Eine feindliche Haltung gegenüber Andersdenkenden und Fremden, absolute Loyalität zum Staat und die Bereitschaft, sich von diesem bevormunden zu lassen. Das sind Merkmale des postsowjetischen Menschen, wie sie der renommierte Soziologe Juri Lewada herausgearbeitet hat. Hinter dieser Haltung stünden oft Angst und eine Sehnsucht nach alter Größe, meint Boris Grosowski. Und zeigt auf, wie beides bis heute instrumentalisiert wird.
Es bedarf keines sonderlich scharfen Blicks, um in der Realität, die die Bürger Russlands in den letzten Jahren umgibt, Züge der Sowjetunion zu erkennen. Man könnte denken, es handle sich um eine Spezial-Rekonstruktion der spätsowjetischen 1970er und 1980er Jahre, eigens für jene bestimmt, die diese Zeit nicht selbst erlebt haben. Ein nicht allzu gekonntes Remake von Lebensbedingungen aus einer Zeit, als Ideologie schon keine große Rolle mehr spielte, als eine alternde und überkommene Elite sich an die Macht klammerte und das Land in den Sumpf ihrer Ängste und ihres Dogmatismus, ihres allgegenwärtigen „So geht das nicht!“ zog.
Alle haben Angst, die Elite genauso wie die breite Masse
Die heutigen Gebieter des Lebens fürchten ebenfalls die unentrinnbare Zukunft, versuchen sie zu diskreditieren und möglichst weit hinauszuschieben. Je stärker diese Ängste, desto wahrscheinlicher landen die wenigen Nichteinverstandenen, die sich trauen, ihren Protest in den öffentlichen Raum zu tragen, hinter Gittern.
Für die breite Masse der Unentschlossenen steht ebenfalls Angst bereit, jedoch eine Angst etwas anderer Art: Tausend sitzen ein und Millionen haben Angst, ein Wort zu sagen.
Und für jene, die das Ganze richtig verstanden haben, gibt’s Zuckerbrot: Staatsaufträge, einen Posten am „Futtertrog“, Möglichkeiten, etwas zu klauen, etwas zuzuteilen, jemand anderen ins Gefängnis wandern zu lassen.
Iwan der Schreckliche, Stalin, Breshnew
Warum aber eine Rekonstruktion gerade der sowjetischen Zeit? Warum reproduzieren wir überhaupt Momente unserer Geschichte, die eindeutig nicht zu den besten gehören? Warum geht das sich selbst überlassene System, das freie Hand hat, zügig dazu über, in unrühmlichen Kapiteln der Geschichte zu blättern, bei Iwan dem Schrecklichen, Stalin, Breshnew? Warum nur dieser Eindruck, dass Letztere nicht ins Schattenreich entschwunden, sondern unter uns sind? Und dass sie hervorpreschen werden, wie gewohnt das Steuer in der Hand, sollte die Gesellschaft nicht auf der Hut davor sein?
Schließlich inszeniert Deutschland auch keine Remakes nach Motiven von Hitler und Bismarck. Und in Good Old England geht auch nicht der Geist des Schurken Heinrich VIII. um. Die französische Führung faselt nicht von den Eroberungen Napoleons und Berlusconi nicht von den Heldentaten Neros. Bei uns aber ist jeder ein kleiner Zar. Sobald sich die Möglichkeit ergibt, besteht die Gefahr, dass er sich dreimal um die eigene Achse dreht und in einen blutigen Tyrannen verwandelt. Als hätte er sein Leben lang davon geträumt, am Livländischen Krieg oder an der Eroberung der osmanischen Festung Otschakow teilzunehmen. Was bitteschön ist das für eine „Liebe zur Geschichte“? Warum gängeln die europäischen Halunken von einst die heute Lebenden nicht mehr, aber unsere legen es immer wieder darauf an?
Falls man nicht an die Unveränderlichkeit der Kultur glaubt, an Pfadabhängigkeit und Sentenzen wie „Menschen/Länder ändern sich nicht“ – ich bin überzeugt, dass sie sich ändern! –, dann ist all der Teufelsspuk, dieser Reigen der Despoten und die Hartnäckigkeit schlechter Angewohnheiten einzig und allein verführerisches Blendwerk, Erscheinungen, dem Nebel entstiegen, wie Petersburger Trugbilder aus der Zarenzeit. Nur, dass in der modernen Zeit mit selbstfahrenden Autos und neuentwickelten Genomen kein Platz ist für Hexenverbrennung und Leibeigenschaft.
Doch entspringen diese Bilder, diese Trugbilder, nicht irgendeinem Baskerville‘schen Nebel, sondern menschlichem Willen. Eine Tradition lässt sich nicht reproduzieren, wird nicht auf natürliche Art „vererbt“, sagte Merab Marmardaschwili 1990 in seinem Vortrag Wien im anbrechenden 20. Jahrhundert: „Wenn Sie meinen, dass man eine Tradition auf natürliche Weise fortführen kann, als ob sie einfach das Leben selbst sei, dann irren Sie sich. Man könnte ja denken, dass Tradition wie Atem ist: Ich atme, also lebe ich; ich beachte etwas, also setzt es sich fort, und die Tradition lebt weiter. Dabei führt einem doch die menschliche Erfahrung drastisch vor Augen, dass dem nicht so ist, dass das Gewebe, das über dem Bodenlosen gewoben wird, ein anderes ist.“
Niemanden interessiert, wie exakt die Rekonstruktion ist
Das Wesen traditioneller Kultur, die auf heiligen Texten beruht, besteht in ihrer Weitergabe, ihrer Vermittlung, in der Reproduktion von Gedanken und Gewohnheiten, einer Lebensweise und eines Wertesystems. Untersuchungen darüber, auf welche Weise Traditionen weitergegeben werden, zeigen, dass das nicht automatisch geschieht. Hierzu braucht es ein langes Zusammenleben von Lehrer und Schüler, unermessliche Anstrengung und Übung, damit die geistige Persönlichkeit des Lehrers im Schüler ihren Wiederklang findet, und damit eine Tradition entsteht, die einem Begründer folgt.
Was lässt sich dann überhaupt über eine Situation sagen, in der die Tradition unterbrochen wurde, in der man zur „reinen Quelle“ nur gelangen kann, indem man die anscheinend kriminellen, wilden 1990er Jahre überspringt. Den Schüler trennt hier vom Lehrer ein derartiger Abgrund, dass kolossale Verzerrungen unausweichlich sind. Die Adepten des sozialistischen Paradieses verlieren dadurch viele Aspekte jener Tradition, die sie nun teilweise reproduzieren, vollkommen aus dem Blick. Sogar eine ihrer zentralen Komponenten wird ignoriert: Das Thema Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Wenn Traditionen auf der „Materialbasis“ einer viele Millionen zählenden Gesellschaft reproduziert werden, interessiert niemanden, wie exakt diese Rekonstruktion ist. Die Aufgabe, vor der die „Erfinder dieser Tradition“ stehen, ist ja auch eine ganz andere.
Traditionen werden nicht nur weitergegeben, sondern auch erfunden
Traditionen werden nicht nur weitergegeben, sondern auch erfunden, wie der Historiker Eric Hobsbawm zeigt: Selbst das Zeremoniell, mit dem sich die britische Monarchie in ihren öffentlichen Auftritten umgibt, hat sich erst im 19. und 20. Jahrhundert endgültig herausgebildet. […]
Erfundene Traditionen sind nach Hobsbawm rituelle und symbolische Praktiken, die durch offene oder unausgesprochene Vorschriften geregelt werden. Sie werden eingeführt, um im Bewusstsein Glauben, Wertesysteme und Verhaltensnormen zu verankern. Die Sozialisation werde universell, wenn jedem Bürger (Angehörigen einer Nation, Untertanen) die gleichen Werte eingeimpft werden. Oft sind diese nicht klar umrissen, nicht besonders verbindlich, oder einfach schwammig: „Patriotismus“, „Treue“, „Pflicht“, „Beachtung der Spielregeln“.
Zur Legitimierung werden Traditionen oft mit einer passenden Phase der Geschichte begründet, doch sei die oft fiktiv, schreibt Hobsbawm: „Diese Traditionen sind eine Reaktion auf eine neue Situation in Form eines Verweises auf eine alte Situation.“
Putins UdSSR: eine konstruierte Tradition
Bei ihrer Kritik an sowjetischen Anwandlungen, die gegenwärtig zu beobachten sind, weisen Analytiker wie Peter Pomerantsev zurecht auf die riesigen Unterschiede hin, die zwischen dem Regime damals und heute bestehen. Allerdings erhebt Putins UdSSR auch gar nicht den Anspruch auf Authentizität. Hier handelt es sich um eine rundweg erfundene, konstruierte Tradition. Wozu die Regierung in den 2000er und 2010er Jahren eine solche Tradition brauchte, haben meines Erachtens die Arbeiten von Juri Lewada, Boris Dubin, Lew Gudkow, Alexej Lewinson und Natalja Sorkaja ausführlich aufgezeigt.
In den 1990er Jahren hat der (post-)sowjetische Mensch keineswegs abtreten wollen. Die Gesellschaft Russlands spaltete sich gewissermaßen in zwei Teile: Die einen wurden zu selbsternannten Unternehmern. Sie rotierten, versuchten zu überleben und wechselten Berufe und Städte, während die anderen warteten, bis man ihnen half.
Zu Beginn der 2000er Jahre wurde der Regierung bewusst, dass der erste Teil lästig ist: Das waren die, die „ständig irgendwas wollten“. Der andere Teil hingegen war sehr bequem für das Regime. Er verlangt nicht viel und ist bereit, eine ewiggültige Carte Blanche zu erteilen. Ohne lang zu überlegen, entwickelte die Regierung eine absolut rationale und bislang erfolgreiche Strategie: Der postsowjetische Teil der Bevölkerung – treue Helfer und Stützen des Regimes – sollte mit allen Mitteln umsorgt, verwöhnt, behütet und gefüttert werden, während allzu Selbständige ein wenig zur Raison zu bringen waren.
Der postsowjetische Mensch
Der postsowjetische Mensch verfügt über einige für das autoritäre Regime überaus nützliche (man könnte sogar sagen: nährende) Eigenschaften. Da wäre zum einen die einmalige psychische und moralische Anpassungsfähigkeit an totalitäre Regime, die Bereitschaft, mit ihnen zu einer Symbiose zu verschmelzen, wie Gudkow, Dubin und Sorkaja in einer ihrer Arbeiten hervorheben.
Außerdem sind da die von Lewada identifizierten Merkmale des postsowjetischen Menschen zu nennen: Selbstisolierung (als feindliche Haltung gegenüber Andersdenkenden, als Misstrauen gegenüber dem „Komplizierten“, „Fremden“ und „Anderen“), Bereitschaft zu staatlicher Bevormundung, ein imperiales Syndrom und die Bereitschaft, sich im sozialen System aufzulösen.
Drittens ist dieser Persönlichkeitstyp grundsätzlich entindividualisiert, ihm widerstrebt alles Elitäre und Eigene; er ist „transparent“ (und somit kontrollierbar), primitiv in seinen Ansprüchen und primitiven Steuerungsinstrumenten Folge leistend.
Und viertens werden in der Vorstellungswelt eines solchen Menschen die wichtigsten öffentlichen Güter – von Gesundheit und Bildung bis hin zu Wissenschaft und Kunst – vom Staat bereitgestellt. Der Staat wird dabei als autark, von der Gesellschaft unabhängig gedacht. Der postsowjetische Mensch orientiert sich an den gewohnten staatlichen Formen der Gratifikation und der sozialen Kontrolle. Der Staat seinerseits übernimmt mit Freuden eine erzieherische, fürsorgliche und paternalistische Rolle – je größer die Nachfrage nach diesen Funktionen, desto mehr Ressourcen gibt es für die Bürokraten umzuverteilen.
Selbstbeschränkung und Loyalität
Schließlich ist der Sowjetmensch Teil einer militarisierten, geschlossenen, repressiven Gesellschaft. Seine Integration im Staat gründet auf Selbstbeschränkung und Loyalität und einem Zusammenstehen gegenüber äußeren und inneren Feinden, konstatieren Dubin, Gudkow und Sorkaja. Alles, was der Staat verlangt, versteht der Sowjetmensch bereitwillig als Schuldigkeit, als seine patriotische Pflicht. Im Gegenzug hat der Staat für die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu sorgen. Somit könnte eine anhaltende soziale und wirtschaftliche Depression zu einer Erosion der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft führen, falls das fehlende Brot nicht durch eine Unzahl an Spielen kompensiert wird.
Schmerzvolle Sehnsucht nach der ehemaligen Größe
Zur Jahrhundertwende hatte das Regime auf geniale Weise die schmerzvolle Sehnsucht der letzten sowjetischen und ersten postsowjetischen Generationen erhascht und aufgegriffen: nach der ehemaligen Größe, und auch die Bereitschaft zur Idealisierung der jüngeren Vergangenheit, den moralischen Relativismus und andere leicht auszunutzende Wesensmerkmale.
In den darauf folgenden 15 Jahren haben wir gesehen, wie viel durch zielgerichtete Wirtschaftspolitik und Propaganda erreicht werden kann. Ziel der Wirtschaftspolitik war es, die großen, mittleren und kleinen Unternehmen vom Staat abhängig zu machen und private Geldquellen aus der Einkommensgrundlage der städtischen Mittelschicht zu verdrängen. Die Propaganda diskreditierte erfolgreich die Versuche der 1990er Jahre, in Russland Demokratie und Marktwirtschaft aufzubauen, sowie analoge Versuche in den 2000er und 2010er Jahren von Russlands Nachbarn. Europa wurde als degenerierte, amöbenhafte Gesellschaft dargestellt und die USA als gefährlicher Feind, der sich allerdings ein wenig vor Russland fürchtet.
Durch den Fernseher zusammengehalten
Diese Propaganda war deshalb so erfolgreich, weil die Leute schon vor der massiven Bearbeitung ihres Bewusstseins über das Fernsehen miteinander verbunden waren, wie Boris Dubin in seinem Artikel Massenkommunikation und kollektive Identität zeigt: Verbunden durch die „symbolische Teilhabe an einer symbolisch präsentierten und aus dem Abseits wahrgenommenen gemeinsamen Welt – ohne Feedback von ihr und ohne praktisches Handeln zur Schaffung und Aufrechterhaltung dieser gemeinsamen Welt“.
In der zweiten Hälfte der 2000er Jahre sahen sich die Bürger Russlands als „ein Fernseh-Sozium, wurden durch den Fernseher als Sozium zusammengehalten“; sie waren eine „Zuschauer-Gesellschaft“. Eine solche Gesellschaft ist leicht zu lenken.
Das sowjetische Remake gerät öfters zur Parodie
Natürlich zeugt das entstandene sowjetische Remake von schlechtem Geschmack und gerät des Öfteren zur Parodie. Prüft man per Gedankenspiel seine Authentizität, ist das Ergebnis vernichtend: Stellen wir uns nur einmal vor, was der von Putin schleichend rehabilitierte Stalin mit Putin angestellt hätte. Auch anderen sowjetischen Führern hätte das Remake wohl kaum gefallen. Zu einer erfundenen Tradition braucht es aber auch nicht viel. Es reicht vollkommen, dass das Regime fast wie im Reagenzglas einen selbstlosen Adepten herangezogen hat, einen Menschen, der nichts anderes braucht. Das ist natürlich eine Vereinfachung. Herangezogen hat ihn das Regime nicht. Es hat vielmehr durch Anreize und Restriktionen alle Voraussetzungen geschaffen, damit im öffentlichen Raum der postsowjetische Mensch herrscht und die anderen sich wie „Abweichler“ fühlen. Solange es von diesen Abweichlern nur wenige gibt, wird die Übertragung konstruierter Tradition erfolgreich weitergehen.