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Atomtests

Mitte November hat Putin die russische Atomdoktrin verschärft, wenige Tage später hat Russland eine Mittelstreckenrakete gegen die ukrainische Großstadt Dnipro eingesetzt. Dies ist der vorläufige Schlusspunkt der nuklearen Eskalation, die Russland seit der Krim-Annexion 2014 vorantreibt. Schon 2016 bemerkte der russische Journalist Andrej Loschak, dass „kaum eine Ausgabe der Nachrichten heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands auskommt.“ Mit der Vollinvasion 2022 hat sich die Gangart nochmals verschärft, auch der Kreml droht seitdem zunehmend mit dem Einsatz des Atomkoffers: Der Westen solle bloß die „roten Linien“ nicht überschreiten. 

Viele dieser Kreml-Linien wurden seitdem aber schon mehrfach überschritten: So hat die ukrainische Armee westliche Waffensysteme gegen Gebiete eingesetzt, die Russland als eigene beansprucht. Konsequenzen blieben aus, was mit dem inflationären Gebrauch von Drohungen zu einer „Immunität“ gegenüber der atomaren Abschreckung geführt hat, so eine Quelle von The Washington Post

Vor diesem Hintergrund gibt es nun auch im Westen zahlreiche ernstzunehmende Stimmen, die vor weiterer Eskalation warnen. Eine atomare Apokalypse halten zwar auch sie für derzeit unwahrscheinlich, der Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen die Ukraine rücke durch die neue Wendung aber näher, so das Szenario. Der russische Journalist Michael Nacke hält davon nichts, auf YouTube argumentiert er Punkt für Punkt dagegen. 

Источник Michael Nacke

Graffiti mit Putin und Atompilz, 06.04.2024, Mitte, Berlin © IMAGO / Steinach

Der Krieg dauert bald drei Jahre, und Russland hat keines seiner proklamierten Ziele erreicht. Dabei waren das nicht wenige Ziele, sie wechselten nur ständig: vom Sturz der Regierung in Kyjiw über die Errichtung eines loyalen Regimes bis hin zur Besetzung der gesamten Oblast Donezk. Russland hat vier ukrainische Oblaste zu seinem Eigentum erklärt: Cherson, Donezk, Luhansk und Saporishshja. Dabei hat es zu keinem Zeitpunkt auch nur eine dieser Regionen komplett kontrolliert. 

Im Verlauf dieses Krieges wurde Wladimir Putin mehr als einmal gedemütigt. Die russische Armee galt einst als eine der stärksten der Welt, auch unter vielen westlichen Beobachtern und renommierten Medien. Aber mit dem Beginn der vollumfänglichen Invasion der Ukraine veränderte sich diese Sicht: Seitdem wurde die Professionalität der russischen Armee immer öfter in Zweifel gezogen. 

Also hat Putin mehrmals zu nuklearen Drohgebärden gegriffen und damit unter anderem die US-Regierung unter Joe Biden unter Druck gesetzt. Putin bediente sich dabei verschiedener Methoden, beispielsweise ließ er Atomwaffen nach Belarus verlagern, und immer wieder behauptete er, ein Atomschlag stünde kurz bevor. Leider ist Biden auf diese Bluffs hereingefallen.  

Zwei Faktoren für die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Schlags 

Ich möchte behaupten, dass die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Angriffs von genau zwei Faktoren abhängt, die eng zusammengehören: den Vorteilen, die Russland sich davon versprechen kann, und den Nachteilen, die es davontragen könnte. Alles andere spielt meiner Ansicht nach keine Rolle. 

Dafür sind Diktaturen ja Diktaturen – sie sind sich selbst die einzige Beschränkung.

Derzeit hört man oft das Argument, Russland hätte seine Nukleardoktrin geändert und behalte sich von nun an das Recht vor, im Rahmen eines Präventivschlags Atomwaffen einzusetzen, wenn sein Territorium von einem Staat angegriffen wird, der mit einer Atommacht zusammenarbeitet. Dabei erlaubte bereits die alte Nukleardoktrin den Einsatz von Atomwaffen, wenn die Existenz des russischen Staates bedroht wurde. Es bleibt also dabei, dass es lediglich darauf ankommt, was man als Bedrohung deklariert.  

Aus formaler Sicht hat sich also nichts geändert. Aber selbst wenn es formale Beschränkungen gäbe, wären sie völlig bedeutungslos. Dafür sind Diktaturen ja Diktaturen – sie sind sich selbst die einzige Beschränkung. Putin wird tun, was er will, unabhängig davon, was und wo etwas geschrieben steht. Es ergibt daher grundsätzlich keinen Sinn, Doktrinen, neue Gesetze oder ähnliches zu analysieren. 

Rationaler Irrer mit Falschinformationen 

Wenn sich aus formaler Sicht nichts geändert hat, so hat es doch wohl Veränderungen bei Handlungen gegeben? Der jüngste Angriff mit einer Interkontinentalrakete auf die Ukraine zeigt doch: „Schaut alle her, was wir können. Wir können eine Rakete abfeuern, die potenziell einen nuklearen Sprengsatz tragen könnte.“ Aber ist das etwa neu? Wussten wir noch nicht, dass Russland Raketen besitzt, die nukleare Sprengsätze tragen können? Russland ist nicht Nordkorea, daran hat niemand gezweifelt. Es ist bloß eine weitere russische Rakete – grausam genug, aber nichts, was uns wirklich einer nuklearen Eskalation näherbringt. 

Damals war die Ratte wirklich in die Ecke getrieben, aber jetzt sieht die Lage doch komplett anders aus!

Warum denke ich, dass der Einsatz von Atomwaffen durch Putin im Moment ausgeschlossen ist? Weil ihm das keinerlei Vorteile bringen würde. An dieser Stelle hört man oft das Argument, Putin sei ein Wahnsinniger, der in die Enge getrieben wurde, und so weiter. Erstens stimmt das nicht; alle möglichen internationalen Medien, politischen Autoritäten und andere Persönlichkeiten schätzen Putins momentane Position besser ein als beispielsweise im Herbst 2022: Es gibt keine neue Mobilisierungswelle, die ukrainischen Truppen stecken in der Verteidigung fest und verlieren sogar Gebiete. Ja, in der Oblast Kursk kommt Russland nicht weiter, aber die Ukraine ebenfalls nicht. 

Insgesamt steht Putin besser da als damals, als seine Soldaten aus der Oblast Charkiw geflohen sind und so viel Technik zurückgelassen haben, dass Russland zahlenmäßig kurz zum zweitgrößten Waffenlieferant der Ukraine aufstieg. Im Herbst 2022 hat sich Putin buchstäblich ein halbes Jahr lang versteckt, er sparte das Thema Krieg aus, sagte Presskonferenzen und den Direkten Draht ab. Damals war die Ratte wirklich in die Ecke getrieben, aber jetzt sieht die Lage doch komplett anders aus! 

Das zweite Argument, er sei wahnsinnig und ein blinder Fanatiker, dem alles zuzutrauen ist, halte ich ebenfalls für einen großen Irrtum. Meines Erachtens handelt Putin durchaus rational. Man wird mir widersprechen, sagen, er zerstöre gerade Russlands Vergangenheit und Zukunft, und es ist wirklich schwer vorstellbar, wie man das alles stoppen und wiederaufbauen soll. Natürlich zerstört er jetzt in diesem Moment auch Russlands Gegenwart, von der Wirtschaft bis hin zum physischen Verlust von etwa 200.000 Menschenleben und 400-500.000 Verwundeten. 

Und trotzdem ist Putin nicht wahnsinnig. Er ist allenfalls größenwahnsinnig. Er lässt sich von völlig anderen Werten leiten. Er hat Komplexe, er will, dass man ihn respektiert und fürchtet. Er will Macht, und er will sie behalten und mehren. Deshalb handelt er aus seiner Position rational: Er wählt den schnellsten Weg von A nach B. Die Sache ist allerdings, dass er wie jeder andere totalitäre Leader ein großes Problem mit den Informationen hat, die ihm zugetragen werden: Putin verfügt nicht über ausreichend objektive Daten, weil er ein System um sich herum aufgebaut hat, in dem jeder, der schlechte Nachrichten bringt, sofort einen Kopf kürzer gemacht wird.  

Genau aus diesem Grund hat er 2022 versucht, mit 180.000 Mann in die Ukraine einzumarschieren, Kyjiw einzunehmen und die Macht im Land an sich zu reißen. Damals haben ihm Medwetschuk und die Agenten des FSB weisgemacht, in der Ukraine stehe alles bereit, die russischen Soldaten würden mit Blumen erwartet und so weiter. Mit dieser Information und seinen Ambitionen ausgestattet, zählte Putin eins und eins zusammen und zog los. Der Westen ist schwach, dachte er sich, und die Ukraine wartet nur darauf, sich uns zu unterwerfen. Also marschieren wir kurz ein und fertig. Aus seiner Sicht war auch das keineswegs irrational. Es war eiskalte Berechnung, die allerdings von falschen Voraussetzungen ausging. 

Vorteile? Nichts als Nachteile! 

Kommen wir also zu den Vor- und Nachteilen eines Atomschlags. Stellen wir uns vor, morgen wirft Putin eine Atombombe über, sagen wir, einem Stützpunkt der ukrainischen Armee ab. Würde das die ukrainische Armee vernichten? Nein. Würde das die Ukraine so sehr schwächen, dass sie kapitulieren würde? Nein. Im Gegenteil: Die Ukrainer würden noch enger gegen den Feind zusammenrücken: Uneinigkeit tritt gerade dann auf, wenn die Bedrohung abzuebben scheint. Wenn sie jedoch ein Ausmaß erreicht, wie es 2022 der Fall war, als russische Truppen buchstäblich vor den Toren Kyjiws standen, wenn die Bedrohung also offensichtlich wird, steht die Ukraine zusammen, genau wie die westliche Welt. Wenn die Bedrohung nicht mehr ganz so akut ist, wenn zum Beispiel lange Zeit nicht mehr geschossen wurde, dann fängt das Gerede an: „Was soll das alles? Ist doch alles in Ordnung, wir leben doch“ und so weiter. Daher wird ein Atomschlag auf einzelne Einheiten nicht das gewünschte Ergebnis bringen. 

Wir müssen aber auch einen Atomangriff auf Städte in Betracht ziehen. Selbst das würde Putin jedoch nicht plötzlich zum Sieg verhelfen. Die Geschichte der Menschheit kennt bisher zwei Beispiele hierfür, nämlich die Bomben auf Nagasaki und Hiroschima. Dennoch sind sich viele Experten einig, dass Japans Kapitulation keine direkte Folge dieser Schläge war. Als die Bomben fielen, war die japanische Armee bereits zerschlagen, und Japan nicht im Stande, den Krieg noch lange fortzuführen. Das kann man von der Ukraine nicht behaupten.  

Ja, die Russen machen Landgewinne in Kurachowe, Pokrowsk, Donezk, Tschassiw Jar. Aber diese Gewinne gehen erstens mit gigantischen Verlusten einher, zweitens hat Russland nicht einmal in den vier Oblasten, die jetzt in die russische Verfassung eingeschrieben sind, eine Großstadt einnehmen können. Im Gegenteil, Russland kontrolliert weniger Großstädte als zu Beginn der großangelegten Invasion. Cherson, die einzige Metropole, die die Russen erobern konnten, haben sie wieder verloren. Es kann also keine Rede davon sein, dass die ukrainische Armee kurz vor dem Zusammenbruch steht. Ein Atomschlag auf ein dichtbesiedeltes Gebiet mit einer gigantischen Zahl von zivilen Opfern löst aus dieser Sicht also weder das Problem, noch bringt es Putin auch nur einem seiner gesetzten Ziele näher. 

Was wäre, wenn? 

Welche Probleme würden sich andererseits für Putin ergeben? Wir dürfen nicht vergessen: Für ihn ist die Unterstützung seiner Verbündeten entscheidend. Wenn das 2020 nicht so sehr ins Gewicht gefallen ist, sieht das jetzt, 2024, ganz anders aus. Wenn russische Medien unken, die Ukraine sei abhängig von westlichen Waffen, wirkt das lächerlich, denn Russland hängt selbst zu 70 Prozent von ausländischer Artilleriemunition ab: 60 Prozent kommen aus Nordkorea, zehn Prozent aus dem Iran. Zudem ist Russland, um seine Raketen zu produzieren, auf westliche Komponenten angewiesen, die es an den Sanktionen vorbei illegal einkauft. Und jetzt lässt Russland auch noch Nordkoreaner für sich kämpfen. Damit ist Putin von seinen Partnern nicht weniger abhängig als die Ukraine von ihren. 

Viele von Putins Verbündeten, nicht zuletzt Handelspartner wie Indien, sind entschieden gegen den Einsatz von Atomwaffen. Und das ist ja auch klar, denn ein Präzedenzfall von welcher Seite auch immer wäre wie ein grünes Licht. Indien bereitet zum Beispiel Pakistan große Probleme. China ist ebenfalls grundsätzlich gegen jeden Einsatz von Atomwaffen, weil es die nukleare Abschreckung an sich außer Kraft setzt und ein Go für die Entwicklung von Atomwaffen und nukleare Aufrüstung bedeuten würde. Kein Land will das. Deshalb tritt China als Russlands Beschwichtiger auf: Als Russland sagte, es sei kurz davor, den Knopf zu drücken, da sagte China „stop“. Indiens Premier Modi sagte sogar ein Treffen ab, als Putin wieder mal öffentlich mit Atomwaffen drohte. Sollte Putin ernst machen, würden sich die allermeisten Partner von Russland abwenden, was wiederum Russland von Einnahmequellen und Produktionsmöglichkeiten abschneiden würde. Dabei ist der Import aus China für Russland ein lebenswichtiger Faktor. In diesem Sinne würde Russland mehr verlieren, als es gewinnen könnte. 

Und dann sind da noch die Atommächte im Westen. Mit einem nuklearen Schlag würde Putin sich selbst zur Hauptzielscheibe machen. Viele westliche Politiker sowie der Großteil der Bevölkerung betrachten den Krieg heute immer noch als einen lokalen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Deshalb hat er für viele nicht oberste Priorität – siehe zum Beispiel Donald Trump. Sollte Putin seine Drohungen allerdings wahrmachen, wäre Russland damit sofort Feind und Bedrohung Nr. 1, denn Putin verfügt über Raketen, die jeden europäischen Staat und jede beliebige Stadt in den USA erreichen können. Wenn die NATO in den Krieg eintritt, würde Russland umgehend am eigenen Leib erfahren, was es wirklich bedeutet zu kämpfen. 

Die Risiken, die der Einsatz von Atomwaffen birgt, sind also ungleich höher als die potenziellen Vorteile. Das beantwortet auch die Frage, warum Putin diesen Schritt noch nicht gegangen ist. 

Stellen Sie sich vor, Sie sind Putin ... 

Zum Abschluss noch ein einfaches Gedankenexperiment. Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind Wladimir Putin. Ja, ich weiß, das tut weh, aber dennoch. Sie haben also einen roten Knopf, und Sie glauben aufrichtig, dass ein Knopfdruck genügt, um den Krieg zu gewinnen. Die Ukraine kapituliert, der Westen stellt sofort seine Unterstützung ein und Sie gehen als Sieger aus dem Ganzen hervor. Achtung, Frage: Warum haben Sie ihn immer noch nicht gedrückt? Es ist doch ein Zauberknopf, der alle Probleme auf einen Schlag lösen könnte? Sie müssten sich nicht mit Mobilisierung unbeliebt machen, die Wirtschaft nicht in den Ruin treiben. Sie müssten keine personellen Engpässe ertragen, weil ein Teil der Bürger, der gerade am meisten in der Wirtschaft gebraucht würde, an der Front oder im Grab ist, und ein anderer großer Teil auf dem Weg dorthin.  

Warum haben Sie den Knopf immer noch nicht gedrückt? Vielleicht, weil Sie nicht an seine magischen Kräfte glauben? Könnte es sein, dass sich Putin all dieser Risiken, die ich beschrieben habe, bewusst ist? Das ist der Punkt: Putin macht bloß einen auf dicke Hose und schafft es damit, dem Westen immer wieder Angst einzujagen. 

Thema Trump 

Und zum Thema Trump: Die Ukraine vor dessen Inauguration mit Atomwaffen anzugreifen, wäre völlig absurd. Trump sagt offen, dass er mit Putin reden will. Und Putin scheint nichts dagegen zu haben, wie verschiedene Quellen nahelegen. Die Situation durch einen Nuklearschlag zu eskalieren, kurz bevor Trump den Krieg beenden oder zumindest einfrieren will, käme einem Komplettausfall gleich. Zumindest würde Trump sich sehr genau überlegen, ob er die Situation nicht doch falsch einschätzt und er Putin nicht lieber mit Gewalt zum Frieden zwingt, als Gespräche mit ihm zu führen. Deshalb glaube ich, die Möglichkeit eines nuklearen Angriffs ist [mit Trumps Wiederwahl – dek] nicht gestiegen, sondern gesunken. Putin weiß, dass bald eine Regierung im Weißen Haus sitzen wird, die mit sich reden lässt, und ein Atomschlag seine Gesprächsposition beträchtlich schwächen würde. 

Die nukleare Holzkeule über Sibirien  

Diese Argumente sind kein Versuch, jemanden zu beruhigen: Wie auch immer Sie die atomare Bedrohung einschätzen, so wird sie für Sie bleiben. Ich bestehe nur darauf, dass sich der Grad der Bedrohung nicht verändert hat. Wenn Sie glauben, die Chance ist gleich Null, dann bleibt sie das auch. Wenn Sie von einer 100-prozentigen Wahrscheinlichkeit ausgegangen sind, dann ist sie immer noch da. Ich sage nur, es ist nichts geschehen, was das Risiko eines Atomkriegs erhöht hätte. Mehr noch – das kann es gar nicht, weil sich das Saldo der Vor- und Nachteile nicht verändert hat.  

Ich denke, es könnte in diesem Krieg noch zu weiteren Versuchen kommen, den nuklearen Holzknüppel zu schwingen, zum Beispiel in Form von Atomtests in Russland selbst. Ich hoffe natürlich nicht, dass Simonjans Forderung, „eine Atombombe auf Sibirien zu schmeißen“, in die Tat umgesetzt wird, wofür auch immer sie Sibirien damit bestrafen wollte. Dass es zu Atomtests kommt, ist meines Erachtens aber nicht unwahrscheinlich, denn allzu viele Mittel stehen Wladimir Putin nicht mehr zur Verfügung, um die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen. 

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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