Aldona Wolynskaja ist ihr ganzes Leben lang davongelaufen, hat Dokumente zerrissen, Namen und Nachnamen geändert. Aber die Vergangenheit hat sie immer wieder eingeholt. Sie war im Dritten Reich eine zivile Zwangsarbeiterin aus der Sowjetunion. Anastasia Platonowa hat Aldonas Geschichte aufgeschrieben – die mit dem Kriegsende noch lange nicht vorbei war.
Fotos © Archiv der Menschenrechtsoganisation Memorial
Als das Auto in Brest ankam, überreichte man Aldona einen Umschlag mit ihren Papieren. Sie stieg aus dem Studebaker, nahm ein Blatt aus dem Umschlag, sah die Aufschrift „Waisenheim Odessa“ und zerriss es in kleine Schnipsel. Dann zog sie das nächste Dokument hervor, und noch eins. Aldona machte das nicht zum ersten Mal: Sie wollte verheimlichen, dass ihre Eltern verhaftet worden waren, der Vater tot und die Mutter im Lager, und dass man sie selbst, eine junge Frau von 20 Jahren, vor fünf Jahren nach Deutschland verschleppt hatte. Sie saß auf dem Bordstein der Nachkriegsstraße und riss das Papier in immer kleinere Schnipsel, damit niemand mehr etwas lesen konnte. Damit niemand etwas erfuhr.
Herbst 1942: Nowoukrainka – Kirowograd [Ukraine]
Als man sie in die Waggons lud, war rundum lautes Geheul. Die Jugendlichen aus dem Waisenhaus, die man nach Deutschland brachte, wurden von den „Kleinen“ verabschiedet – von denen, die man nicht mitnahm, weil sie als Arbeitskraft noch nicht zu gebrauchen waren. Noch nicht.
Aldona hatte so gut wie nichts an. Ihre Garderobe bestand aus einem Sommerkleid aus grober Baumwolle. Es war aus dem Bühnenvorhang im Waisenheim genäht, und einem BH aus zwei zusammengenähten Pionierhalstüchern.
In Kirowograd kletterten sie und ein paar andere Mädchen aus dem Waggon und liefen über die Gleise. Sie wollten eigentlich wegrennen, aber wo sollten sie schon hin – fast die ganze Ukraine war seit Herbst 1941 in deutscher Hand. Die Mädchen überlegten kurz und gingen wieder zurück zum Zug, der sie nach Deutschland brachte.
Aldona wusste, dass sie von Deutschland nichts Gutes zu erwarten hatte: Im Waisenhaus kamen Briefe von Kindern an, die man schon früher geholt hatte. Sie benutzten codierte Ausdrücke, um zu sagen: In Deutschland geht es ihnen schlecht.
Aldona wurde nach Deutschland verschleppt, als sie gerade 16 Jahre alt war. Mit ihr fuhren ihre Freundinnen Elja und Aina und andere Jugendliche aus dem Waisenhaus in Nowoukrainka.
Frühjahr 1938: Moskau
Als Aldona zwölf Jahre alt war, zog ihre Mutter ein schwarzes Kleid an und verließ das Haus. Drei Tage lang war sie schon weg. Aldona ging zur Schule, bezahlte die Miete, ging nach der Schule draußen auf dem Sretenski-Boulevard Seilspringen.
Da rief die Nachbarin nach ihr, und als Aldona in ihr Zimmer gerannt kam, waren dort Unbekannte. „Pack deine Sachen, du fährst zu deiner Großmutter. Hast du eine Großmutter?“ Aldona sagte ja. Aber im Stillen fragte sie sich: Wie soll ich zu ihr fahren, wenn ich gar nicht genau weiß, wo sie wohnt? Sie durfte ein paar Kindersachen und zwei Bücher mitnehmen. Aldona suchte sich Puschkin und Tschechow aus. Mit ihnen stieg sie in ein großes schwarzes Auto.
Man brachte sie in ein Durchgangsheim für Kinder. Die anderen Mädchen erklärten Aldona, dass sie alle Kinder von Verhafteten seien. Aldona wurde fotografiert, man nahm ihre Fingerabdrücke und zeigte ihr ihren Schlafplatz. Nach ihrer Großmutter fragte niemand mehr.
Das Danilow Durchgangsheim war 1928 eröffnet worden. Anfang der 1930er Jahre landeten fünfzig Prozent der Kinder dort, wenn sie aus einem Waisenhaus weggelaufen waren. Ab Mitte der 1930er Jahre kamen dann Kinder, deren Eltern, genau wie Aldonas Eltern, verhaftet worden waren. Diese Kinder galten als „sozial gefährlich“, sie wurden getrennt von den obdachlosen Kindern und minderjährigen Straftätern untergebracht. Die Administration ermunterte die anderen Heimkinder die „politischen“ zu schikanieren: Bei Ausflügen wurden sie mit Steinen beworfen und beleidigt. Wenn ein Kind neu im Heim ankam, änderte man unter Umständen absichtlich den Nachnamen, um die Suche zu erschweren, nahm seine Fingerabdrücke und machte Fotos. Kinder, die miteinander verwandt waren, wurden bewusst getrennt und in verschiedene Kinderheime geschickt.
Aldonas Vater, Baltrus Matusjawitschjus, war Kommunist und Untergrundkämpfer in Litauen gewesen. Als er in die Sowjetunion zurückkehrte, änderte er seinen Namen in Wladimir Wolynski und arbeitete im Kreiskomitee der Stadt Istra. Im Sommer 1937 wurde er verhaftet und wegen Vorbereitung eines Attentats auf Stalin angeklagt. Im April 1938 kam die Vorladung für Aldonas Mutter, Nona Lichodijewskaja. Sie hielt sich bereit: Sie war sich sicher, dass sie, eine ehrliche Frau, nichts zu befürchten habe. Außerdem war sie gerade erst wieder in die Partei aufgenommen worden, sie dachte, es würde sich bald alles aufklären, die Gerechtigkeit siegen. Nona wusste nicht, dass ihr Mann, Aldonas Vater, bereits vor drei Monaten erschossen worden war und jetzt in einem Graben in Kommunarka bei Moskau lag. Als sie die Vorladung erhielt, verließ sie ruhigen Gewissens das Zimmer auf dem Sretenski-Boulevard.
Aus dem Durchgangsheim brachte man Aldona in einem Schwarzen Raben fort; es hieß, es ginge ins Sommerlager ans Meer. Im Vorbeifahren sah sie den Park Kultury und ein Haus, in dem Freunde der Familie wohnten und in dem Aldona mit ihrer Mutter oft zu Besuch gewesen war. Der Schwarze Rabe fuhr immer weiter.
Den Kindern erklärte man, wenn sie jemand fragt, sollten sie antworten: Wir sind Einser-Schüler und fahren ins Artek. Später im Zug saß neben Aldona ein Mädchen, dessen Eltern ebenfalls verhaftet worden waren. So lernte sie ihre Freundin Elja kennen, und dann auch Aina. Aina fiel sofort auf: Sie war mit ihren Eltern gerade aus England zurückgekehrt, war grell gekleidet und trug eine kleine Uhr ums Handgelenk. Solche Uhren hatte in der Sowjetunion niemand.
Herbst 1944: Guben, Deutschland
Eines Abends kam Aina zusammen mit einer Freundin, und sie riefen Aldona ans Fenster. Die wohnte weit oben im dritten Stock, die Hausherrin hatte Aldona ein Zimmer unterm Dach gegeben. Aldona ging nach unten zu den Mädchen.
„Wir rennen weg.“
„Und was ist mit mir?“
„Na los, pack deine Sachen.“
Aldona rannte hoch. Ihre deutsche Arbeitgeberin behandelte sie nicht schlecht, hatte Aldona sogar einmal Lohn gezahlt, ließ sie manchmal am gemeinsamen Tisch sitzen und schenkte ihr eines Tages ein von Motten zerfressenes Kleid. Dafür putzte Aldona das Haus und den Laden und wenn eine Lieferung kam, schleppte sie 50-Kilo-Säcke. „Es ist das 20. Jahrhundert und ich bin eine Sklavin“, klagte Aldona Aina ihr Leid. Ob sie weglaufen soll, musste sie nicht lange überlegen.
Aina hatte weniger Glück gehabt: Sie wurde in ein Krankenhaus eingeteilt, in eine Baracke für Ausländer, und das Mädchen brach schier zusammen vor Arbeit. Eine Freundin hatte Aina dann zur Flucht angestiftet, ebenfalls eine Ostowka aus dem Waisenhaus: Vor lauter Wut hatte sie ihre Arbeitgeberin, eine reiche Deutsche, mit einem nassen Lappen geschlagen. Die Mädchen hatten sich Mut angetrunken und waren mit der halbleeren Weinflasche zu Aldona gerannt: sich verabschieden.
Zu dritt fuhren sie schließlich nach Berlin, wuschen sich in einer Bahnhofstoilette, setzten sich auf den Bahnsteig und machten sich daran, ihre Papiere zu vernichten: zerrissen den deutschen Ausweis [dt. im Orig. – dek], rissen alles in kleine Schnipsel, damit die Deutschen nicht merkten, dass drei Ostowkas vor ihren Herrinnen davongelaufen waren, kauften Fahrscheine nach Polen, um nach Hause zu fahren. Aber sie wurden erwischt: An der Grenze wurden alle kontrolliert; die Mädchen stiegen aus, ließen die Kontrolleure vorbei und wollten gerade wieder auf den abfahrenden Zug aufspringen, als ein Polizist sie bemerkte. Die Mädchen wurden von der Gestapo verhört, aber hatten Glück – sie kamen in ein Durchgangslager. Aldona erinnert sich, dass der Lagerleiter ein netter Mann war:
„Na Mädels, wollt ihr arbeiten?“
„Ja!“
„Wo wollt ihr denn hin?“
Die immer hungrigen ehemaligen Heimkinder fragten sofort nach der Küche. Der Leiter sagte, es gebe zwar eine, aber da wolle niemand hin – zu gefährlich.
„Warum denn gefährlich?“
„Das ist ein Flugplatz, der wird bombardiert.“
„Das ist uns egal, Hauptsache es gibt etwas zu essen.“
Sommer 1947: Magdeburg, Deutschland, sowjetische Besatzungszone
Bevor sie nach dem Krieg nach Hause zurückkehren durften, mussten Ostarbeiter durch Filtrationslager des NKWD, wo sie verhört wurden, manchmal auch unter Folter durch Schlafentzug. Aldona blieb in Deutschland und arbeitete in der Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone – ein recht angesehener und vertrauensvoller Posten. Trotzdem wusste sie: Irgendwann wird man sie holen kommen.
Als man sie ins Gefängnis brachte, war Aldona nicht überrascht. Ihre Kolleginnen in der Verwaltung hatten sie gewarnt, dass mehrere Anfragen vorlagen: Die Führung wollte herausfinden, ob die junge Dolmetscherin etwas zu verbergen hatte. Das hatte sie – beim ersten Mal konnte sie sich herauswinden, aber dann kam trotzdem alles heraus. Sie wurde von zwei Männern abgeholt, die sie von der gemeinsamen Arbeit kannte: Der Ermittler Senka Slutschischkin und Major Sergej Sikejew.
„Der Oberst hat gesagt, wir sollen dich verhaften.“
„Na, dann los.“
Im Gefängnis war Aldona nicht zum ersten Mal: Zuerst 1944 im Kölner Gestapo-Gefängnis, als die drei flüchtigen Ostowki-Mädchen von der Patrouille gefasst worden waren. Aus dem deutschen Lager kam die junge Frau in ein sowjetisches Filtrationslager. Dort erdachten sie und ihre Freundin Elja ihre Geschichte neu, änderten ihren Heimatort und die Nachnamen, aus Elja wurde Irina. Das Lager verließ Aldona als Mitarbeiterin der sowjetischen Militärverwaltung – die Sicherheitsdienste brauchten Leute, die Deutsch sprachen.
In Magdeburg blieb sie mehrere Monate – dort wusste man nicht, was man mit der Dolmetscherin mit dem Makel im Stammbaum machen sollte.
1945: Magdeburg, Deutschland, sowjetische Besatzungszone
In der sowjetischen Militärverwaltung wurde Aldona Dolmetscherin: Sie war bei Durchsuchungen und Verhören dabei, übersetzte die Aussagen angeworbener Deutscher. Ihr war klar, dass eine Mitarbeiterin, deren Eltern beide verhaftet worden waren, jederzeit auf dem Platz des Angeklagten landen konnte.
Ihre Vorgesetzten besprachen den Plan für die Festnahmen oft in ihrer Anwesenheit.
„Wie viele Palki hast du schon?“
„Mir fehlen noch drei.“
„Dann lass uns mal sehen, wen wir noch haben.“
Aldona las die Liste vor: Mann, 65 Jahre alt, Angina Pectoris, dazu ein Haufen anderer Krankheiten.
„Gut, der Nächste.“
Der Nächste ist auf Dienstreise, bei dem anderen waren sie schon, wieder der Nächste ist nicht zu Hause. Dann also doch der Alte mit Angina Pectoris.
Aldona verheimlichte ihre Vergangenheit, und eine Zeitlang ging das gut: Die Papiere aus dem Waisenhaus in Odessa waren bei einem Brand vernichtet worden. Aber sie flog trotzdem auf – irgendwann stellte jemand die richtige Anfrage, und die Antwort mit ihrem echten Namen und dem kompletten Lebenslauf, einschließlich der „unzuverlässigen“ Eltern, traf per Luftpost in Magdeburg ein. Aldona kam in dasselbe Gefängnis, das sie von den Verhören her kannte. Dort blieb sie vier Monate, bevor man sie einfach wieder laufen ließ: Man setzte sie in ein Auto, brachte sie nach Brest und überreichte ihr den Umschlag mit Papieren.
Warum war es so gekommen? Aldona wusste es nicht. Aber sie setzte sich hin und fing aus Gewohnheit an, die Papiere zu vernichten. Blatt für Blatt, immer kleinere Schnipel, damit man nichts entziffern konnte, rekonstruieren, einen Faden spinnen zu ihren verhafteten Eltern, dem Durchgangsheim, dem Waisenhaus in Odessa, der Hausherrin in Guben, nach Köln, zur Militärverwaltung in Magdeburg …
***
Um alle Spuren zu verwischen, heiratete Aldona und zog mit ihrem Mann, der beim Militär war, auf die Halbinsel Sachalin. Sie ahnte, dass sein Vater ebenfalls erschossen worden war, aber sie haben nie darüber geredet. Das Unausgesprochene hatte immer zwischen ihnen gestanden wie eine Wand, und schließlich trennten sie sich.
Fast ihr ganzes Leben lang hielt Aldona ihre Vergangenheit geheim, ihre Herkunft, ihre Familie, änderte ihre Namen, vernichtete Papiere. Aber 1990 tauchten plötzlich in den Zeitungen Artikel auf, die auch sie persönlich betrafen. In der Prawda entdeckte sie eine Adresse der Stadt Köln, die nach ehemaligen Ostarbeitern und Kriegsgefangenen suchte, und entschloss sich, dort hinzuschreiben. Als Antwort bekam sie Hin- und Rückflugtickets samt einer Einladung des Bürgermeisters von Köln. 1990 lief Aldona durch die vertrauten Straßen, erkannte sie wieder und auch wieder nicht – und erhielt ein Dokument, das sie als Opfer des Nationalsozialismus anerkannte. Damit kehrte sie nach Moskau zurück und ihr wurde klar: Sie musste keine Papiere mehr zerreißen. Und sie durfte über alles reden.