Alexander Gronsky ist einer der wenigen Fotografen, die nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in Russland geblieben sind. Er arbeitet an einer Serie von Bildern, auf denen der scheinbar kaum veränderte Moskauer Alltag untergründig im Zeichen unterschiedlicher Formen aggressiver militaristischer Propaganda verläuft.
dekoder sprach mit dem berühmten Moskauer Stadtlandschaftsfotografen über sein aktuelles Arbeiten, das anschließt an Moskau während des KriegesAlexander Gronsky: Moskau während des Krieges Während Russland versucht die Ukraine einzunehmen, fotografiert Alexander Gronsky die Straßen und Vorstädte Moskaus. Die Stadt sieht aus wie zuvor, aber sie so anzuschauen wie früher, gelingt nicht. , eine Sammlung vom Juli 2022.
dekoder: Hast du das Gefühl oder beobachtest du, dass sich die Atmosphäre auf den Straßen Moskaus in diesen eineinhalb Jahren Krieg verändert hat?
Alexander Gronsky: Es wirkt, als hätte sich gar nichts verändert. Nur die Kriegspropaganda ist mehr geworden, aber davon gab es eigentlich auch vor dem 24. Februar 2022 schon viel, nur hat sie niemand ernst genommen. In vielerlei Hinsicht waren diese fehlenden sichtbaren Veränderungen in meinem Umfeld für mich der Ausgangspunkt meiner Arbeit. Ich befinde mich gewissermaßen inmitten der Prozesse und Ereignisse, doch die sind als solche fast unsichtbar.
Was bringen dir deine Streifzüge durch Moskau mit dem Fotoapparat persönlich, wofür nimmst du das alles auf, welchen Sinn siehst du darin?
Für mich persönlich ist das eine Möglichkeit, mich zu konzentrieren und weniger in Panik zu geraten. Die Frage nach dem Sinn ist schwieriger, die verschiebe ich in die Zukunft. Das heißt, für mich ist klar, dass das Geschehen zur „unbequemen Geschichte“ gehören wird, die man lieber vergessen wollen wird, also müssen wir jetzt „unbequeme Archive“ für die Nachwelt anlegen.
Fallen dir auf den Straßen Moskaus, abgesehen von den Propagandaplakaten und anderen „neuen“ Elementen „städtischer Ausgestaltung“ in Kriegszeiten, die deine Fotos zeigen, noch andere Spuren des Kriegs auf? Kriegsversehrte, Z-Aufkleber, Kriegsgerät, Folgen von Drohnenattacken, „Z-patriotische“ T-Shirts und dergleichen? Sind auf der Straße oder an sonstigen öffentlichen Orten Gespräche über den Krieg zu hören?
Die Drohnenattacken sind die ersten Zeichen eines realen Kriegs, die in Moskau aufgetreten sind. Doch ich glaube, die, die hier geblieben sind, haben sich gedanklich schon auf das Schlimmste vorbereitet – diese Explosionen haben niemanden wirklich schockiert. Ansonsten ist alles wie immer, man geht shoppen und Cocktails trinken.
Ist es im Vergleich zu den Jahren davor schwieriger geworden, auf der Straße zu fotografieren? Hat sich die Reaktion der Passanten oder vielleicht auch der Polizei auf einen Mann mit Fotoapparat verändert?
Nein, den Eindruck habe ich nicht.
Wofür lebt derzeit die Moskauer oder generell die russische Fotografenszene?
Die russische Fotografenszene lebt jetzt im Ausland. Die paar Fotografen, die geblieben sind, leisten eine wichtige Arbeit, aber sie bilden keine Szene. Es fühlt sich leer an. Allerdings hilft das, die Faulheit zu überwinden, auf einmal wirkt das Argument: „Wenn ich das jetzt nicht fotografiere, wird es womöglich keiner je fotografieren.“
Fotografie: Alexander GronskyMärz: Alexander Gronsky An Moskaus ausgefransten Rändern: Alexander Gronskys Serie Pastoral erkundet das Leben an der Grenze zwischen Beton und Grün. Bildredaktion: Maksim Sher Übersetzung: Ruth Altenhofer Veröffentlicht am 31.08.2023
In den russischen Statistiken sind sie nahezu nicht existent, laut unabhängigen Schätzungen haben aber hunderttausende Russen seit dem 24. Februar 2022 ihr Land verlassen. Fünf von ihnen hat der Fotograf Maximilian Gödecke porträtiert.
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Am Rand der Einfallstraße vom Flughafen in Sankt Petersburg sticht der irritierende Titel sofort ins Auge: gorod-geroi (dt. Heldenstadt) steht auf einer pseudoklassizistischen Säule, neben dem Goldenen Stern der Helden der SowjetunionHeld der Sowjetunion war die höchste Auszeichnung des Landes. Der Ehrentitel wurde 1934 eingeführt. Mit seiner Verleihung zeichnete der Staat insgesamt 12.776 Menschen für ihren Heroismus aus. Als Propaganda-Motiv sollte der Ehrentitel zur Nachahmung animieren. Seit den 1960er Jahren bekamen auch einige Städte die Auszeichnung Heldenstadt. und dem Leninorden. Am Platz des Aufstands, gleich neben dem Moskauer Bahnhof, erscheint der Goldene Stern auf einem Obelisk erneut, vor einer den Helden gewidmeten Leuchtreklame. Erst ein Blick auf das Denkmalensemble am Siegesplatz und den Obelisken macht klar: Die Helden sind die Stadtverteidiger im Zweiten Weltkrieg, hierzulande Großer Vaterländischer KriegAls Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte. Подробнее в нашей гнозе genannt. Im Kampf um Aufmerksamkeit schmücken sich Städte gern mit Attributen. So wimmelt es in Europa von Zukunftsstädten, „Little Big Cities“, Weltstädten und Schmelztiegeln. Doch Städte, die offiziell zu Helden ernannt werden? Das gibt es nur auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion.
Die Verteidiger Leningrads, wie Sankt Petersburg damals hieß, hielten die Stadt unter unvorstellbaren Opfern gegen die deutschen BelagererBlokadniki ist eine Bezeichnung für die Opfer und die Überlebenden der Leningrader Blockade. Während der Belagerung der Stadt vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944 durch die deutsche Wehrmacht kamen über eine Million Leningrader ums Leben. Die meisten Menschen verhungerten oder erfroren, viele starben im Bomben- und Artilleriebeschuss. Подробнее в нашей гнозе und wurden zu Symbolen des sowjetischen Widerstandswillens. Bereits am 1. Mai 1945 ließ der Diktator Josef Stalin deshalb Salutschüsse zu Ehren der Heldenstädte abgeben – als vorgezogene Siegesfeier und Anerkennung für die Kämpfer in Leningrad, StalingradDie südrussische Stadt Wolgograd ist als Stalingrad durch das Inferno im Zweiten Weltkrieg in die Weltgeschichte eingegangen, hatte jedoch im Zarenreich einen anderen Namen tatarischen Ursprungs. Heute wird versucht, wieder stärker an die sowjetische Vergangenheit der Stadt anzuknüpfen, vor allem dadurch, dass die Stadt zu bestimmten Feiertagen wieder Stalingrad heißen darf. Подробнее в нашей гнозе, Odessa und SewastopolSewastopol ist mit rund 440.000 Einwohnern die größte Stadt auf der Krim. Seit 2014 ist Sewastopol ein international nicht anerkanntes Föderationssubjekt Russlands. Die Stadt ist seit dem 18. Jahrhundert Hauptstützpunkt der russischen/sowjetischen Schwarzmeerflotte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war Sewastopol deshalb ein häufiger Konfliktpunkt in den Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine..
Hierarchie des sowjetischen Heroismus
Diese Tradition hat sich bis heute in diesen Städten gehalten, und zwischen den 1960er und 1980er Jahren traten Moskau, Kiew, die Festung BrestMit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann auch die Schlacht um die Brester Festung. Der Widerstand der Besatzung ist in Russland und Belarus bis heute zentraler Bestandteil der Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg”. Allerdings ist die Überlieferung der Ereignisse stark ideologisch geprägt, wodurch das Geschehene nur selektiv erinnert wird und Fakten verzerrt werden. Подробнее в нашей гнозе, Noworossisk, Kertsch, Minsk, Tula, Smolensk und Murmansk in die Reihen der Heldenstädte ein. In der fein abgestuften Hierarchie des sowjetischen Heroismus repräsentierten diese geschichtsträchtigen Orte das „Heiligste des Heiligen“. Sie standen im Zentrum des Kriegskults, der während Leonid BreshnewsLeonid Breshnew war von 1964 bis 1982 Vorsitzender der KPdSU und prägte als erster Mann im Staat fast zwei Jahrzehnte lang das Geschehen der Sowjetunion. Seine Herrschaft wird einerseits mit einem bescheidenen gesellschaftlichen Wohlstand assoziiert, gleichzeitig jedoch auch als Ära der Stagnation bezeichnet. Подробнее в нашей гнозе Amtszeit (1964–1982) den offiziellen gesellschaftlichen Wertekanon prägte.
Die staatlich betriebene Propagierung einer idealisierten KriegserinnerungIm heutigen Russland gibt es kein homogenes „kollektives Gedächtnis“ an den Krieg, sondern mehrere mit-, neben-, und gegeneinander existierende und agierende Bilder der Kriegserinnerung. Die Verflechtung des politischen und individuellen Gedächtnisses ist das Spezifikum russischer Erinnerungskultur, zu welcher sowohl Siegesstolz als auch Trauer gehören. Подробнее в нашей гнозе diente dabei dazu, dem Kommunismus neue Mobilisierungskraft zu verleihen. Dies geschah nicht zufällig erst zwei Jahrzehnte nach dem Ende des schrecklichen Blutvergießens: Auf die stalinistisch sozialisierte Kriegsgeneration folgte eine jüngere nach, aufgewachsen im Frieden, unter einem autoritären, aber nicht länger mörderischen Regime. Die Verehrung der Veteranen schuf ein generationsübergreifendes Band, das erstaunlich langlebig und erfolgreich wirkte – teilweise bis heute.
Breshnew, dessen eigene, traumatische Kriegserfahrung sein Weltbild stark beeinflusst hatte, wandte sich am 8. Mai 1965 an die Sowjetbürger in einer Rede,1 welche die Gedenkkultur und die Ehrengalerie der Helden über Jahrzehnte prägte. Die Heldenstädte, zuvor eine eher informelle Kategorie, wurden zu einer offiziellen, staatlich sanktionierten Gruppe, ausgewählt durch ein Antragsverfahren an das PolitbüroDas Politbüro, kurz für Politisches Büro des Zentralkomitees, war ab 1919 das höchste Führungsgremium der Kommunistischen Partei der Sowjetunion(KPdSU). Es war ein Organ des Zentralkomitees (ZK) der KPdSU und setzte sich zusammen aus dessen Sekretären sowie führenden Regierungsmitgliedern der Sowjetunion. Seine Aufgabe war die Leitung der Partei zwischen den Plenarsitzungen des Zentralkomitees und den Parteitagen. Es war somit das eigentliche politische Machtzentrum von Partei und Staat.. Vor allem aber schaffte es Breshnew, die bitteren Diskussionen über den Stalinismus und den Preis des Sieges zu übertünchen – durch die kollektive Erhebung der gesamten Kriegsgeneration in den Heldenstatus.
Erinnerungspflicht und „sowjetische“ Werte
Der Krieg sei „ein Meer des menschlichen Leidens und der Trauer“ gewesen, der seine tragischen Spuren in jeder Familie hinterlassen habe, erklärte der Generalsekretär. Nichts und niemand dürfe vergessen werden, „kein einziger Blutstropfen, den die SowjetmenschenVom Idealmenschen zum untertänigen Opportunisten: Der einst utopische Begriff des Sowjetmenschen erfuhr nach der Perestroika eine komplette Umpolung. Soziologen erklären mit dem Phänomen die politische Kultur der UdSSR – aber auch Stereotypen und Überzeugungen von heute. Подробнее в нашей гнозе für unser Land, seine Freiheit und sein Glück vergossen haben“. Das friedliche Leben der Nachkriegsgeneration sei nur durch den Opfergang des ganzen Volks möglich gewesen. Deshalb habe diese Generation nun die Pflicht, sich dem Andenken an ihre Ahnen würdig zu erweisen.
Das Regime verankerte diese Erinnerungspflicht und die damit verbundenen „sowjetischen“ Werte im Alltag der Menschen: Die Mitglieder der Jugendorganisation KomsomolDer Komsomol war die kommunistische Jugendorganisation der Sowjetunion. Das Kurzwort steht fürKommunistitscheski Sojus Molodjoshi. Die politische Nachwuchsorganisation der KPdSU wurde 1918 für die 14- bis 28-Jährigen gegründet und entwickelte sich rasch zu einer Massenorganisation. 1988 hatte er 40 Mio. Mitglieder, die sogenannten Komsomolzen. Er spielte eine zentrale Rolle in der politisch-ideologischen Erziehung der sowjetischen Jugendlichen. leisteten ihre Eide an Kriegsdenkmälern und nahmen an einer stetig wachsenden Zahl von militärischen Übungen teil. Fabrikarbeiter schlossen symbolisch Gefallene in ihre Brigaden ein und erfüllten deren Produktionsnormen. Diese „moralischen Anreize“ waren auch ein Gegenentwurf zu den marktwirtschaftlichen Reformen, mit denen die UdSSR in den 1960er Jahren angesichts nachlassender Produktivität experimentiert hatte. Zumindest zu Beginn schufen sie neue Dynamik.
Doch die Erinnerung – unter Stalin im öffentlichen Raum noch marginalisiert – fand auch im Privaten statt: Gerade den 9. Mai, den Tag des SiegesDer Tag des Sieges wird in den meisten Nachfolgestaaten der UdSSR sowie in Israel am 9. Mai gefeiert. Er erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland und ist in Russland inzwischen der wichtigste Nationalfeiertag. Der 9. Mai ist nicht nur staatlicher Gedenktag, sondern wird traditionell auch als Volks- und Familienfest begangen. Подробнее в нашей гнозе, nutzte die Kriegsgeneration für informelle Treffen mit Kameraden, um gemeinsam zu essen, zu trinken und zu gedenken. Auch Hochzeitsgesellschaften lassen sich bis heute vor Denkmälern fotografieren – nicht, weil sie müssen, sondern weil sich das so gehört. Die Stärke des Kriegsgedenkens besteht gerade darin, dass es Impulse von oben und von unten in einer moralisch verbindlichen Weise vereinigt.
Dies gilt besonders in den Heldenstädten, die nicht nur die schlimmsten Schlachten durchlitten haben, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine privilegierte Stellung einnahmen. In der Sowjetunion verkörperten die auf Russland, die Ukraine und Belarus verteilten Orte das Heldentum des Sowjetvolks, jener „Völkerfamilie unseres Landes, durch unzerstörbare Brüderlichkeit vereint“, wie Breshnew 1965 betont hatte. Die Heldenstädte bildeten die Zentren einer Gedenklandschaft, die bis 1991 70.000 KriegsmonumenteNach der Oktoberrevolution 1917 erkannte Lenin die Bedeutung der symbolischen Besetzung von Raum und Zeit. Im April 1918 unterzeichnete er das Dekret über Monumentalpropaganda, die fortan den öffentlichen Raum prägen sollte. Zu Propagandazwecken ließ Stalin Denkmäler von sich selbst schon zu Lebzeiten aufstellen. Nach seinem Tod wurden die meisten der Denkmäler und Bilder gestürzt. Auch im Zuge der Perestroika gab es in den (ehemaligen) Ländern der Sowjetunion zahlreiche Denkmalstürze. Подробнее в нашей гнозе umfasste. Die allegorische Formensprache war oft ähnlich – heldenhafte Soldaten, trauernde Mütter, Obelisken und das Ewige Feuer für die Gefallenen.
Kriegsgeheimnisse
Doch unter dieser polierten Oberfläche verbargen sich Geheimnisse – im wahrsten wie im übertragenen Sinne des Wortes: Die Denkmäler bedeckten Schlachtfelder mitten in den Städten, wobei bis heute sterbliche Überreste und Blindgänger zum Vorschein kommen, wenn man am richtigen Ort zu graben beginnt. Für die Nachkriegsgeneration übte dies eine Faszination aus, der sie sich nicht entziehen konnten – umso mehr, da sie in der Schule und in Büchern lediglich unglaubwürdige Heldenepen zu hören bekamen. Auch die Eltern redeten wenig; die Nachkriegsgeneration bastelte sich ihr Kriegsbild aus Propaganda, überhörten Gesprächsfetzen und Zufallsfunden.
Unter dem Slogan der Heldenstädte, diesen „uneinnehmbaren Festungen“, „Städten der Krieger“ oder „Schilde der Sowjetunion“, verbargen sich Spannungen und Brüche. So waren etwa Minsk und Kiew während des Krieges mehrere Jahre lang besetzt, doch Kollaboration passte nicht ins Heldenbild. In Tula, kurz vor Moskau gelegen, hatten im Herbst 1941 Chaos und Plünderer geherrscht, bevor die Stadt wie durch ein Wunder verteidigt wurde. 1942 schließlich hatte die Sowjetführung tödliche Repressalien über „Angstmacher und Feiglinge“ verhängt, die vor den Deutschen zurückwichen, gerade in strategisch zentralen Städten wie Stalingrad und Noworossisk. All dies blieb bis zur PerestroikaIm engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion. Подробнее в нашей гнозе ein Tabu.
Symbolischer Status und Privilegien
Doch die Anreize, an der idealisierten Vergangenheit festzuhalten, waren groß. Die Erinnerung an die mörderischen Säuberungsaktionen gegen angebliche Verräter und Kollaborateure nach dem Krieg war noch frisch, doch in das Heldenkollektiv waren alle eingebunden. Dazu kamen in den Heldenstädten starke wirtschaftliche Interessen: Die Erhöhung des symbolischen Status versprach Privilegien, die in einer Defizitwirtschaft wie der Sowjetunion von großer Bedeutung waren.
Helden der Sowjetunion kamen in den Genuss von kostenlosen Leistungen beim öffentlichen Verkehr, Wohnen und in der Gesundheitsversorgung. Diese Logik wurde bis zu einem gewissen Grad auf das urbane Kollektiv übertragen, weshalb die lokale politische Elite stark für die Ernennung lobbyierte – gerade in Provinzstädten wie Tula oder Noworossisk. Die Schwarzmeerstadt, wirtschaftlich privilegiert durch ihren Hafen, konnte dabei auf Unterstützung von ganz oben zählen: Breshnew hatte dort während des Krieges gedient, und die lokalen Politiker nutzten diese Verbindung geschickt aus, um der Stadt mehrere tausend Wohnungen außerhalb des Plans, ein Aquädukt und Spitäler zu sichern.
In Noworossisk ist Breshnew deshalb bis heute enorm beliebt, und auch der Generalsekretär stand der Stadt emotional nahe. Seine Kriegszeit dort bezeichnete er privat als „mein wahres Inferno“.2 Er wurde schwer am Kiefer verletzt, eine Wunde, die ihn gegen Ende seines Lebens beim Sprechen immer stärker behindern sollte und zu jenem monotonen Vortragsstil beitrug, der sein Image als grauer ApparatschikApparatschik (dt. etwa: dem Apparat Zugehöriger) ist ein aus sowjetischen Zeiten stammender und bis heute in vielen Sprachen gebräuchlicher Terminus, der einen Bürokraten oder Funktionär bezeichnet und dabei negativ konnotiert ist. In der Sowjetunion war ein Apparatschik eine Person, die einen Posten in der Kommunistischen Parteioder an anderer Stelle im sowjetischen Regierungsapparat innehatte. prägte.
Noworossisk wurde aber auch zum Inbegriff der Exzesse des Kriegskults, über die man sich außerhalb der Stadt lustig zu machen begann. Witze zirkulierten über Breshnews Memoiren, die seine Aktivitäten auf dem umkämpften Brückenkopf Malaja Zemlja bei Noworossisk bizarr überzeichneten. Breshnews Gier nach Heldensternen und Orden ließ deren Verleihung politisiert und käuflich erscheinen, was ihren Status in den Augen vieler Sowjetbürger verringerte. Der Schriftsteller Sergej DowlatowSergej Dowlatow (1941–1990) war ein russischer Schriftsteller und Journalist, der später in die USA emigrierte. Trotz seiner zahlreichen Versuche wurden seine Werke in der Sowjetunion nie gedruckt. Ab 1978 lebte er in den USA, wo er eine russischsprachige liberale Zeitung herausbrachte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden viele seiner Werke auch in Russland veröffentlicht. schrieb in einem seiner Bücher eine Anekdote auf: „Für die Erfolge bei der vielfachen Auszeichnung des Genossen Breshnew mit dem Leninorden soll der Leninorden selbst mit einem Leninorden ausgezeichnet werden.“3
Krieg als neue Staatsideologie
Der Kriegskult wurde gegen Ende von Breshnews Herrschaft ebenso zum Symbol der StagnationDer Begriff sastoi, zu Deutsch Stagnation, meint die Periode zwischen der Absetzung des Parteichefs Nikita Chruschtschow im Jahre 1964 bis zum Beginn der Reformpolitik unter Gorbatschow im Jahre 1985. Diese Phase zeichnete sich durch fehlende politische und wirtschaftliche Dynamik aus. In der engeren Deutung wird die Bezeichnung sastoi auf die Amtszeit von Leonid Breshnew (1964–1982) angewandt. Подробнее в нашей гнозе wie der Generalsekretär selbst. Die historischen Kontroversen der GlasnostGlasnost ist ein politisches Schlagwort, das Transparenz, Informationsfreiheit und das Fehlen von Zensur bezeichnet. Michail Gorbatschow (geb. 1931) führte den Begriff 1986 ein und stellte damit die Weichen für mehr Meinungs- und Redefreiheit. -Ära und schließlich das Ende der SowjetunionDer Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik. Подробнее в нашей гнозе führten zum Kollaps der Heldenmythen. Im Gegensatz zum Kommunismus erlebte der Kriegskult im modernen Russland aber eine Renaissance. Wladimir Putins Aufstieg war stark vom Bestreben begleitet, eine neue Staatsideologie zu schaffen. Bereits seit der großen Militärparade 2005 gehört die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg zu deren Kernelementen. Putins Reden lesen sich bisweilen wie Blaupausen von Breshnews Ansprachen – wobei Russland darin die Sowjetunion ersetzt hat.
Putin bedient sich zahlreicher sowjetischer Versatzstücke: So wurde unter ihm die „patriotische Erziehung“ wiedereingeführt, zu der auch die Förderung des Militärdienstes gehört. Die Ewigen Flammen der Kriegsdenkmäler, denen meist aus Spargründen in den 1990er Jahren das Gas abgedreht wurde, brennen wieder. Jugendliche und Offiziersschüler dienen in den Ehrengarden, die die Monumente bewachen.
„Städte des Militärruhms“
Auch die Heldenstädte erlebten eine Wiedergeburt. Kurz vor dem Tag des Sieges 2006 unterzeichnete Putin einen Erlass zur Ehrung der „Städte des Militärruhms“. Symbole und Rhetorik sind stark an die Heldenstädte angelehnt, doch die neue Gruppe genießt weder den symbolischen noch den wirtschaftlichen Status ihrer Vorgänger. Dazu trägt bei, dass bis heute 45 Städte in diese Kategorie aufgenommen wurden, deutlich mehr als die 13 Heldenstädte. Darunter befinden sich klingende Namen wie Kursk oder Woronesh, aber auch politische Ernennungen wie die tschetschenische Hauptstadt Grosny, die im Zweiten Weltkrieg eine untergeordnete Rolle gespielt hatte.
Die Ambition, eine Erinnerungslandschaft zu schaffen, ist aber auch bei den „Städten des Militärruhms“ offensichtlich. Die Nation wirkt durch diese historische Topografie organischer, ihre Grenzen unumstößlicher. Dass sie auf sowjetischen Vorbildern basiert, befeuert aber auch jenen imperialen Phantomschmerz, der sich im heutigen Russland immer wieder Bahn bricht. So erwähnte Putin die zwei Heldenstädte Sewastopol und Kertsch, die auf der KrimDie Krim ist eine Halbinsel im nördlichen Schwarzen Meer. Sie stand lange Zeit unter osmanischem Einfluss und wurde Ende des 18. Jh. von Russland erobert. In der Sowjetunion fiel die strategisch und kulturell wichtige und als Urlaubsdomizil beliebte Krim der Ukrainischen Sowjetrepublik zu. Die 2014 erfolgte Angliederung an Russland löste eine internationale Krise aus. Подробнее в нашей гнозе liegen, als eine Rechtfertigung für die Annexion der HalbinselAls Krim-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krim in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krim ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland. Подробнее в нашей гнозе. „Jeder dieser Orte ist heilig für uns“, erklärte er in seiner feierlichen Rede am 18. März 2014Rede Wladimir Putins War die Krim schon immer russisch? Müssen die Europäer und vor allem die Deutschen die Angliederung der Halbinsel verstehen? Und was hat das alles mit einer vermeintlichen Politik der Eindämmung Russlands zu tun? 13 Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen kommentieren Putins Rede vom 18. März 2014., „es sind Symbole russischen militärischen Ruhmes und unvergleichlichen Heldenmutes“.
Putin hat aus der Geschichte gelernt, wie wichtig die Kriegserinnerung als Element der gesellschaftlichen Integration ist – gerade in Zeiten der Unsicherheit. Ob sie als Grundlage für die nationale Identität auch als Zukunftsvision taugt, darf hingegen bezweifelt werden.
Zum Weiterlesen:
Belge, Boris/Deuerlein, Martin (Hrsg., 2014): Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen
Davis, Vicky (2017): Myth Making in the Soviet Union and Modern Russia: Remembering World War II in Brezhnev's Hero City, London
Hellbeck, Jochen (2012): Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht, unter Mitarbeit von Christiane Körner und Annelore Nitschke, Frankfurt am Main
Tumarkin, Nina (1994): The Living and the Dead: The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia, New York
1.Brežnev, Leonid (1970): Velikaja pobeda sovetskogo naroda, in: Brežnev, Leonid: Leninskim kursom: Reči i stat´ji, V 2-h t. T. 1, Moskau ↑
2.Novodar.ru: Viktor Golikov: «Ja verju i nadejus …»: Poslednee interv´ju ↑
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