Seltsame Verkehrungen in Russlands Selbstbild beobachtet Maxim Trudoljubow von den Vedomosti: Die offiziellen Medien stilisieren die Weltgemeinschaft zu einer Art globaler UdSSR und messen Russland selbst in dieser die Rolle des standhaften, von allen drangsalierten Verweigerers an. Also dieselbe Rolle, welche in der echten, tatsächlichen UdSSR die Dissidenten innehatten. Da dasselbe Russland sich wiederum gern als direkten Nachfolger der Sowjetunion betrachtet, ist das nicht nur ein Widerspruch, warnt der Kolumnist, sondern Anzeichen eines bedenklichen Realitätsverlustes.
Die russische Gesellschaft sieht sich nicht. Wie auch jede andere Gesellschaft und jeder Mensch sich selbst nicht sieht. Um sich selbst zu sehen, braucht man einen Spiegel. Häufig erfüllen die Medien diese Funktion in der Gesellschaft. In Russland spiegeln sie allerdings nicht das Leben der Bewohner Russlands wider, sondern das Leben der Anderen. Die Medien bombardieren die Bevölkerung mit Artikeln über Kriege, Gezänk und Krisen in Griechenland, im Nahen Osten, in Europa und selbstverständlich in der Ukraine. Überall Krisen, in jeder Regierung tummeln sich Politiker, die sich am Staat bereichern, alle Länder befinden sich im Würgegriff von verantwortungslosen Staatsapparaten, von Korruption und Fremdenfeindlichkeit. Doch in Russland geschieht so etwas natürlich nicht, denn es erscheint ja nicht auf den Fernsehbildschirmen.
Und wenn dann doch in irgendwelchen Zusammenhängen mal negative Themen aufscheinen, so – und das leuchtet jedem sofort ein – liegen die Gründe für Rezession, Inflation, Ärztemangel und polizeiliche Willkür ausnahmslos außerhalb der Landesgrenzen. Die Gründe liegen immer im Außen. Es erstaunt wirklich, dass es in der russischen Geschichte eine Zeit gegeben hat, in der Bürger bei der Betrachtung von Kausalzusammenhängen tatsächlich die Staatsmacht miteinbezogen haben. Wie in den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor ist das heute wieder anders. Es ist eine alte Tradition. „Stalins politische Begabung bestand teilweise in seiner Fähigkeit, Bedrohungen von außen mit Misserfolgen in der Innenpolitik derart gleichzusetzen, als wären sie ein und dasselbe und als wäre er persönlich weder für das eine noch für das andere verantwortlich“, schreibt der Historiker Timothy Snyder in seinem Buch Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. „Und 1930, als die Probleme der Kollektivierung offen zu Tage traten, sprach er bereits von einer internationalen Verschwörung der Trotzkisten mit verschiedenen ausländischen Staaten.“
Demnach ist der Umstand, dass die Menschen in Russland weder sich noch die innenpolitischen Probleme sehen, wohl aber eine Welt da draußen, voller Gefahren und Verrat, also nichts Neues. Doch es wäre interessant zu wissen, was sie eigentlich sehen? Welches Bild eigentlich vor ihrem Auge entsteht, wenn die Erzeuger der medialen Welt ihre Instrumente zur Hand nehmen und mit ihrer schöpferischen Arbeit beginnen?
Bei einer der wichtigsten Polit-Talkshows hat der bekannte Journalist Witali Tretjakow die Situation der Nicht-Einladung Russlands zum Treffen der G7 wie folgt kommentiert: „Es ist ehrenvoll, ein Dissident zu sein.“ Russland, erklärte Tretjakow, sei die wirklich „intelligente Minderheit“ dieser Welt. Man erklärt uns immer, die Mehrheit, das sei der Mainstream, die dumpfe Masse, und hier haben wir sie, die kluge Minderheit: Russland. Das ist ein tiefsinniger Vergleich. Es lohnt sich, ihn zu ergänzen um die seit Langem im Russischen gebräuchlichen Vergleiche von Washington und Brüssel mit dem seinerzeit sehr einflussreichen, allgegenwärtigen Obkom. Russland führt – wie ein kollektiver Dissident in der großen und autoritären Welt – einen ungleichen Kampf gegen die Kräfte eines Welt-ZK der KPdSU und KGB. Aufeinandertreffen dieser Art gibt es immer weider, sei es bei der FIFA-Affäre, in der Blatter fast schon als Dissident dargestellt wird, sei es in Geschichten über Griechenland, in der Tsipras die Rolle des Verfolgten spielt. Russland, der Bürgerrechtler, schützt selbstverständlich die Verfolgten. Und die „Obkoms“ knurren zurück. Sie sind nicht mehr die, die sie unter Stalin waren. Sie gleichen mehr den Staatsorganen der Breshnew-Zeit, in Maßen blutrünstig, vor allem aber hart und verschlagen. Mit Russland machen sie in etwa das, was die sowjetischen Organe damals mit den Dissidenten innerhalb Russlands gemacht haben. Sie trachten danach zu diffamieren, erheben diverse absurde Vorwürfe, verhängen Sanktionen, kappen Einkommensquellen, verurteilen und schicken in die Verbannung. Russland heute, das ist in der Vorstellungswelt der medialen Propagandisten ein fabelhafter Sacharow, ein Herausgeber der Chronik des Zeitgeschehens (soll heißen jetzt: Russia Today), ein aller Auszeichnungen Beraubter (aus der Gruppe der G8 gejagt) und ein nach Gorki Verbannter (Einreiseverbot für einzelne Regierungsvertreter).
Das bedeutet, dass die, die das Regime vertreten und verteidigen, sehr gern als hochgeschätzte Figuren angesehen würden – draußen in der Welt. Innerhalb des Landes, dem du die Macht gewaltsam aufdrängst, wird es keine echte Wertschätzung geben, also gehst du ins Außen. Die sowjetische Lebenswelt hat wahrscheinlich jene stark traumatisiert, die sich heute als Elite und politische Klasse bezeichnen. Sie möchten gern ebene jene „kluge Minderheit“ sein, doch innerhalb von Russland ist das nicht möglich, dieser Platz ist besetzt von der Opposition und denkenden Menschen. Die gilt es kaltzustellen, was wiederum heißt, in der höchst unangenehmen Rolle als Vertreter des Pöbels aufzutreten. Allein der Umstand, dass die Welt, die die russischen Propagandamacher malen, ein große weltumspannende UdSSR ist, sagt uns viel über sie.
Sie malen eine Welt, die der UdSSR ähnelt, und wollen aussehen wie die Mächte des Guten, wobei Dissidententum als das Gute gilt. Dabei muss ihnen doch eigentlich klar sein, dass sie unter Bedingungen eines durchchoreographierten öffentlichen Lebens nicht die Kräfte des Guten sein können. Aber eines ist merkwürdig. Es ist merkwürdig, dass eine derartige Menge ganz normaler und im Grunde genommen nicht schwertraumatisierter Bürger Russlands mit Vergnügen dieses tägliche Theater im Fernsehen mitansehen. Möglicherweise ist es ihnen, wie auch den Kreml-Chefs, einfach zu traurig, sich wirklich umzusehen. Man will sich einfach nicht mit dem beschäftigen, was ansteht, man will es den Nachgeborenen überlassen.