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Blokadniki

Blokadniki ist eine Bezeichnung für die Opfer und die Überlebenden der Leningrader Blockade. Während der Belagerung der Stadt vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944 durch die deutsche Wehrmacht kamen über eine Million Leningrader ums Leben. Die meisten Menschen verhungerten oder erfroren, viele starben im Bomben- und Artilleriebeschuss. Das persönliche Schicksal der Blokadniki wurde lange vernachlässigt: Unmittelbar nach dem Krieg durfte über die Blockade offiziell nicht gesprochen werden, ab den 1960er Jahren wurde sie in der offiziellen Geschichtspolitik zum Symbol nationalen Heldentums und ziviler Standhaftigkeit erklärt. Heutige Blokadniki-Verbände halten größtenteils an diesem Status fest.

Die Blockade Leningrads ist eines der größten Kriegsverbrechen des 2. Weltkriegs und wird als „größte demographische Katastrophe“ definiert, „die eine Stadt in der Geschichte der Menschheit jemals erfahren musste“.1 Die Deutschen nahmen diese Katastrophe nicht nur in Kauf, sondern zielten auf eine systematische Aushungerung und totale Vernichtung Leningrads ab. Die sowjetische Regierung war weder auf den Angriff der Deutschen noch auf die Belagerung vorbereitet, was die katastrophale Versorgungslage in der Stadt verstärkte.2

Überleben in der belagerten Stadt

Die rund drei Millionen Einwohner der Stadt waren nach Schließung des Belagerungsrings von sämtlichen Versorgungs- und Fluchtwegen abgeschnitten. In den Monaten der größten Lebensmittelknappheit bereiteten die Menschen Mahlzeiten aus Tapetenkleister, Schmierfett oder ausgekochten Lederwaren zu, in ihrer Not aßen sie auch Katzen oder Ratten, es kam zu Fällen von Kannibalismus. In dieser Extremsituation gingen die stalinistischen Repressionen weiter.

Über diese katastrophale Lage und das Leiden der Bevölkerung in der belagerten Stadt existiert eine Fülle an Literatur in Form von Zeugenberichten, Tagebüchern, Erinnerungen, Gedichten oder Prosatexten.3 Zu zentralen Gedächtnismotiven der Erfahrungsgeneration der Blokadniki wurden das 125-Gramm Stück Brot Tagesration (als Symbol für das Hungern), der kleine Hausofen (als Symbol für Kälte und Dunkelheit), die Kinderschlitten (als Symbol für mühsame Transporte und den Tod von Familienangehörigen), vereiste Menschenbündel auf der Straße (als Bild des Massensterbens) und das überall in der Stadt hörbare Tacken des Metronoms (als Symbol für die permanente Gefahr durch Luftangriffe), welches über die in der ganzen Stadt installierten Radiolautsprecher längere Programmpausen anzeigte. Vielen Hörern war es das einzige Lebenszeichen in der stagnierten Situation.4

Historische Aufarbeitung

Allerdings dominierten in der öffentlichen Thematisierung der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre Muster der offiziellen Kriegspropaganda mit Betonung auf Aspekte des Sieges und des Heroismus. Darstellungen des Leidens wurden entweder ausgeklammert oder beschränkten sich auf die Beschreibungen physischer Versehrtheit. Die psychischen Traumatisierungen der Blokadniki wurden nur in privaten Dokumenten und da häufig unter Selbstzensur ausformuliert und spielten im offiziellen Diskurs keine Rolle. Meilensteine in der alternativen literarischen Bearbeitung des Themas sind das Blockadebuch, eine von Ales Adamowitsch und Daniil Granin Ende der 1970er Jahre herausgegebene und collagierte Sammlung von Zeitzeugengesprächen jenseits des Heldenkultur und die dokumentarisch-fiktionalen Schriften Lidija Ginzburgs, die das moralische Dilemma des „Blockademenschen“ und beklemmend-analytische Beschreibungen der Extremerfahrung des Hungers thematisieren.5

Mit Öffnung der Archive in den 1990ern sind viele weitere persönliche und militärische Zeugnisse aufgetaucht, die den Blick auf die Blockade verschieben und in jüngster Zeit verstärkt von russischen Soziologien, Anthropologen, Psychoanalytikern und Kulturwissenschaftlern aufgearbeitet werden.

Die Begriffe „Blokadniki“ sowie „Blokadnik“ (mask.) „Blokadniza“ (femin.) selbst waren in ihrer offiziellen Verwendung lange Zeit den Kriegsveteranen vorenthalten, nur jenen Personen also, die an der Leningrader Front gekämpft hatten. Die zunächst umgangssprachliche Verwendung der Begriffe wurde im Laufe der Jahre zur festen und auch rechtlich verankerten Bezeichnung für alle Personen, die während der Blockade in der Stadt waren.6 Seitdem auch die Blokadniki offiziell zu den Kriegsveteranen gezählt werden, haben sie Anspruch auf Zahlung sozialer Leistungen für Kriegsteilnehmer. Die Überlebenden der Blockade kämpfen allerdings bis heute um gesellschaftliche Anerkennung ihrer Traumata.

Bis heute sind die Blokadniki-Verbände wichtige Erinnerungsakteure im öffentlichen Blockade-Erinnerungsdiskurs. Für die Erfahrungsgeneration der Blokadniki stellen sie eine zentrale Institution der Selbstverständigung und des Austauschs über verbindende Gedächtnismotive und über kulturelle Mythen der Standhaftigkeit, der heroischen Leidensfähigkeit und des kollektiven Märtyrertums dar.

In den öffentlichen Erinnerungsdiskursen der meisten Verbände dominieren Aktionen zur Bewahrung dieses stark sakralisierten Helden- und Opferstatus der Blokadniki. Die Konkurrenz der Opfergruppen hat in den letzten Jahren zu einem regelrechten moralisch-pathetischen Kampf um die Deutungshoheit des Geschichtsbilds geführt. Viele Mitglieder von Veteranenvereinen sehen sich dem Angriff auf ihren Opfer- und Siegerstatus ausgesetzt und befürchten den Verlust des moralisch-ideologischen Alleinstellungsmerkmals der „Heldenstadt“ Leningrad.

Emotional aufgeladene Debatten

Wie stark dieser Mythos den öffentlichen Erinnerungsdiskurs bis heute dominiert, zeigten nicht nur die Neuauflagen alter Stereotype bei den aufwändigen Siegesfeiern zum 70. Jahrestag des Kriegsendes und des Endes der Belagerung, sondern auch die enorm emotional aufgeladenen öffentlichen Debatten, wenn es um die Verteidigung von Tabus im Umgang mit der Erinnerung an die Blockadezeit geht. So löste etwa der unabhängige TV-Sender Doschd (dt. Regen) im Januar 2014 mit einer Online-Umfrage eine öffentliche Welle der Empörung aus. Anlässlich des 70. Jahrestages des Endes der Blockade fragte er, ob man Leningrad 1941/42 nicht besser hätte aufgeben sollen, um möglicherweise Hunderttausende Leben zu retten. Blokadniki-Verbände erhoben den Vorwurf der Verunglimpfung der Opfer und der Geschichte und es folgten gezielte restriktive Maßnahmen gegen den Sender. Einen solchen empörten kollektiven Aufschrei hatte bereits 1989 der Schriftsteller Viktor Astafew ausgelöst, als er in einem Interview mit der Prawda (russische Tageszeitung) eine ähnliche Frage gestellt hatte.


1.Barber, John (2005): Introduction: Leningrad's Place in the History of Famine, in: ders. / Dzeniskevich, Andrej (Hrsg.):Life and Death in Besieged Leningrad, 1941– 944, London, S. 1
2.Ganzenmüller, Jörg (2011): Das belagerte Leningrad 1941–1944: die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern, Paderborn; Reidm Anna (2011): Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941–1944, Berlin
3.Tippner, Anja (2011): Die Blockade durchbrechen: Hunger, Trauma und Gedächtnis bei L. Ginzburg, in: Osteuropa 61 (8-9): Die Leningrader Blockade: der Krieg, die Stadt und der Tod, Berlin, S. 281-298; Neue Zürcher Zeitung: Im Strudel der erstarrten Zeit
4.Voronina, Tat’jana (2012): Die Schlacht um Leningrad: Die Verbände der Blockade-Überlebenden und ihre Erinnerungspolitik von den 1960er Jahren bis heute, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 60, S. 1-19; Kirschenbaum, Lisa (2008): The legacy of the Siege of Leningrad 1941–1995: myth, memories, and monuments, Berlin/New York
5.Adamowitsch, Ales / Granin, Daniil (1984/1987): Das Blockadebuch: Erster und zweiter Teil, Berlin; Ginzburg, Lidija (2014): Aufzeichnungen eines Blockademenschen, Berlin
6.Zemskov-Züge, Andrea (2011): Helden um jeden Preis: Leningrader Kriegsgeschichte(n),in: Osteuropa 61 (8-9): Die Leningrader Blockade: Der Krieg, die Stadt und der Tod, S. 135-154; Voronina, Tat’jana: Die Schlacht um Leningrad: Die Verbände der Blockade-Überlebenden und ihre Erinnerungspolitik von den 1960er Jahren bis heute, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 60, S. 1-19

 

 

 

 

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