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Editorial: Musik der Revolution

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MUSIK DER REVOLUTION,

liebe Leserinnen und Leser, hörte der Dichter Alexander Blok in den Ereignissen rund um das Jahr 1917. Und er forderte, dieser Musik zuzuhören, um die Revolution mit allen Sinnen zu erfassen. Als das Medium, das nach Russland hineinhört, lauschen wir hier in der dekoder-Redaktion das ganze Jahr, welche Töne in den russischen Medien angesichts des Revolutions-Jubiläums angeschlagen werden. Diese Materialien bündeln wir in unserem, mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung zusammengestellten, Dossier 1917//2017.

Und wir stellen fest: Das Revolutions-Jubiläum geht scheinbar an Russland vorbei, und im Lande herrscht Schweigen. Vergleichsweise, natürlich.

Ganz unerwartet kommt das nicht, in den Medien fragte man bereits im Januar: Was feiern wir? Wie sollen wir gedenken? Die Revolution, über die kein Konsens herrscht, sollte man lieber einfach vergessen. Warum ist das so? In seinem aktuellen Text gibt Sergej Schelin auf Republic eine mögliche Antwort auf diese Frage: Mit dieser Vergangenheit tun sich alle schwer, die Revolution ist ein Erbe ohne Erben

In dieser Stille werden die einzelnen Stimmen, die sich zum Thema äußern, umso lauter: wie etwa Boris Kolonizki, ein angesehener Historiker und Experte der russischen Revolution, der an der Europäischen Universität in St. Petersburg lehrt. Kolonizki gab das ganze Jahr über diverse Interviews, von denen wir eins übersetzten. Darin blickt er sowohl auf die Atmosphäre (Teil I) als auch auf die führenden Köpfe des Jahres 1917 (Teil II) zurück. Die Mosaiksteinchen der Ereignisse fügen sich so zu einem bunten Bild zusammen. Genauso bunt und vielfältig, wie die Wahrnehmung des Oktoberaufstandes im Spiegel der Presse aus dem Jahr 1917.

Dieses Bild wollten wir mit unseren Gnosen nach und nach rekonstruieren: Carmen Scheide wirft einen Blick auf die Lage der Frauen, die mit einer Demonstration den Auftakt für die Februarrevolution gegeben haben, Matthias Stadelmann zeichnet ein Portrait des letzten russischen Zaren Nikolaus II und Frithjof Benjamin Schenk beschreibt die Februarrevolution.

Auch mit einigen Mythen wird in unserem Revolutions-Dossier aufgeräumt: Frithjof Benjamin Schenk erzählt von Lenins Weg in die russische Revolution im Zug, der eben nicht plombiert war. Oksana Bulgakowa beschreibt, wie ikonographische Bilder der Revolution tatsächlich erst Jahre nach 1917 entstanden sind – etwa in Eisensteins Film Oktober. Robert Kindler macht deutlich, dass die Bolschewiki eine Splittergruppe waren, die erstmal keine große politische Bedeutung hatte. 

Und was machte Lenin eigentlich zwischen Februar- und Oktoberrevolution? Davon berichtet Benno Ennker. Robert Kindler erklärt außerdem, warum der Erste Weltkrieg für Russland 1917 so fatal war und zeigt anhand zweier Beispiele, wie es zu der Zeit an der Peripherie des Russischen Reiches aussah. 

Ohne Bilder wäre das Bild jedoch unvollständig. Zusammen mit Monica Rüthers bieten wir daher auch etwas fürs Auge: Revolutionäre Grüße aus dem Jahr 1917.

Doch die Revolution ist noch nicht vorbei – das Dossier wächst weiter bis zum Ende des Jahres.

Und hört unbedingt noch rein in die Musik der Revolution!

Euer

Leonid A. Klimov
Wissenschaftsredakteur

 

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Oktoberrevolution 1917

Eine Woche vor jenem Ereignis, das als „Oktoberrevolution“ in die Geschichte eingehen sollte, notierte der Schriftsteller Maxim Gorki: „Eine unorganisierte Menge, die kaum weiß, was sie will, wird sich auf die Straße wälzen, und in ihrem Gefolge werden Abenteurer, Diebe und professionelle Mörder ‚die Geschichte der russischen Revolution machen‘.“1 Gorkis Furcht vor einer Gewaltexplosion sollte sich bewahrheiten. Die Geschichte der russischen Revolution und des daraus resultierenden Bürgerkriegs war eine Geschichte blutiger Konflikte und brutaler Auseinandersetzungen.

Die radikalsten unter den russischen Sozialisten, die Bolschewiki unter ihrem Führer Wladimir Lenin, waren dabei die treibenden Kräfte. Ihr Staat, die Sowjetunion, entstand aus der erbarmungslosen Gewalt, mit der sie ihren Herrschaftsanspruch durchsetzten und die Bevölkerung des Vielvölkerreichs unterwarfen. Ungeachtet dessen verbanden Menschen in aller Welt mit dem Staatsbildungsprojekt der Bolschewiki das Versprechen auf eine bessere Zukunft. In dieser Perspektive markierte die Oktoberrevolution den Beginn einer neuen Zeitrechnung.

Zu Beginn des Jahres 1917 befand sich das Russische Imperium in einer tiefen Krise. Der seit 1914 andauernde Erste Weltkrieg überforderte das Land in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht. Im Februar gingen in der russischen Hauptstadt Petrograd die Menschen auf die Straße und forderten eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln. Die Unruhen weiteten sich rasch aus und führten innerhalb weniger Tage zum Sturz des letzten russischen Zaren: die Februarrevolution in Russland. Nach der Abdankung Nikolaus‘ II. etablierte sich in Petrograd die sogenannte „Doppelherrschaft“. Formal übernahm eine Provisorische Regierung die Amtsgeschäfte, bis eine konstituierende Versammlung über die Zukunft des Reiches entscheiden sollte. Doch die Regierung war abhängig von den Räten der Arbeiter und Soldaten, den Sowjets. Diese verstanden sich als Vertreter jener, die die Revolution „gemacht“ hatten.

Im Verlaufe des Jahres 1917 radikalisierten sich die Sowjets zusehends angesichts der immer weiter um sich greifenden sozialen und militärischen Krise. Die Bolschewiki, die vor dem Ausbruch der Februarrevolution noch eine wenig bedeutende radikale Splittergruppe waren, profitierten davon. Ihre klaren Forderungen nach Brot, Frieden und Land wirkten anziehend auf viele, deren Hoffnungen sich nach der Februarrevolution nicht erfüllt hatten. Gleichzeitig wurden sie immer wieder als Handlanger der Deutschen bezeichnet; ein Verdacht der durch die spektakuläre Reise Lenins in einem verplombten Waggon durch die feindlichen Linien erhärtet wurde. Doch die öffentliche Meinung interessierte Lenin wenig. Er setzte auf den gewaltsamen Umsturz.

Mythos vom Ansturm auf das Winterpalais

Am 7. November 1917 war es soweit. Nach mehreren Tagen kaum verhüllter Vorbereitungen besetzten Soldaten und bewaffnete Arbeiter strategisch bedeutende Gebäude in der russischen Hauptstadt. Die Provisorische Regierung gebot schließlich nur noch über das Winterpalais am Ufer der Newa. Anders als die bildstarke Mythologisierung durch Sergej Eisensteins Film Oktober nahelegt, gab es keinen Ansturm der revolutionären Massen auf das Gebäude. Die wenig motivierten Verteidiger des Gebäudes ließen sich ohne große Gegenwehr entwaffnen. Lenin proklamierte vor dem in der Nacht zusammengetretenen Zweiten Allrussischen Sowjetkongress die Sowjetmacht. Denjenigen moderaten Sozialisten, die gegen diese Anmaßung protestierten, rief Leo Trotzki hinterher, sie sollten dorthin gehen, wo sie hingehörten: „Auf den Kehrichthaufen der Geschichte.“

Der Bolschewik, Ölgemälde von Boris Kustodijew (1920) © Gemeinfrei

In ihren ersten Beschlüssen griff die neue Regierung, der sogenannte Rat der Volkskommissare populäre Forderungen auf. Die bolschewistischen Machthaber erklärten sich zu sofortigen Friedensverhandlungen ohne jede Vorbedingung mit den Mittelmächten bereit, sie verfügten, dass der Boden jenen gehören sollte, die ihn bearbeiteten, und sie sprachen den Nationalitäten des russischen Imperiums das Recht auf Selbstbestimmung zu. Einige Zeit später wurden überdies die Nationalisierung der Banken sowie die Einführung der Arbeiterkontrolle in den Fabriken dekretiert. Indes verschärfte sich die Krise immer mehr: Der Krieg mit den Mittelmächten dauerte an, die Wirtschaft lag am Boden und die staatliche Ordnung war in weiten Teilen des Imperiums zusammengebrochen. Die Erosion etablierter Hierarchien führte in die Anarchie. Wie Gorki es prophezeit hatte, versank Russland in einem Chaos aus Gewalt, unkontrollierter Massenmigrationen, Epidemien, Versorgungsschwierigkeiten und militärischen Rückschlägen. Rasch wurde die Lage zu einer Bedrohung für die Bolschewiki selbst. Für die meisten Zeitgenossen im In- und Ausland stand deshalb fest, dass die neue Regierung bald der Vergangenheit angehören würde.

Doch die Bolschewiki konnten sich behaupten, weil sie radikaler und entschlossener als ihre Gegner vorgingen. Die im Januar 1918 zusammengetretene Verfassunggebende Versammlung ließen sie bereits nach einem Tag schließen, unliebsame Zeitungen wurden verboten und gegen massiven Widerstand in den eigenen Reihen war Lenin sogar bereit, den Mittelmächten weitreichende territoriale Zugeständnisse zu machen, um eine „Atempause“ für den Kampf im Inneren zu gewinnen. Das Regime errichtete eine brutale Gewaltherrschaft, die sich gegen tatsächliche und imaginierte Feinde richtete. Abertausende Menschen fielen dem Roten Terror zum Opfer und die Angst vor Repressionen trieb unzählige Angehörige der ehemaligen Eliten in die Emigration. Rücksichtslosigkeit war schließlich auch der Schlüssel für den Sieg im 1918 ausbrechenden Bürgerkrieg, der drei Jahre dauerte.  

Handelte es sich beim Umsturz der Bolschewiki um eine Revolution oder war er nichts anderes als ein Putsch? Der Streit darüber ist so alt, wie das Ereignis selbst und er ist bis heute mehr als ein akademisches Problem: Hängt doch die Legitimität des gesamten sowjetischen Projekts nicht zuletzt von der Antwort auf diese Frage ab. Für die sowjetische Geschichtsschreibung war die Sache klar. Hier resultierte die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ zwingend aus der Februarrevolution und markierte den Beginn einer neuen Ära in der Menschheitsgeschichte; den Triumph der unterdrückten Klassen über die kapitalistischen Ausbeuter. Dagegen wurde mehrfach eingewandt, dass der Oktober eine radikale Abkehr von den demokratischen Prinzipien des Februars darstellte und direkt in die Diktatur der Bolschewiki führte. Weitere Forschungskontroversen um die Revolutionen von 1917 entzündeten sich unter anderem daran, ob das Ende des Imperiums systemisch bedingt oder ob der Erste Weltkrieg entscheidend für die Ereignisse von 1917 war. In jüngerer Zeit sind die beide Revolutionen des Jahres 1917 zudem als Teil eines „Kontinuums der Krise“ (Peter Holquist) zwischen 1914 und 1921 interpretiert worden.2 In dieser Perspektive waren die Revolutionen eine Zeit kurzlebiger Hoffnungen und Utopien, vor allem aber waren sie Teil einer umfassenden sozialen und kulturellen Krise.„Doch die Bolschewiki konnten sich behaupten, weil sie radikaler als ihre Gegner vorgingen.“ © Gemeinfrei


1.Gorki, Maxim (1972): Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, Frankfurt/Main, S. 87
2.Holquist, P. (2002): Making War, Forging Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, 1914-1921, Cambridge
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