische und ukrainische Sparte verantwortet, fragt sich, wen die Staatsmacht als nächstes ins Visier nehmen könnte.
Deutsch
Original
Wir sind schon daran gewöhnt: Jeden Tag gibt es einen neuen Tiefpunkt. Und trotzdem ist es jedes Mal ein Schock ... Alles läuft genau so, wie es Pastor Niemöller auf dem Höhepunkt im Kampf mit den Nazis in Deutschland gesagt hat: Politiker, Geschäftsleute, Anwälte, Studenten, Pfarrer, kinderreiche Mütter haben sie schon geschasst. Jetzt sind die Journalisten dran. Wenn sie jetzt kommen und dich holen, wird niemand mehr da sein, dem du es erzählen kannst. Wir wissen nicht, was der nächste Trigger sein wird, aber der einzige Weg ist nun die maximale Öffentlichkeit. Alle Stimmen werden sie nicht schaffen abzuwürgen.
Мы уже привыкли к тому, что каждый день – новое дно. Но все равно каждый раз шок. Все идет ровно так, как говорил пастор Нимёллер в разгар борьбы с нацизмом в Германии. Они уже пришли за политиками, бизнесменами, адвокатами, студентами, священниками, многодетными мамами. Теперь они пришли за журналистами. Теперь, когда придут за тобой, некому будет об этом рассказать. Мы не знаем, что станет новым триггером, но максимальная гласность сейчас – единственный путь. Все голоса им не заткнуть.
RuBaltic/Wsewolod Schimow: Faustpfand in Verhandlungen mit dem Westen?
In einem Beitrag für das Kaliningrader Online-Portal RuBaltic hält der belarussische Politologe Wsewolod Schimow beim Vorgehen gegen Tut.by eines für sicher: die weitere Verschlechterung der Beziehungen mit dem Westen.
Deutsch
Original
Die Idylle endete am 9. August 2020, als das „herzliche Einverständnis“ zwischen der Regierung und den Kräften, die Tut.by verkörpern, innerhalb von einer Sekunde zerstört war. Die ganze Frage ist, wie weit die belarussischen Machthaber in diesem Spiel zu gehen bereit sind. Die Zerschlagung von Tut.by bleibt ja im Westen nicht unbemerkt und senkt die Chancen auf eine Normalisierung der Beziehungen weiter. Andererseits ist nicht ganz auszuschließen, dass das Schicksal von Tut.by vielleicht ein Faustpfand wird in den Verhandlungen zwischen den belarussischen Machthabern und dem Westen.
Идиллия закончилась после 9 августа 2020 года, когда «сердечное согласие» между властью и теми силами, которые олицетворяет tut.by, было в момент разрушено. Весь вопрос в том, насколько далеко готова белорусская власть идти в этой игре. Ведь разгром tut.by не останется незамеченным на Западе и еще больше снизит шансы на нормализацию отношений. С другой стороны, нельзя исключать, что судьба tut.by как раз-таки станет элементом торга в переговорах между белорусской властью и Западом.
Facebook/Yahor Lebiadok: Die Förderung der russischen Agenda
Der Militärhistoriker Yahor Lebiadok bringt die Zerschlagung der unabhängigen belarussischen Medien in einen außenpolitischen Zusammenhang. Er glaubt, dass hinter dem Vorgehen gegen Tut.by eine Konzession Lukaschenkos an Wladimir Putin und dessen Politik erkennbar sei.
Deutsch
Original
Was Tut.by angeht, kann man unterschiedlicher Meinung sein. Aber was das Portal ausmacht: Es stellt eine gewisse Barriere zu russischen Inhalten in den Köpfen der Belarussen dar. Ich habe es bereits mehrfach gesagt und wiederhole es hier noch einmal: Während alle auf die Verhandlungen zu Krediten, Öl und Integrations-Roadmaps schauen, gibt Lukaschenko zur Unterstützung Putins (oder unter seinem Druck) viel Belarussisches auf – von der Kultur bis zu dringlichen Themen. Das merken die Menschen angesichts der vielen Nachrichten gar nicht, und es sind Dinge, um die es Lukaschenko aus seiner Perspektive nicht schade ist. Für Lukaschenko bedeutet die Säuberung solcher Medien, die Bewahrung der Regierung vor Kritik – auch im Zusammenhang mit möglichen politischen Kampagnen zu einer neuen Verfassung. Für Putin bedeutet sie die Säuberung des belarussischen Informationsraumes von allem Belarussischen und gleichzeitig die Förderung der russischen Agenda.
К TUT.BY может быть различное отношение, но что свойственно этому порталу — это определенный барьер на пути российского контента в головы беларусов. Говорил ни раз и здесь повторю — пока все смотрят на торг по кредитам, нефти, интеграционным картам Лукашенко за поддержку Путиным (или под давлением) сдает беларуское — от культуры до повестки дня. Это людям мало заметно в объеме новостей, и это то, что Лукашенко не жалко сдать, на его взгляд. Для Лукашенко зачистка такого рода СМИ — это удержание власти от критики, в том числе и в контексте возможных политических кампаний по Конституции (что и для РФ, вероятно, нужно). Для Путина — это зачистка беларуского информационного пространства от всего беларуского с продвижением российской повестки
Der Streit zwischen Belarus und Russland gleiche einem Ehekrach, meint Artyom Shraibman. Nach Lukaschenkos jüngstem Ausbrecher fragt er auf Carnegie.ru: Ist es mit der Romantik nun endgültig vorbei? Eine Analyse aus Minsk.
Ab Donnerstag, 11. Februar, tagt das Gremium in der belarussischen Hauptstadt Minsk. In einem Bystro bringt Ingo Petz Licht in die umstrittene Veranstaltung.
Alexander Lukaschenko signalisiert Dialogbereitschaft – so will er etwa seinen Besuch bei inhaftierten Oppositionellen verstanden wissen. Doch wie sieht dieser Dialog aus? Alexander Morosow mit drei möglichen Szenarien für Belarus.
Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch wagt eine Prognose für die weitere politische Entwicklung in seiner Heimat – und die sieht alles andere als rosig aus.
Lukaschenko steht mit dem Rücken zur Wand und hat nur noch einen Verbündeten – Russland. Doch auch der Kreml steht vor einem Dilemma, denn er hat viel zu verlieren: Kippt die prorussische Stimmung in Belarus, droht weitere Destabilisierung. Artyom Shraibman kommentiert auf Carnegie.ru.
Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2
Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus.
Der Weg zur Macht
Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3
Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“
Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.
Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.
Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.
Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren.
Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht.
Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.
Machthunger und Gewaltenteilung
Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko.
Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.
Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt.
An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9
Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.
Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.
Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt.
Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren.
Gründe für die lange Herrschaft
Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.
Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt.
Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.
Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.
Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD“11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12
Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.
Der Ego-Kult
Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15
Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.
Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.
Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.
Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.
Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus.
Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.
Im Sommer 2020 protestierten die Belarussen für Neuwahlen und für ihre Grundrechte – friedlich, kreativ und äußerst wandlungsfähig. Wir lassen die Vielfalt und Höhepunkte der Protestkultur in diesem visuellen Rückblick Revue passieren.
Die belarussischen Machthaber haben mittlerweile alle Oppositionsparteien verboten. Darunter auch die Belarussische Volksfront (BNF), eine der ältesten Parteien des Landes, die für die Geschichte des Landes eine wichtige Rolle gespielt hat. Das belarussische Medium Zerkalo hat die Geschichte der Bewegung und Partei aufgeschrieben.
Verleiht Alexander Lukaschenko seinem autoritären System immer mehr ein sowjetisches und totalitäres Antlitz? Darauf deutet vor allem die Radikalisierung des Machtapparats seit 2020 hin. Igor Lenkewitsch analysiert die machtstrukturelle Verpuppung.
Die Repressionen in Belarus werden immer wieder mit denen unter Putin in Russland verglichen. Artyom Shraibman erklärt detailliert, mit welchen Mitteln das System Lukaschenko gegen Opposition, Medien und Zivilgesellschaft vorgeht und was der russischen Gesellschaft noch bevorstehen könnte.
Ist der belarussische Protest tot? Hat Alexander Lukaschenko immer noch Angst vor Protesten? Welchen Einfluss hat die neue Diaspora? Waleri Karbalewitsch beleuchtete im August die aktuelle Lage zwei Jahre nach dem Beginn der historischen Proteste in Belarus – seine Analyse ist 2022 einer der meistgelesenen Texte im Belarus-dekoder (Platz 3).
Im Krieg gegen die Ukraine steht der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko an der Seite des russischen Präsidenten Putin. Doch bislang sind keine seiner Truppen beteiligt. Warum hilft er Putin? Was hat er zu gewinnen, was zu verlieren? Und was bedeutet das für seinen eigenen Machterhalt?
Nach 600 Tagen gab es das erste Lebenszeichen von Maria Kolesnikowa. Ihr Vater durfte sie besuchen. Sie war eines der Gesichter der Proteste in Belarus im Jahr 2020, sie wurde verschleppt, festgenommen und schließlich zu elf Jahren Haft verurteilt. Wer ist diese scheinbar unerschrockene Frau, und wie wurde sie zur Oppositionspolitikerin? Zerkalo zeichnet ihren Lebensweg nach.
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