Hanna Yankuta, 1984 geboren in der westbelarussischen Stadt Hrodna, hat sich als Autorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin einen Namen gemacht. Zu ihren Werken gehören Essays, zahlreiche Kinderbücher sowie Romanübersetzungen von Jane Austen oder Sally Rooney ins Belarussische. 2023 hat sie ihren Debütroman Tschas pustasellja (dt. Unkrautzeit) im Verlag Januškevič veröffentlicht, der von der Kritik vielfach gelobt wurde.
„Um öffentlich über Belarus zu sprechen, muss man die Worte abwägen, um niemandem zu schaden“, schreibt sie in ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft. Gerade die, die heute im Exil sind, können sich zwar vermeintlich frei über die Vorgänge in Belarus äußern. Allerdings muss ihnen dabei klar sein, dass sie keine Namen derjenigen nennen, die in Belarus geblieben sind, um sie so möglicherweise nicht zu gefährden. Die neue Mauer zwischen Belarus und den Belarussen, die ins Exil geflohen sind, ist das zentrale Thema dieses Textes. Wie können die Belarussen wieder zusammenfinden, wenn diejenigen, die draußen sind, nur noch das Belarus ihrer Vergangenheit erinnern und gleichzeitig nicht mehr am täglichen Leben in Belarus teilhaben können und damit an der Zukunft des Landes und seiner Gesellschaft?
Mich fasziniert schon seit langer Zeit, dass Karten nicht das wiedergeben, was ich um mich herum sehe. Nicht nur die auf Papier gedruckten, die einen bestimmten Moment festhalten und genau einen Moment später schon ungenau geworden sind, sondern auch Online-Apps, die sich ständig erneuern und der unsteten Realität anpassen. Karten, die eigentlich eine Art schematische Kopie der Welt sein müssten, bleiben in Wahrheit immer hinter ihr zurück. Auf ihnen abgebildete Objekte sind längst wieder verschwunden, und neue, bereits existierende, Objekte erscheinen noch nicht auf der Karte, obwohl wir sie auf unseren Streifzügen schon finden. Da ist ein Laden – auf der Karte gibt es ihn, in Wirklichkeit ist er schon weg. Ist er pleite? Oder umgezogen? Dort ein Gutshaus aus dem 19. Jahrhundert – wurde es abgerissen? Da eine ukrainische Stadt an der Frontlinie – dem Erdboden gleichgemacht? Klickt man Marjinka auf Google Maps an, sieht man Fotos von Häusern, Kirchen und Parks. Aber bereits im März 2023 war ein Video im Internet mit endlosen schwarzen Ruinenfeldern aufgetaucht, dem heutigen Antlitz von Marjinka. Karten sind ein Fenster in die Vergangenheit. Unsere Welt ist eine Welt der Karten, auf denen verschiedene Zeiten koexistieren.
Mit Voraussagen über die Zukunft ist es dasselbe.
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Bald wird es drei Jahre her sein, dass ich Belarus verlassen habe, und schon anderthalb Jahre, dass ich zum letzten Mal dort war. Aktuell lebe ich in Polen. Noch 2022 ist es mir gelungen, zwei Mal die polnisch-belarussische Grenze zu passieren, um Verwandte zu treffen, Dinge zu erledigen und zu sehen, wie es meinem Land geht. Damals gelangte ich über den Grenzübergang Bobrowniki – Berastawiza nach Belarus, den man leicht auf der Karte findet. Seit dem 10. Februar 2023 ist er geschlossen. Die Grenzübergänge werden immer weniger, Reisen nach Belarus immer riskanter, Menschen werden direkt an der Grenze festgenommen, oder zu Hause, einige Tage nach der Rückkehr ins Land. Und ich weiß nicht, wie lange es noch riskant sein wird, wie viel Zeit noch vergehen wird, bis ich wieder hinfahren kann.
Belarus stelle ich mir jetzt so vor, wie ich es vor anderthalb Jahren gesehen habe, auch wenn sich dort seit dieser Zeit sicher viel verändert hat. Das Land hat sich verändert, meine Sicht darauf – doch mein Bild von ihm nicht. Wenn ich mir eine Rückkehr vorstelle, dann sehe ich veraltete Bilder – wie ich früher in Minsk lebte. Belarus lebt schon in der Zukunft, ich lebe in seiner Vergangenheit. Ich meine nicht, was die Nachrichten melden, sondern was wirklich passiert. Wir können nicht mehr in derselben Zeit leben, zumindest für eine gewisse Dauer gehen unsere Zukünfte getrennte Wege. Ich gehe meinen, Belarus seinen. Eine Zukunft, die wir nicht miteinander teilen können – ich darf nicht in Belarus‘ Zukunft hinein, und Belarus interessiert sich nicht für meine.
Wir haben nur eine sehr kleine Auswahl an Mitteln, um auf die jeweils andere Zukunft Einfluss zu nehmen. 2023 wurde beispielsweise ein Gesetz erlassen, dass belarussische Pässe nicht mehr in den Auslandsvertretungen erneuert werden können, sondern nur noch persönlich im Land. Wenn die Gültigkeit meines Reisepasses abläuft, kann ich also keinen neuen mehr erhalten. So versucht der Staat, Einfluss auf mich zu nehmen, mir etwas zu beweisen. Es verkompliziert mein Leben, aber irgendwie werde ich damit zurechtkommen. Meine Art, mit Belarus zu interagieren, sind Bücher. Wenngleich sie derzeit, wenn überhaupt, dann nur noch als geheime Schmuggelware ins Land gelangen. Es ist viel leichter, Bücher aus Belarus herauszubringen, als welche hinein. Und ich kann nicht mehr Teil ihres Lebens sein, meine Teilhabe wird gefiltert, diejenigen, die an der Macht sind, nehmen meine Bücher als schädlich wahr.
Auch zu diesem Zweck existieren Grenzen.
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Vielleicht sind Landkarten aber auch ein Fenster in die Zukunft?
Belarus grenzt an fünf Länder, die längste Grenze teilen wir mit Russland, darauf folgt, etwas kürzer, die zur Ukraine. Dann kommen Litauen, Polen und – mit der kürzesten gemeinsamen Grenze – Lettland. Diese Grenzen sind sehr aufschlussreich. Belarus – das sind 1283 Kilometer Russlands, 1084 Kilometer der Ukraine, etwa 679 Kilometer Litauens, etwas mehr als 398 Kilometer Polens und fast 173 Kilometer Lettlands (gemäß Informationen des Belarussischen Grenzschutzkomitees und Wikipedia). Wir haben also 1250 Kilometer Europäische Union, etwas weniger als Russland, aber sobald sich die Ukraine der EU anschließt, wird das Übergewicht offensichtlich sein. Die Grenze hat natürlich zwei Seiten. Polen verbinden etwas mehr als 398 Kilometer mit Belarus (etwa elf Prozent der Gesamtlänge der polnischen Staatsgrenze), Russland 1283 Kilometer. Prozentual gesehen ist die belarussische Grenze mit Russland länger als die russische Grenze mit Belarus. Geografie ist gnadenlos.
Die Funktionen von Grenzen: sich selbst abgrenzen und sich von anderen abgrenzen. Die eigenen Konturen genau umreißen, kein Eindringen und Durchdringen zulassen – von Menschen, Ideen, Einflüssen. Das Innere zum Monolithen machen, zu einer eigenen Angelegenheit. Zu einer Art Gefängnis. Belarus ist ein Ort mit sehr deutlich umrissenen Grenzen, nicht jede Person darf dort leben, selbst die Staatsbürgerschaft bietet keine Garantie. Viele finden sich jenseits der Grenzen wieder: die Grenzen betreffen nicht nur Staaten, sie zerteilen auch unsere Gemeinschaften. Die belarussische Welt ist jetzt in Teile zerlegt, und über die Grenzen hinweg den Kontakt zu halten – mit Familie, Freunden, Kollegen – ist aktuell unsere Aufgabe.
Die Grenze zwischen Belarus und Russland ist, mit einigen Ausnahmen, offen und wird kaum kontrolliert. Die Grenze zwischen Belarus und der Ukraine ist vermint. An der Grenze zwischen Belarus und Polen ist ein Zaun, an der Grenze zwischen Belarus und Litauen ein Zaun, an der Grenze zwischen Belarus und Lettland ein Zaun. Und doch sind wir noch nicht vollkommen isoliert, auch wenn alles in diese Richtung führt. Bis zur völligen Isolation braucht es viel mehr.
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Es gibt eine Zukunft, die wir mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen können. Diese Zukunft ist jedoch sehr fern und wird von den exakten Wissenschaften prognostiziert. In 24.000 Jahren wird sich in der Zone um Tschernobyl die Anzahl des radioaktiven Elements Plutonium-239 um die Hälfte verringert haben. In 100.000 Jahren wird sich die Karte der Sternbilder am Himmel bis zur Unkenntlichkeit verändert haben. In 250 Millionen Jahren wird sich alles Festland auf der Erde zu einem Superkontinent vereint haben, den wir heute, in seiner fernen Vergangenheit, Pangaea Proxima nennen. In etwa einer Milliarde Jahre wird die Sonne heller werden, die Ozeane auf unserem Planeten verdampfen, und noch einige Milliarden Jahre später bläst sie sich zu einem Roten Riesen auf, um dann zu einem Weißen Zwerg zusammenzuschrumpfen. Und wenn die Erde bis dahin noch nicht in den höllischen Sonnenstrahlen zu Asche zerfallen ist, beginnt sie schrittweise abzukühlen und wird schließlich zu einem kalten, von Finsternis umgebenen Stück Materie, auf dem niemals wieder Leben in einer uns bekannten Form entstehen können wird.
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Die Sprache weiß auch etwas über die Zukunft. „Nie wieder soll Krieg sein“ ist eine in Belarus wohlbekannte Phrase. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je jemand auf Russisch gesagt hätte. Eine weitere: „Wollt ihr ukrainische Verhältnisse?“ Wenn über etwas viel gesprochen wird, dann geschieht das nicht grundlos, die Sprache ebnet der Zukunft den Weg. Man muss nur aufmerksam hinhören.
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In letzter Zeit schreiben Soziologen und Politologen immer häufiger, die Zukunft der belarussischen Proteste sei bereits angebrochen, es existiere eine neue Norm. Die Welt habe sich verändert, sei schon eine andere. Aber wenn man Google Maps öffnet und eines der Minsker Stadtviertel anklickt, kann man noch ein Foto der in Belarus verbotenen weiß-rot-weißen Flagge finden, die über einem Gebäude weht, als hätte 2020 nie geendet. Damals schien es, man könne nun für immer solche Symbole aus dem Fenster hängen, wider jegliche Repression.
Die Zukunft zerfällt in Fragmente, wie dieser Text. Sie schreibt sich wie ein Gedicht – denn manchmal kann nur die Poesie dieser Wirklichkeit beikommen.
Was ist Zukunft für politische Emigranten, für Geflüchtete? Entweder Kopf voran in den Strudel des neuen Lebens springen, oder mit aller Kraft, den Umständen zum Trotz, am Alten festhalten. Viele wählen immer wieder die zweite Variante, leben in der Vergangenheit, in Erwartung einer Möglichkeit zur Rückkehr. „Die Epoche hat uns im Griff“, sagen wir. Aber sie ist es nicht, die uns im Griff hat, sondern wir sind es, die sich an ihr festklammern. Wir wollen im Jahr 2020 bleiben, Realität und Zeitrechnung zum Trotz. Denn das, was wir um uns herum sehen, entspricht nicht dem, wie wir in unserem Inneren leben. Und dafür gibt es eine Erklärung – die Trägheit der Psyche, die nur schlecht mit Veränderung zurechtkommt.
Um nach Belarus zurückkehren zu können, dürfte ich diesen Text nicht schreiben. Immer wenn ich öffentlich etwas sage, bezahle ich dafür mit meinem Recht auf Heimkehr. Letztlich ist das aktuell kein allzu hoher Preis, die Einsätze steigen täglich. Ich muss jeden Tag die Entscheidung treffen: Lebe ich, als gäbe es Belarus nicht, und füge mich in den Alltag des neuen Landes ein, oder aber entsage ich einem normalen, privaten Leben. Und bislang entsage ich noch, denn ich will dieses normale, private Leben nicht, das die Realität mir anbietet. Und wenigstens bislang hat es mir seine spezifischen Verpflichtungen noch nicht auferlegt.
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Selbst am Rande einer Diktatur (und so könnte ich das Leben politischer Emigranten beschreiben) erfordert das Leben Disziplin, selbst bei Kleinigkeiten. Ich treffe ständig auf sie. Ich kaufe Weihnachtspostkarten, um sie nach Belarus zu schicken, auf vielen sind weiße und rote Details, wie die weiß-rot-weiße Flagge. Ich schaue mir die Postkarten mit der Lupe an und überlege: ist das erlaubt oder nicht? Wenn ich jemandem in Belarus eine Nachricht schreibe, überlege ich mir jedes Wort, besonders, wenn es entferntere Bekannte sind, mit denen ich nicht regelmäßig in Kontakt bin. Ist es sicher oder nicht? Ich weiß nicht, wer in diesem Moment ihr Mobiltelefon in den Händen hält. „Kann ich dir gerade schreiben?“ In der Korrespondenz erinnere ich immer wieder daran: nach dem Lesen löschen. In den Sozialen Medien schreibe ich immer dazu: Wenn ihr in Belarus seid, liked das nicht. Bevor ich darüber nachdenke, was erlaubt ist, denke ich darüber nach, was verboten ist. Ich bin ein Mensch der Diktatur und auch meine Ängste (sowohl die eigenen, als auch die von den Vorfahren geerbten) sind in der Diktatur geboren.
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Wenn ich jetzt Google Maps öffne, sehe ich alle Namen auf Polnisch, entsprechend meinem Standort. Es ist durchaus bedeutsam, in welcher Sprache die Ortsnamen auf einer Karte stehen. Sonst hätten die Russen in den besetzten ukrainischen Gebieten die Wegweiser und Ortsschilder nicht ausgetauscht – von ukrainischen in russische. In der Minsker Metro würden die Beschriftungen in belarussischer Lacinka nicht mit den russischen, kyrillischen Bezeichnungen überschrieben. Sogar das Alphabet hat eine Bedeutung.
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Wir leben in einer Situation, in der wir aktiv kolonisiert werden. Unser Nachbarstaat Russland (1283 Kilometer Zukunft mit Russland) gibt Unmengen an Ressourcen dafür aus, dass wir unter seinem Einfluss bleiben. Diesem Prozess können wir uns nicht entziehen, denn unsere Ressourcen – egal welcher belarussischen Community oder gar des gesamten Staates Belarus – reichen dafür nicht aus. Die Möglichkeiten Russlands, des Russischen Imperiums, waren immer unvergleichlich größer als unsere. Und wenn jemand will, dass es dich – so, wie du dich selbst siehst – nicht geben soll, und viel Kraft und Ressourcen in dieses Ziel investiert, dann ist Widerstand sehr schwer.
Russifizierung ist nicht nur Sprache und Kultur, es ist auch die Art zu Denken. In einer solchen Situation wächst die Sprache stets über sich hinaus. Es ist nicht nur die Sprache Belarussisch oder Russisch. Es ist auch die Sprache der Liebe, zum Eigenen und zum Fremden, oder die des Hasses, auch auf das Eigene und das Fremde. Am 13. Februar 2023 sprach der belarussische Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki bei seinem Gerichtsprozess über nationale Aussöhnung – auch dazu ist Sprache fähig. Er wurde zu zehn Jahren Straflager verurteilt. Aber die Sprache kartografiert auch die Unmöglichkeit dieser Versöhnung, den Unwillen, wie die „andere Seite“ zu sein, das Verlangen, alles von sich abzuwaschen, was irgendwie mit dem anderen verbinden könnte. Da sind sie, da sind wir (Wos jany, a wos my) – so heißt ein Gedicht von Alhierd Bacharevič aus dem Jahr 2020. Dieses Gedicht ist auch heute noch aktuell.
Sprache legitimiert und spaltet, und diese Spaltung ist schwer zu überwinden.
Wenn die Realität zerbricht, in tausend Scherben zersplittert, wie soll man diese dann benennen? Worte werden gleichzeitig bedeutungsvoll und bedeutungslos, Wörterbücher neu zusammengestellt. Ein Gefängniswörterbuch, ein Kriegswörterbuch. Manchmal denke ich, wenn man alles korrekt beschreibt, allem eine sinnhafte Bezeichnung gibt, hat unsere Sicht eine Chance, an Klarheit zu gewinnen. Vielleicht würden wir dann auch sehen, in welcher Welt wir leben und wo die Wege sind, die irgendwohin führen. Aber es ist unmöglich, alles zu beschreiben, immer wieder bleibt etwas nicht greifbar, bleibt blind voranzugehen eine unserer heutigen Herausforderungen. Wir wissen nicht einmal, welche Sprache(n) wir und unsere Kinder in zehn Jahren sprechen werden. Vielleicht werden viele schon die Sprachen der Länder sprechen, in die wir heute flüchten: polnisch, litauisch, deutsch und andere. Doch uns steht bevor, über uns zu sprechen, unter anderem, um uns und unsere Zukunft auf Worten aufzubauen.
Wenn ich versuche, meine Welt zu beschreiben, dann feilsche ich scheinbar mit der Sprache, bitte sie darum, mir ein wenig mehr zu erlauben, als ich vermag.
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Es ist bereits unmöglich zu erinnern, was 2020 wirklich geschehen ist. Die Erinnerung verzerrt diese Zeit, wie auch Karten die Realität verfremden, und später wird uns nur noch übrigbleiben, dokumentarische Zeugenaussagen zu sammeln und den eigenen Erinnerungen die fremden gegenüberzustellen. Später – wann wird das sein? Die Zukunft der Proteste – wann werden wir uns erlauben, uns an sie zu erinnern? Wann wird man das ohne Leerzeichen tun können, ohne Namen auszulassen und ohne Fotos unkenntlich zu machen? Die Leerzeichen verfestigen sich im Gedächtnis, bleiben als weiße Flecken darin zurück, unbezwingbar. Im besten Fall kann man vielleicht die Karte dieser weißen Flecken etwas verändern. Das ist das Ergebnis zahlreicher Faktoren, darunter Propaganda und Lügen. Sie wachsen in unser Leben, als würden wir uns nicht widersetzen und uns nicht von ihnen abgrenzen. Und wir müssen auch das berücksichtigen: Wir verändern uns unter ihrem Einfluss, oft unbemerkt für uns selbst. Eine Korrektur daran sollte man überall vornehmen – in der Emigration, innerer wie äußerer, in Belarus und jenseits der Landesgrenzen. Denn für Lügen, wie auch für Gewalt, ist jeder Raum zu eng, sie streben nach draußen, wollen immer neue Territorien erobern. Sie sind fähig, sogar aus Entfernung Einfluss auszuüben. Doch dasselbe kann man auch über die Freiheit sagen, so, wie wir sie sehen. Und in diesem Sinne erleiden Grenzen – und die, die sie bauen, auf beiden Seiten – eine Niederlage.
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Ich kann nichts über Belarus erzählen, nur über die Belarussen, die im Ausland leben. Über mich selbst. Denn über Belarus weiß ich nichts mehr, und wenn ich etwas weiß, muss ich die Zunge im Zaum halten. Um öffentlich über Belarus zu sprechen, muss man die Worte abwägen, um niemandem zu schaden. Oft überprüfe ich, bevor ich etwas ausspreche, und sei es nur ein unschuldiger Fakt, ob jemand diese Information schon einmal öffentlich geteilt hat. Bestenfalls in einem Bericht von Menschenrechtsorganisationen, denn ihnen traue ich: Wenn sie etwas veröffentlichen, heißt das, dass man darüber sprechen kann. Bei öffentlichen Auftritten wähle ich meine Formulierungen sorgfältig, aus Angst, etwas preiszugeben, unnötig Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken – Namen, Bücher, Ereignisse, oder irgendwelche Tricks und Kniffe, die im Land helfen.
Ich kann nur mit Pausen sprechen, wäge jeden Satz ab. Manchmal ist das Wichtigste die Pause selbst.
Jedes ENTER in diesem Text ist eine Pause, drei Sternchen sind eine lange Pause.
Ich muss langsam sprechen.
Das Schweigen betrifft nicht nur jene, die in Belarus geblieben sind, es überschreitet auch die Grenzen und wird zum charakteristischen Zug der Zeit der Diktatur.
Das Schweigen hat viele Gesichter.
Es gibt das Schweigen von den einstigen Opfern der sowjetischen Repressionen und das Schweigen von den anderen Völkern, die auf unserem Gebiet lebten. Geschlossene Archive. Verborgene Statistiken. Durchgestrichene Erinnerungen an die ersten Tage nach den Wahlen 2020, als tausende Menschen Folter und Qualen durchlebten. Die Vernichtung der unabhängigen Medien und ihre Abstempelung als „extremistisch“ (einem unabhängigen Medium ein Interview zu geben, einfach nur etwas zu sagen – ist schon ein Verbrechen). Augenzeugen werden weggesperrt. Incommunicado – das gewaltsame Blockieren jeglicher Kontakte der politischen Gefangenen mit der Außenwelt und das Fernhalten jeglicher Nachrichten und Informationen.
Wir wissen nichts: Nicht, wie viele Menschen an Covid gestorben sind, nicht, wie viele das Land verlassen haben, nicht, wie viele im Gefängnis sitzen. Wir haben keine genauen Zahlen, wir haben nur Dunkelziffern, die anhand von geschätzten Angaben gemessen werden, mathematisch oder intuitiv.
Jemand in Belarus schweigt aus Sprachlosigkeit. Weil es ihm an Worten fehlt, das zu beschreiben, was vor sich geht, weil es nicht in Worte zu fassen ist.
Jemand erlegt sich ein Tabu auf, über Gefängnisse und Repressionen zu sprechen, weil das eine direkte Erfahrung unendlichen Leids ist, über die zu theoretisieren wie Blasphemie erscheint.
Jemand entscheidet sich zu schweigen, nachdem Russland die Ukraine überfallen hat, um so den ukrainischen Stimmen mehr Raum zu geben.
Schweigen ist aktives Handeln.
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Das Schweigen hat Zukunft.
In dieser Zukunft kommen alle belarussischen politischen Häftlinge aus den Gefängnissen frei und erzählen, was man mit ihnen all diese Zeit über gemacht hat. Es gibt offene Gesprächsrunden über die Gewalt während und nach den Wahlen im Jahr 2020. Die Archive werden geöffnet, man kann sich ein vollständiges Bild von den Repressionen der Sowjetzeit machen, ebenso von allen anderen Zeiten, die bei uns Spuren hinterlassen haben.
Das Schweigen ist vielschichtig, früher oder später holt es jeden ein.
Und wir müssen bereit sein für das Grauen, wenn wir erfahren, was das Schweigen vor uns verbirgt, wenn es endlich gebrochen wird.
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Außerdem gibt es noch die Unsichtbarkeit, sie hat zwei Formen. Die erste besteht darin, wenn du dich versteckst, dich in ein Chamäleon verwandelst, dich unsichtbar machst, absichtlich unerreichbar für fremde Augen. Das ist eine Art Macht über die Welt, manchmal die einzige, die man sich erkämpfen kann. Die zweite Form ergibt sich daraus, dass man dich nicht sehen will, dich von den Karten und aus der Geschichte streicht. Wenn jemand sich weigert, dich zu sehen, dann gibt es dich scheinbar nicht. Auch das sind aktive Handlungen – sowohl das Unsichtbarsein, als auch das Nicht-sehen-Wollen. Das Nicht-sehen-Wollen ist der erste Schritt zur Isolation.
Es ist sehr leicht, nicht zu sehen, was hinter der Mauer passiert.
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Aber es ist unsere Zeit, es ist unsere Geschichte, und wir müssen sie durchleben, unsere Träume mit den Karten abgleichen. Bei uns wird es nicht wie in Warschau. Wir werden nicht wie die in Berlin. Wenn wir eine Chance kriegen und es schaffen sie zu nutzen, dann werden wir vielleicht nicht wie die im „Moskauer Umland“. Und wie wird es dann? Wie in Minsk, wie in Slonim, wie in Shabinka. Wenn nicht für mich, so doch für jemanden, der nach mir kommt. Das kann mir die Zukunft nicht wegnehmen. Denn das Wichtigste, was ich als Belarussin seit 2020 habe, ist das Vertrauen in die Menschen. Ich glaube wirklich an die Belarussen, an die drinnen wie draußen. Ich glaube, dass wir alles nur Mögliche tun, uns vorantasten auf der Suche nach unserem weiteren Weg. Wir gehen, wie wir es vermögen und wie wir es uns ausmalen, selbst wenn wir manchmal einander nicht verstehen oder unterschiedliche Routen wählen, auf unser Ziel zu.