Ein Internet-Meme zeigt folgende Szene: Wladimir Putin fragt: „Wie läuft es mit der Mobilmachung?“ Darauf antwortet Generalstabschef Gerassimow: „250.000 …“ und Verteidigungsminister Schoigu ergänzt: „… haben das Land verlassen.“
Tatsächlich hatten sich nach der TV-Ansprache, in der Wladimir Putin eine „Teilmobilmachung“ von 300.000 Mann verkündet hatte, lange Schlangen an russischen Staatsgrenzen gebildet, etwa zu Georgien und Kasachstan. Flugpreise ins Ausland verzehnfachten sich, dennoch waren die Flüge komplett ausverkauft. Insgesamt sollen rund 250.000 Russen das Land verlassen haben.
Gleichzeitig lief die Mobilmachung laut Beobachtern vor allem in Regionen mit ethnischen Minderheiten auf vollen Touren, in Jakutien, Burjatien und auch im Nordkaukasus. In Dagestan etwa kam es dabei zu lokalen Protesten, bei denen die Polizei zum Teil Warnschüsse abgab, Protestierende skandierten Parolen wie „Nein zum Krieg“. Der Menschenrechtsorganisation OWD-Info zufolge wurden bei russlandweiten Protestaktionen gegen die „Teilmobilmachung“ zwischen 21. und 26. September insgesamt über 2400 Menschen festgenommen.
Doch eine landesweite Protestwelle bleibt aus. Warum gehen die Russen derzeit nicht auf die Straßen, sondern eher an die Front oder verlassen das Land? Fehlt für Massenproteste eine Führungsfigur wie der inhaftierte Oppositionspolitiker Alexej Nawalny? Und können Massenproteste überhaupt etwas bewirken, solange es keine Spaltung der Elite gibt? Diese und weitere Fragen beantwortet der Politikwissenschaftler Wladimir Gelman im Gespräch mit Meduza.
Wie lässt sich die erste Reaktion der russischen Gesellschaft auf die Mobilmachung einordnen? Warum hat sie keine Massenproteste ausgelöst?
Albert Hirschman [ein Wirtschaftswissenschaftler und Politökonom] hat beschrieben, wie einzelne Menschen, Firmen und ganze Staaten auf Krisen aller Art reagieren. Es gibt zwei grundlegende Strategien: Zum einen aktiver Widerstand, Protest – in seinen Begriffen „voice“, also Widerspruch –, und zum anderen alle möglichen Arten der Flucht vor dem Unbill, „exit“, Abwanderung.
Die Russen ziehen natürlich den „exit“ vor. Aktive Proteste gibt es nach wie vor nur in Einzelfällen. Denn diese erfordern nicht nur individuelles Handeln, sondern auch Koordination und Kooperation verschiedener Leute. Und das funktioniert nicht gut.
Es gab doch durchaus einzelne, lokale Proteste, wie ist das zu erklären? Liegt es daran, dass diese Regionen stärker von der Einberufung von Wehrpflichtigen betroffen waren? Oder weil es dort schon eine gewisse Koordination auf Graswurzel-Ebene gab?
Ich denke, es ist wohl das eine wie das andere. Einerseits war man dort übereifrig, die Planvorgaben für Einberufung zu erfüllen. Andererseits hat es dort regional, nehme ich an, auch früher schon Koordinationserfahrung gegeben. Also sehen wir dort Ausbrüche ziemlich aktiver Proteste.
Allerdings ist es so, dass das Protestpotenzial nicht über solche einzelnen Aktionen hinausgeht. Jene Frauen, die sich in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala mutig Zusammenstöße mit der Nationalgarde lieferten, haben wohl in erster Linie erreicht, dass ihre Männer, Kinder und Angehörigen nicht eingezogen werden. Bestenfalls wird das dazu führen, dass die Männer und Kinder von anderen eingezogen werden – nämlich dort, wo das Widerstandspotenzial geringer und weniger Aufruhr zu erwarten ist.
Wer sich mit gesellschaftlichen Bewegungen befasst, dem sind solche Phänomene wohlbekannt. Da gibt es etwa die Abkürzung NIMBY, not in my backyard, „nicht in meinem Hinterhof“. Das heißt, dass jeder vor allem für sich selbst kämpft, für seine eigenen Interessen. Das haben wir schon früher beobachten können; die Proteste gegen die Mobilmachung sind da keine Ausnahme.
Und dieses „nicht in meinem Hinterhof“ ist etwas, was für Russland oder Gesellschaften in autoritären Regimen spezifisch ist?
Das ist keineswegs eine Besonderheit Russlands. Es gibt viele Länder mit einem repressiven autokratischen Regime, in denen es ähnliche Probleme gibt. In einigen Ländern bestehen aber andere Organisationsstrukturen, die eine Koordinierung erleichtern. Die autoritären Regime in Lateinamerika hatten es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ständig mit dem Widerstand der Gewerkschaften zu tun, die eine wichtige Basis für die Koordinierung waren.
Die Regierung hatte die Gefahren erkannt, die von jeder organisierten Struktur ausgehen, und sie hat versucht diese auf jede erdenkliche Art zu schwächen
In Russland hat das Team von [Alexej] Nawalny versucht, etwas Ähnliches aufzubauen, doch das wurde zerschlagen: Die einen wurden Opfer von Repressionen, andere mussten aus dem Land fliehen, und das Koordinationspotenzial war schon vor dem Februar 2022 geschrumpft. Die Regierung hatte die Gefahren erkannt, die von jeder organisierten Struktur ausgehen, und sie hat versucht, diese auf jede erdenkliche Art zu schwächen. Und das ist ihr auch gelungen.
Und wenn man Proteste aus dem Ausland koordiniert, oder online? Die Mitstreiter von Alexej Nawalny haben jetzt beispielsweise versucht, die Menschen zu Protesten aufzurufen.
Online-Koordinierung kann die Koordination vor Ort ergänzen, aber nicht ersetzen. Außerdem ist die Gefahr von Repressionen ernstzunehmen, die verhindert, dass Menschen sich an Massenprotesten beteiligen. Sie wägen bewusst, vielleicht auch intuitiv, die Risiken einer Bestrafung ab und die Chancen auf Erfolg. Und sie wissen, dass die Risiken, wenn sie sich an Massenprotesten beteiligen, recht hoch sind. Insbesondere jetzt, wo es nicht mehr nur um Verwaltungsstrafen, sondern auch um eine strafrechtliche Verfolgung geht. Die Chancen, dass die Ziele erreicht werden, erscheinen dagegen sehr gering, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Da ist es nur natürlich, dass dies die Russen dazu bringt, nach individuellen Lösungen zu suchen und kein kollektives Vorgehen anzustreben.
Für viele sind die Ereignisse in Dagestan weniger ein Vorbild als vielmehr ein Beleg dafür, dass die Behörden auf Protestierende einprügeln
Für viele sind die Ereignisse in Dagestan zudem weniger ein Vorbild als vielmehr ein Beleg dafür, dass die Behörden bei einer Konfrontation mit den Bürgern auf Protestierende einprügeln. Eine Entwicklung [von Massenprotesten] auf gesamtrussischer Ebene wäre nur dann möglich, wenn die Repressionsmaschine Schwäche zeigt und der Staat einer Menge kollektiver Aktionen – in mehr als nur einer Stadt – schlichtweg nichts entgegenzusetzen hätte.
Sie sagen trotzdem, dass Sie diese Möglichkeit nicht ausschließen. Unter welchen Umständen?
Dann, wenn der Staatsapparat im Zuge der Kriegshandlungen geschwächt würde, und sobald die Motivation schwindet, diesen Staatsapparat zu verteidigen.
Und die Unzufriedenheit muss sehr viel größer sein als jetzt. Im Augenblick ist das nicht zu beobachten. Ich denke, dass das Stocken des Kriegsgeschehens einen Einfluss auf die Situation hat, aber welchen genau, können wir jetzt noch nicht wissen.
Ist für eine Protest-Koordinierung eine markante, populäre Führungsfigur erforderlich? Oder könnte eine solche Struktur auch aus einer horizontal organisierten sozialen Bewegung erwachsen?
Darauf gibt es keine allgemeingültige, eindeutige Antwort. Es gibt Staaten, in denen Graswurzelbewegungen entstehen, etwa im Sudan, wo sich lokale Proteste gegen das Regime von Omar al-Baschir auf das gesamte Land ausgeweitet haben. Anderswo gibt es neue Führungsfiguren, die diese schwierige Aufgabe übernehmen, beispielsweise Corazon Aquino in den Philippinen nach dem Tod ihres Mannes.
Russland aber ist neben vielem anderen ein sehr großes Land. Viele Proteste waren und sind lokaler Natur. Das ist für die Regierung sehr günstig, weil deshalb eine Politik des „teile und herrsche“ verfolgt werden kann. In Russland ist es so, dass die Mütter aus Dagestan nicht bis nach Moskau kommen werden.
Könnte eine koordinierende Organisation oder ein Anführer aus dem Nichts entstehen?
Auch das wissen wir nicht. Es gibt keinerlei Gesetzmäßigkeit, die besagen würde, dass bei einer bestimmten Reihe von Faktoren dies oder jenes geschehen wird.
Deshalb können wir oft keine Prognosen anstellen, sondern bestenfalls im Nachhinein Erklärungen liefern. Wir können von einer größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit einer Entwicklung sprechen; wir können aber unmöglich sagen, dass diese und jene Umstände eine Führungsfigur hervorbringen werden.
Studien zu autoritären Regimen besagen, dass Massenproteste an und für sich keineswegs immer zum Sturz eines Regimes führen. Voraussetzung dafür sind vielmehr auch Konflikte innerhalb der Elite. Dennoch geht aus der Studie auch hervor, dass seit dem Zweiten Weltkrieg in immerhin rund einem Drittel der Fälle ein autoritäres Regime durch massenhafte Unzufriedenheit und Proteste in der Gesellschaft zusammenbrach.
Ja, es gibt Beispiele dieser Art. Wir können aber nicht sagen, dass es eine Liste von Zutaten und ein sicheres Rezept gibt, weil sehr viel davon abhängt, wie die Gruppen, die an der Macht sind, für sich das Risiko [eines Machtverlusts] einschätzen, und über welche Ressourcen sie verfügen.
Hier sind die Unterschiede zwischen verschiedenen Typen autoritärer Regime wichtig. Für einige ist eine kollektive Führung charakteristisch. Das bedeutet, dass es dort verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Positionen und unterschiedlichem Potenzial gibt. Manchmal führen Konflikte innerhalb dieser Elite zu einem Umsturz.
In personalistischen Regimen jedoch, zu denen auch das Regime in Russland gehört, ist kein Mechanismus für kollektive Entscheidungen vorgesehen. Hier ziehen Angehörige der Eliten den individuellen „exit“ einem kollektiven Widerspruch, „voice“, vor. Mehr noch: Für sie sind die Risiken nicht geringer, sondern sogar höher als für gewöhnliche Bürger. Sie haben, grob gesagt, mehr zu verlieren.
Wir sollten heute nicht erwarten, dass es zu einer Spaltung innerhalb der Elite kommt. Ich schließe eine solche Entwicklung nicht aus, doch wird sie nicht spontan, von selbst eintreten, nicht einfach nur, weil jemand mit irgendetwas nicht einverstanden ist. Wer nicht einverstanden ist, wird sich vielmehr bedeckt halten und womöglich abwarten, dass sich die Lage in eine günstigere Richtung entwickelt.
Das ist ein rationales Verhalten, wenn man sich anschaut, wie diejenigen an der Macht und die einzelnen Bürger das Risiko ihrer Schritte einschätzen. Wenn Sie davon ausgehen, dass weder kollektiver Widerspruch, „voice“, noch individueller „exit“, Abwanderung, Sie retten wird, was können Sie dann noch tun?
Die Frage ist doch, wie solche Vorstellungen über die eigenen Risiken und Möglichkeiten zustandekommen.
Sie stützen sich auf reale Erfahrungen, von denen die Menschen, wenn sie sie nicht unmittelbar selbst gemacht haben, durch Medien, soziale Netzwerke und so weiter wissen. Es ist durchaus logisch, dass viele Menschen angesichts einer Krise beschließen, sich entweder gehorsam zu fügen oder gar nichts zu tun. Das mag für sehr viele Beobachter, die eine größere Aktivität sehen wollen, unangenehm sein. Menschen verhalten sich aber so, und nicht anders; und zwar nicht nur dann, wenn eine Mobilmachung ansteht.
Und diese Logik ist besonders für Russland typisch?
Diese Logik gibt es in vielen Gesellschaften. Es ist allerdings so, dass es in einigen Ländern Institutionen gibt, die die Menschen dazu anregen, sich anders zu verhalten, während solche Institutionen anderswo eben fehlen. Wenn in einer Demokratie die Regierung einen derart monströsen außenpolitischen Fehler begeht, einen unpopulären Krieg entfesselt[, dann gibt es Möglichkeiten, darauf Einfluss zu nehmen].
Der US-amerikanische Einmarsch in den Irak zum Beispiel fand schon bald nach seinem Beginn kaum noch Zustimmung, und als es in den USA einen Regierungswechsel gab, zogen sich die Amerikaner aus dem Irak zurück. Die Verluste waren hoch, aber es gab eine Aufarbeitung der Fehler. Das wurde unter anderem durch die Haltung der amerikanischen Wähler und gleichzeitig der amerikanischen Eliten möglich.
In autoritären Regimen aber fehlt dieser Mechanismus. Es ist nicht vorstellbar, dass sich die Eliten in Russland jetzt zusammentun und Putin stürzen. Zumindest erscheint das heute sehr unwahrscheinlich. Und die Bürger in Russland haben derzeit keine Möglichkeit, mit ihren organisierten Protesten die Außenpolitik zu ändern.
Die russische Gesellschaft ist so strukturiert, dass ihre Reaktion auf die wegen der Mobilmachung entstandene Krise für sie durchaus logisch und begründet ist. Unter anderen Bedingungen aber würden die Russen und auch die Eliten sich anders verhalten.