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„Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

Die Besondere Meinung (Ossoboje Mnenije) ist ein festes Format auf dem Radiosender Echo Moskwy. Zweimal täglich äußern hier Medienschaffende, Politiker und Experten ihre Meinung zu aktuellen Ereignissen. Yevgenia Albats, Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenmagazins The New Times, ist regelmäßig in der Sendung zu Gast. Geleitet wird Besondere Meinung von wechselnden Moderatoren, unter anderem von Tatjana Felgengauer. Die bekannte Radiomoderatorin ist stellvertretende Chefredakteurin des Senders.

Besondere Meinung ist interaktiv, Zuhörer bekommen Gelegenheit eigene Fragen zu schicken, im Internet wird ein Videostream live aus dem Studio übertragen. Außerdem gibt eine Art Stimmungsbarometer online Auskunft darüber, wie sehr die Zuhörer mit der eben geäußerten Meinung übereinstimmen oder nicht. Das Format bietet allerdings weniger tiefschürfende Analysen, sondern zumeist eine adhoc-Reaktion zu aktuellen Ereignissen.

Das betrifft auch Yevgenia Albats’ unten stehende Aussagen zu Poroschenko unmittelbar nach Veröffentlichung der Panama Papers. Dies geschah noch, ehe sich der Hromadske.tv-Redaktionsbeirat von den Anschuldigungen distanziert hatte und ehe es eine weitere Einordnung und Differenzierung der umstrittenen Vorwürfe gegen den ukrainischen Präsidenten gab1.

Bei Besondere Meinung werden nicht nur unabhängige Stimmen eingeladen, sondern auch regierungstreue. Echo Moskwy gilt als unabhängiger Sender mit langer Tradition (gegründet 1991), ist aber seit 2001 mehrheitlich im Besitz der Gazprom-Medienholding, die sich ihrerseits mehrheitlich in Staatsbesitz befindet. Zwischen der Redaktion und Gazprom-Media gab es in den vergangenen Jahren mehrfach Konflikte, auch tauchten Hinweise auf, dass in Einzelfällen heikle Inhalte vor ihrer Veröffentlichung mit staatlichen Stellen abgestimmt wurden.2  So lassen sich an dem Sender und seinen Formaten auch die Ambivalenzen der russischen Medienlandschaft ablesen, wo eine schnelle Einordnung in Schwarz oder Weiß nicht immer so einfach möglich ist. Auch das sollte man berücksichtigen, wenn man zuhört, wie sich bei Besondere Meinung zwei Grandes Dames des russischen Journalismus über tagesaktuelle Themen austauschen.

Источник Echo Moskwy

Tatjana Felgengauer: Wir setzen die Sendung Besondere Meinung fort, ich heiße Tatjana Felgengauer und ich begrüße im Studio die Chefredakteurin des Wochenmagazins The New Times, Yevgenia Albats. Guten Tag. 

Yevgenia Albats: Hallo, Tatjana. Ich muss mich entschuldigen, der Boulevardring war gesperrt wegen einer Eskorte.

Ich stelle Ihnen dieselbe Frage wie vorhin den anderen, weil mich Ihre Meinung dazu interessiert: Weshalb braucht Wladimir Putin eine Nationalgarde?

Deshalb, weil Wladimir Putin am allermeisten auf der Welt sein Umfeld fürchtet. Er braucht Leute, die ihn garantiert beschützen.

Solotow, General Solotow, glaube ich, ist einer von denen, die Putin absolut treu ergeben sind und ihn bis zum Letzten verteidigen würden. Bei Weitem nicht alle in Putins Umfeld würden das tun.   

Die größten Terroristen sind für unsere Regierung die Bürger

Eine mögliche Aufgabe ist außerdem der Kampf gegen den Terror (wie Putin gesagt hat), aber da haben natürlich alle Experten gesagt, dass es „außerdem ja auch Massenausschreitungen und Ähnliches“ gebe.

Natürlich – die größten Terroristen sind für unsere Regierung die Staatsbürger der Russischen Föderation. Tanja, ich habe gehört, was Golts dazu gesagt hat, den ich sehr liebe und schätze. Aber trotzdem, mir scheint, dass die derzeit wichtigste Frage die nach dem Schutz Putins ist. Wenn man die Rhetorik hier in der vergangenen Zeit betrachtet, so ist sie komplett, wie soll ich sagen, putinozentrisch: Alles, was in der Welt passiert – alles ist gegen Putin Wladimir Wladimirowitsch gerichtet.

Putinophobie – sie ist die Hauptsache im derzeitigen Weltgeschehen. Die Welt hat überhaupt nichts anderes im Sinn als die psychische und sonstige Gesundheit von Putin Wladimir Wladimirowitsch, sein Vermögen, sein Geld, seine Freunde und so weiter.  

Wenn man die Rhetorik der vergangenen Zeit betrachtet, so ist sie komplett putinozentrisch

In Wirklichkeit hat die Welt aber sehr viel anderes zu tun. Und Putin Wladimir Wladimirowitsch steht irgendwo auf Platz 125. Na, vielleicht 127 oder 115.

Sowas kennt man ja. Diktatoren geraten immer wieder in ein Informationsvakuum, das sie selber erschaffen und dem sie selber zum Opfer fallen.

Daher ist die Vorstellung von der Welt da draußen, grob gesagt, beschränkt auf das, was Rossija 24 oder Rossija 1 senden, oder MIA Nowosti und dergleichen, und auf die roten Akten, in denen es ebenfalls um Gefahren für Wladimir Wladimirowitsch Putin geht.

Ganz generell zu den Reaktionen auf die Panama Papers, auf diese gigantischen Ermittlungen: Die Reaktionen anderer Länder und Russlands – inwieweit waren die für Sie vorhersehbar?

Also, absolut klar war, dass man darauf in allen Ländern ablehnend reagieren würde. Weil die Regierungen aller Länder gern etwas verbergen, und Leute mit Geld verbergen gern ihr Geld.

Am meisten interessiert mich natürlich, was hier in Russland passieren wird. Es hat nun endlich geheißen, dass die Generalstaatsanwaltschaft das prüfen wird. Außerdem haben wir gehört, dass Dimitri Peskow keine Anklage erhebt, weil er keine Zeit hat.   

Und natürlich bin ich sehr neugierig auf die Reaktionen in der Ukraine. Bei den Offshore-Geschäften dort geht es ja nicht um große Summen, das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Poroschenko mit dem Versprechen an die Macht kam, dass er alles absolut transparent machen wird. Und jetzt kommt raus, er hat eine Offshore-Firma, auf die, soweit ich das verstehe, sein Konditorei-Business übertragen wurde oder übertragen werden sollte. Das ist alles jenseits von Gut und Böse. Poroschenko wurde von Menschen zum Präsidenten gewählt, die bereit waren, für die Freiheit ihr Leben zu opfern. Und manche haben es auch geopfert. Da ist das natürlich völlig unmöglich.

Lassen Sie uns nochmal auf Russland zurückkommen und auf die Russen, die von den Ermittlungen betroffen sind. Wer interessiert Sie da am meisten? 

Vor allem interessiert mich natürlich dieses ganze Offshore-Netz, das, wie sich herausstellte, dem Cellisten Sergej Roldugin gehörte. Einfach weil das unheimlich viel Geld ist.

Wie viel weiß Putin wohl von der unglaublich erfolgreichen Geschäftstätigkeit Roldugins, von dem er wahrscheinlich bisher annahm, dass er nur Cello spielt?

Da tauchen enorm viele Fragen auf. Soweit ich weiß, wurden diese Offshore-Firmen auf den Virgin Islands und in Panama im Sommer 2015 geschlossen, wurden dann aber auf Offshore-Firmen in Belize übertragen. Ich möchte daran erinnern, dass zu dieser Zeit, genau im Jahr 2015, ein Gesetz erlassen wurde, für das Wladimir Putin selbst lobbyierte: Unternehmen und russische Staatsbürger, die Offshore-Firmen betreiben, waren nun verpflichtet, die Steuerbehörden darüber in Kenntnis zu setzen.

Also möchte ich schon sehr gerne wissen, ob Herr Roldugin oder seine Gehilfen die Steuerbehörden wohl in Kenntnis gesetzt haben oder nicht? Und wie viel Ahnung Putin Wladimir Wladimirowitsch davon hat, was für eine unglaublich erfolgreiche Geschäftstätigkeit dieser Mensch ausgeübt hat, von dem er wahrscheinlich annahm, dass er nur Cello spielt.  

Unsere Hörer kommen jetzt wieder auf das Thema der vergangenen Stunden zurück, auf die Nationalgarde. Erstens kam mehrmals die Frage: Der Wunsch, die persönliche Sicherheit zu verstärken, womit hat der zu tun? Und steht er in einem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation im Land? 

Ich glaube, wichtig ist hier vor allem zu verstehen, dass Putin – abgesehen davon, dass er ein Mensch aus Fleisch und Blut ist – vor allem eine Funktion ausfüllt.

Seine Funktion besteht für Unternehmen, für seine nächste Umgebung und so weiter darin, dass er im Land für eine Stabilität gesorgt hat, die es möglich macht, normale Business-Pläne zu erstellen und Einnahmen und Ausgaben zu kalkulieren. Dass er den Zugang zum westlichen Markt geöffnet und die Möglichkeit geschaffen hat, dass man ein Unternehmen in Russland führen und gleichzeitig in den leckeren Ländern Europas leben kann.

Und auf einmal ist das alles vorbei. Und das billige Geld ist auch alle.  

Plus die Sanktionen. Da wollten sie die Eurobonds platzieren – daraus wurde nichts. Plus die Nullinvestitionen. Die Geschäfte stagnieren.

Putin hat uns mit seinen unüberlegten Aktionen unserer Zukunft beraubt. Es gibt sie nicht! Aus, vorbei!

Das Wichtigste – darüber schreibe ich gerade jetzt in der aktuellen Ausgabe von The New Times – ist, dass unser Horizont praktisch nur bis zum Jahr 2018 reicht. Wir wissen nicht, wie es dann weitergeht. Das ist furchtbar. So können die Menschen nicht leben, man kann weder ein Familienbudget planen noch ein Firmenbudget. Überhaupt nichts kann man planen, weil der Horizont so begrenzt ist. Putin hat uns mit seinen unüberlegten Aktionen unserer Zukunft beraubt. Es gibt sie nicht! Aus, vorbei!

Das Problem betrifft nicht nur Sie und mich. Wir wissen, dass das Bruttosozialprodukt mindestens noch weitere drei Jahre fallen wird, allen Prognosen zufolge. Und das heißt, wir wissen genau, dass wir Jahr für Jahr ärmer werden, immer ärmer und ärmer, und unser Leben ziemlich schwierig werden wird.

Die Bedrohung für Putin geht von seinem engsten Umfeld aus. Dem engsten! Das sind nicht die Liberalen und die Demokraten.

Aber nicht nur wir wissen nicht, wie es weitergeht, das wissen auch die engsten Vertrauten Putins nicht. Sie haben sich nicht darüber beraten. Sie haben, als sie Putin an die Macht brachten und dann selber aufgestiegen sind, in ihn investiert und Unterschriften geleistet und so weiter. Und überwiesen haben sie diese ganzen ... Was war das? Die Kerimow-Strukturen, vier Milliarden Rubel, und dann wurde das Recht, vier Milliarden zu fordern, für einen Dollar an Roldugins Vertraute verscherbelt, ja? Also die, die dafür zahlten und so weiter, die verstehen ja auch nicht: wofür eigentlich?

Früher war klar: Er wurde reicher und sie wurden reicher. Aber jetzt werden alle ärmer. Daher geht die Bedrohung für Putin natürlich von seinem engsten Umfeld aus. Dem engsten! Das sind nicht die Liberalen und die Demokraten. Nein, das sind die im nächsten Umfeld, die plötzlich kapiert haben, dass auch sie nach 2018 keine Zukunft haben. Das ist ein großes Problem.    

Kurz zur Situation in Nagorny Karabach, weil auch dort viel passiert – es gibt noch keinen richtigen Krieg, aber die Situation spitzt sich zu. Was denken Sie, wird man den Konflikt wieder auf Eis legen können? Unser Hörer Dimitri fragt, von wem oder was jetzt eine Beruhigung in Nagorny Karabach abhängt.

Die hängt weitgehend von Russland ab, weil Armenien eigentlich eine große Militärbasis für Russland darstellt. Dort befinden sich, glaube ich, drei russische Stützpunkte. Und Armenien ist komplett von der Russischen Föderation abhängig, sowohl was die Grenzüberwachung betrifft als auch die Finanzen. Im Grunde ist das ein absolut abhängiges Protektorat Russlands. Deswegen können Russland und Putin, oder wer auch immer, die Führung Armeniens durchaus zur Vernunft bringen. Sie können dementsprechend auch auf ihre Leute in Nagorny Karabach einwirken.

Andererseits, Aserbaidschan ... Die Nachricht, dass auf Seiten Aserbaidschans türkische Söldner kämpfen, gefiel mir gar nicht. Sie gefiel mir deswegen ganz und gar nicht, weil wir wissen, dass Putin natürlich gegenüber Erdogan auf Rache sinnt. Wenn nur diese Situation nicht genau dafür genutzt wird, den Türken irgendwie einen Schlag zu versetzen. Doch ich denke auf jeden Fall, dass der Schlüssel zu Karabach, zur Lösung des dortigen Konflikts, in Moskau liegt.

Man müsste Michail Gorbatschow fragen. Würde mich sehr interessieren, was er zu Nagorny Karabach sagt

Außerdem, Tanja, es ist ein Wahnsinn, diese Nachrichten versetzen mich ständig zurück in meine Jugend. Wie ich für die Zeitung Moskowskije nowosti arbeitete und wir über Stepanakert schrieben, und Primakow nach Baku fuhr, und alle diskutierten die Lage in Nagorny Karabach und studierten die Karten und versuchten zu verstehen, was denn dort los ist. Ich hoffe inständig, dass der Albtraum, der damals in Aserbaidschan stattfand, sich nicht wiederholt für die Minderheiten, die in Aserbaidschan lebten und leben.

Nein, nein, ich will da auf keinen Fall etwas zusammenreimen, aber es ist schon verblüffend, wie ... Das erinnert mich sehr an 1989/90.

Man müsste Michail Gorbatschow fragen. Der hört wahrscheinlich unsere Sendung. Würde mich sehr interessieren, was er dazu sagt.  

Vielen Dank. Das war die Besondere Meinung von Yevgenia Albats. Danke.

Danke.

Auf Wiedersehen.


1.Der Spiegel: Panama Papers: Warum Poroschenko diesmal zu Unrecht am Pranger steht und voxukraine.org: Poroshenko Offshore Case Raises Multiple Legal and Institutional Questions und Hromadske.tv: Rozsliduvannja «Slidstva» pro ofšory Porošenka – vysnovok Redakcijnoi rady
2.Novaya Gazeta: «Šaltaj-Boltaj» opublikoval predpolagaemuju perepisku glavy Roskomnadzora

 

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Erster Kanal

Die Geschichte des Senders reicht bis in die Sowjetunion zurück. Der Perwy Kanal (dt. Erster Kanal) des Zentralen Sowjetischen Fernsehens war bis 1965 der einzige, der in alle elf Zeitzonen des Landes ausgestrahlt wurde. Einige Sendungen von damals sind noch heute im Programm – etwa die einflussreiche Nachrichtensendung Wremja (dt. Zeit), das Studentenkabarett KWN (Klub Wesjolych i Nachodtschiwych, dt. Club der Lustigen und Findigen) oder die Kult-Spielshow Tschto? Gde? Kogda? (dt. Was? Wo? Wann?), nach deren Vorbild im ganzen Land und in der russischen Diaspora begeisterte Spielzirkel entstanden.

Auch seit dem Zerfall der Sowjetunion ist das Programm aus Informations- und Unterhaltungssendungen ausgesprochen beliebt. Anders als viele Privatsender, die in den Machtkämpfen der 1990er Jahre teilweise zu Waffen politischer Herausforderer des Kreml wurden, befand sich der Erste Kanal dabei stets unter direkter oder indirekter Kontrolle des Staates. Als eine seiner ersten Amtshandlungen formte Präsident Boris Jelzin im Dezember 1991 den sowjetischen Rundfunk zur staatlichen Fernseh- und Radioanstalt Ostankino um. 1994 wurde Ostankino in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und in Russisches Öffentliches Fernsehen (ORT) umbenannt. Der Staat besaß und besitzt noch immer 51 Prozent der Aktien, den Rest hielten Banken und Konzerne verschiedener Großunternehmer, unter anderem des Oligarchen Boris Beresowski.1 Der Sender unterstütze mit Beresowskis aktiver Beteiligung 1996 die Wahlkampagne des politisch angeschlagenen Jelzin und verhalf in den Jahren 1999 und 2000 dem noch relativ unbekannten Wladimir Putin zu hoher Popularität – und damit zum Wahlsieg. Als Beresowski kurze Zeit später aufgrund einer Auseinandersetzung mit der politischen Elite das Land verlassen musste, verkaufte er seine ORT-Aktien an den kremlnahen Oligarchen Roman Abramowitsch.2  Im Jahr 2011 gab dieser rund die Hälfte davon an die Nationale Mediengruppe des Unternehmers Juri Kowaltschuk ab.3 2016 beschloss die Duma eine Gesetzesänderung, wonach ausländische Bürger nur 20 Prozent der Anteile an einem russischen Medium halten dürfen. Da Abramowitsch 2018 israelischer Staatsbürger wurde, verkaufte er weitere vier Prozent der Aktien an die Nationale Mediengruppe. Schließlich trennte er sich im März 2019 von den restlichen 20 Prozent der Anteile: Das Paket ging an die Bank VTB Kapital, die zur Staatsholding VTB gehört.

2002 wurde ORT in Perwy Kanal  (dt. Erster Kanal ) umbenannt, auch um an die Bezeichnung aus sowjetischer Zeit anzuknüpfen.4 Er ist auch aufgrund seiner oft aufwendig produzierten Serien und Filme in der Bevölkerung enorm populär – und erreicht eine überwältigende Mehrheit der Haushalte. Einer Umfrage des Lewada-Zentrums zufolge ist das Fernsehen für 93 Prozent der Russen die wichtigste Informationsquelle. Die Nachrichtensendungen des Ersten Kanals nehmen dabei eine Spitzenstellung ein: 82 Prozent der Fernsehzuschauer gaben an, sie regelmäßig zu sehen. Zudem vertrauen 50 Prozent der Befragten den Informationen, die sie im Fernsehen erhalten.5

Angesichts dieser Zahlen verwundert es nicht, dass die staatlich kontrollierten Fernsehsender6 eine zentrale Rolle in der politischen Kommunikation des Kreml spielen. Die Kontrolle über die politischen Aussagen und gesellschaftlichen Werte,7 die durch das Fernsehen an die Bevölkerung transportiert werden, erlaubt es dem Staat nach Ansicht der Politikwissenschaftler Petrow, Lipman und Hale, in den übrigen Medien Pluralismus zu tolerieren. Durch positive Darstellung der Regierung im Fernsehen könne Legitimität erzeugt werden, ohne dass man vollständig auf die investigativen Recherchen freier Medien, die auch für die Regierung wichtige Informationen enthalten, verzichten müsse.8

Als wichtige Stütze der staatlichen Informationspolitik vertritt der Sender die Regierungslinie und übt Kritik an der politischen Opposition sowie – seit den Massendemonstrationen von 2011/12 und dem Ukraine-Konflikt – an der so genannten Fünften Kolonne. Wichtige Formate bei der Verbreitung politisch gewünschter Positionen sind die Talkshows Politika und Wremja pokashet (dt. Die Zeit wird es zeigen), die der explizit regierungstreue Journalist Pjotr Tolstoj moderiert. Im Zuge des Ukraine-Konflikts verbreitete der Erste Kanal außerdem Falschmeldungen über die Handlungen der neuen Kiewer Regierung sowie die Gründe für den Absturz des Fluges MH-17 über der Ostukraine.9 Gleichwohl gibt es auch im Ersten Kanal begrenzten Raum für regierungskritische Stimmen. So hat der Journalist Wladimir Posner dort im Nachtprogramm eine Nische für seine professionellen und empathischen Interviews10 gefunden. In diesen Gesprächen äußert Posner auch eigene Positionen, die sich – insbesondere in gesellschaftspolitischer Hinsicht – stark vom offiziell sanktionierten Konservatismus unterscheiden. Posner selbst hat jedoch im Mai 2015 erklärt, dass der Sender die Auswahl seiner Gesprächspartner strikt kontrolliere und sein Format jederzeit auf Drängen der Regierung absetzen könne.11 Mindestens ein Fall von direkter Zensur eines Interviews ist bekannt: Aus einem Interview wurde eine Passage über die Medienfreiheit und den Blogger und Oppositionspolitiker Alexej Nawalny entfernt.12

Stand: 12.03.2019


1.Oates, Sarah (2006): Television, democracy and elections in Russia, London, S. 36f.
2.The Moscow Times: Abramovich buys 49% of ORT
3. Kommersant: Jurij Kovalčuk +1
4.The European Audiovisual Observatory (2003): Television in the Russian Federation - Organisational structure, programme production and audience, Strasbourg, S. 37
5.Die zitierten Lewada-Statistiken sind in den Russland-Analysen Nr. 294 (S. 8ff.) in deutscher Übersetzung erschienen
6.Neben dem Ersten Kanal sind das der Zweite Kanal, die Sender Rossija-1 und Rossija-24 sowie einige Dutzend regionale Sender.
7.Für eine Darstellung zur Verbreitung gesellschaftlicher Normen durch fiktionale Mini-Serien siehe Rollberg, Peter (2014): Peter the Great, Statism, and Axiological Continuity in Contemporary Russian Television, in: Demokratizatsiya, 22 (2), S. 335-355
8.Petrov, Nikolay, Lipman, Maria & Hale, Henry E. (2014): Three dilemmas of hybrid regime governance: Russia from Putin to Putin, S. 7 in: Post-Soviet Affairs, 30 (1), S. 1-26
9.Eine Gruppe russischer Intellektueller forderte im Oktober 2014 Konstantin Ernst, den Chef des Senders, dazu auf, die Falschmeldungen zuzugeben, siehe: The Moscow Times: Russian intellectuals ask state run TV to acknowledge falsifications in Ukraine-Reports
10.Eine Auswahl der Gespräche gibt es auf Youtube – einige auch mit englischen Untertiteln.
11.Dw.com: Wladimir Posner: W Rossii segodnja net shurnalistiki
12.Siehe dazu einen Artikel der russischen Nachrichtenagentur auf Interfax aus dem Jahr 2012: Posneru nadoela zensura (dt. Posner ist die Zensur leid).
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