Am 28. Mai 2020 ist Sergej Mochnatkin in Moskau verstorben. Der Aktivist wurde bekannt als unbeugsamer und unbeirrter Streiter für Menschenrechte und gegen das russische Straf- und Gefängnissystem. Die langjährige Auseinandersetzung mit den Behörden begann für Mochnatkin nach einer Demonstration am 31. Dezember 2009: Er war für eine Teilnehmerin eingetreten, die von einem Polizisten gewaltsam in den Gefängnistransporter gezerrt wurde. Traurige Berühmtheit erlangte er, als ihm später im Gefängnis die Wirbelsäule gebrochen wurde.
In den Nachrufen Oppositioneller und Liberaler wird entsprechend an Mochnatkins starke Haltung erinnert. Mediazona schreibt von Mochnatkin als einem Mann, „der wegen seiner Unbeugsamkeit sechs Jahre in Kolonien und Gefängnissen verbrachte, dem im Streit mit Wärtern die Wirbelsäule gebrochen und der schließlich zu einem der berühmtesten Gefangenen des heutigen Russlands wurde“.
Der Historiker Sergej Medwedew erinnert an Mochnatkin auf Facebook: „Aus solchen Menschen wie Juri Dmitrijew und Sergej Mochnatkin besteht das eigentliche, ursprüngliche Russland. Aus irgendeinem Grund hatte man es im 20. Jahrhundert nicht vergessen, aber jetzt zerstören sie es, treten es nieder mit dem Polizeistiefel.“
Eine so hohe Bekanntheit wie in Russland hat Sergej Mochnatkin im Westen nie erlangt. Aus Anlass seines Todes veröffentlicht dekoder eine ausführliche Recherche aus dem Jahr 2019, die das unabhängige Medium Projekt zu seinem Fall veröffentlicht hatte.
Im März 2016 wollte der inhaftierte, graubärtige Einzelgänger Sergej Mochnatkin seinen 62. Geburtstag in der Strafkolonie in Archangelsk feiern. Dort saß er bereits seine zweite Haftstrafe ab. Zwei Tage vor dem feierlichen Anlass teilte man Mochnatkin mit, dass man ihn jetzt in die Stadt bringen würde, er solle wegen eines neuen Strafverfahrens vor Gericht erscheinen. Mochnatkin weigerte sich mitzufahren, weil er keinen Beschluss über seine Überstellung erhalten habe. Als er rausgeführt wurde, legte er sich schließlich auf den Boden und weigerte sich weiterzugehen. Man riss ihn hoch: Mochnatkin wehrte sich instinktiv mit einer Armbewegung und traf dabei einen der Wachmänner im Gesicht. Er wurde wieder zu Boden gezwungen und mit dem Knie niedergedrückt. Mochnatkin spürte, wie es in seiner Wirbelsäule knackste.
Er wurde wieder zu Boden gezwungen und mit dem Knie niedergedrückt. Mochnatkin spürte, wie es in seiner Wirbelsäule knackste
Der verletzte Häftling wurde in einen Gefangenentransporter geworfen und ins Gericht gefahren. Aussteigen konnte er schon nicht mehr. Also brachte man Mochnatkin in ein Gefängnis, wo zwei Krankenschwestern gerufen wurden und ihm ein Mittel gegen Bluthochdruck gaben. Nach zwölf Tagen kam Mochnatkin endlich in ein Krankenhaus, wo man ihn röntgte, dann kam er zurück in die Kolonie.
Mochnatkin reichte Beschwerde gegen das Vorgehen der Vollzugsbeamten ein: Zur Überprüfung seiner Aussage ordnete der Ermittlungsbeamte eine ärztliche Untersuchung an. Am 17. März [2016 – dek] attestierte man Mochnatkin eine Fraktur des ersten und zweiten Lendenwirbels, allerdings sei der Bruch „konsolidiert“, das heißt alt und zusammengewachsen – er könne also nicht vom 4. März stammen.
Mochnatkin und seine Freundin Tatjana Paschkewitsch sagen, Sergej habe noch nie etwas an der Wirbelsäule gehabt. In einem Auszug aus seiner Krankenakte im Gefängnis vom 4. Februar, einen Monat vor dem Vorfall, steht nichts von Brüchen oder Rückenschmerzen.
Eineinhalb Monate später, im April 2016, führte die gebrochene Wirbelsäule doch noch zur Einleitung eines Strafverfahrens. Allerdings gegen Mochnatkin selbst: Ihm wurde vorgeworfen, bei der Überstellung Widerstand geleistet und damit die Arbeit in der Kolonie gestört zu haben – ein Verstoß gegen Artikel 321 des russischen StGB.
Das letzte Jahrzehnt seines Lebens ist die Geschichte des russischen Strafsystems erzählt am Schicksal einer konkreten Person
Mochnatkin zählt zu den „erfahrensten“ politischen Gefangenen in Russland. Das Strafverfahren, das nach dem Wirbelsäulenbruch gegen ihn eröffnet wurde, war bereits das fünfte. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens ist die Geschichte des russischen Strafsystems erzählt am Schicksal einer konkreten Person.
Für Menschen wie Mochnatkin ist es im heutigen Russland nur eine Frage der Zeit, wann sie eine Gefängnisstrafe bekommen. Für Politik interessierte er sich schon seit seiner Studienzeit, die in die Jahre der Stagnation unter Breshnew und in die Zeit des Kalten Krieges fiel.
An den Kundgebungen der Opposition zur Unterstützung von YUKOS nahm Mochnatkin teil, seit er Anfang der 2000er von Ishewsk nach Moskau umgezogen war. Danach war er aktives Mitglied bei Strategija 31 – einer Bewegung, die sich für das in Artikel 31 der russischen Verfassung verbürgte Recht auf Versammlungsfreiheit einsetzte. Zwischen 2009 und 2011 hielt sie an jedem 31. im Monat Kundgebungen auf dem Triumfalnaja-Platz in Moskau ab.
„Das war wichtig. Damals wurden dort Menschen geschlagen, ich konnte so etwas noch nie ertragen – das darf nicht sein“, erinnert sich Mochnatkin, wieder in Freiheit [Stand: November 2019 – dek]. Wir unterhalten uns im Halbdunkel – im Moskauer Büro der Organisation Sa prawa tscheloweka wurde wegen Zahlungsrückstands der Strom abgestellt. Kurz nach unserem Treffen hat der Oberste Gerichtshof die Organisation liquidiert.
Die erste Haftstrafe 2009: Mochnatkin hatte eine Frau verteidigt
Seine erste Haftstrafe bekam Mochnatkin nach einer Kundgebung am 31. Dezember 2009, wo er festgenommen worden war, weil er einen Polizeibeamten beschimpft hatte; laut Mochnatkin hatte der Ordnungshüter eine Demonstrationsteilnehmerin geschlagen.
„Ich wollte ihn zurechtweisen, da packten mich zwei andere. Ich war überrumpelt – sie haben mich zusammengefaltet und weggezerrt. ‚Wirf wenigstens die Kippe weg‘, sagt der zu mir. Ich dreh mich um und spuckе sie ihm ins Gesicht. Dafür landet seine Faust in meinem. Dann haben sie mich in den Transporter gezerrt.“
Wegen Anwendung von Gewalt gegen einen Staatsvertreter – Artikel 318 – wurde Mochnatkin zu zweieinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt. Das ist der Artikel, der den meisten [verurteilten] Teilnehmern der Moskauer Protesten im Sommer 2019 angehängt wurde.
Die erste Haftstrafe verlief für Mochnatkin verhältnismäßig ruhig: Ein paar Mal musste er in Isolationshaft, aber im Großen und Ganzen, erinnert er sich heute, habe er versucht, die Zeit möglichst unauffällig hinter sich zu bringen, nicht gegen Regeln zu verstoßen und Konflikte zu vermeiden. Mochnatkin wurde nach knapp zwei Jahren aus der Kolonie entlassen: Wenige Monate vor Ende seiner Amtszeit hatte Dimitri Medwedew seine Begnadigung unterzeichnet – das Gesuch hatte ihm Boris Nemzow persönlich übergeben.
Doch die Freiheit währte nicht lange. Etwa eineinhalb Jahre später, am 31. Dezember 2013, wurde er wieder verhaftet, wieder Artikel 318: Er setzte sich zur Wehr, als man ihn in den Gefangenentransporter zerrte. Fast ein Jahr später verurteilte ihn das Gericht zu viereinhalb Jahren Strafkolonie unter strengen Haftbedingungen.
Die Freiheit währte nicht lange
Die zweite Haftstrafe war schlimmer: Mochnatkin und die Verwaltung der Kolonie IK-4 in Archangelsk kamen nicht miteinander zurecht. Er bekam mehrere Verweise: weil er für einen Mitinsassen mit amputiertem Bein Essen aus der Kantine mitgenommen, am falschen Ort geraucht hatte und auf dem Weg zum Frühstück hinter der Kolonne zurückgeblieben war.
Mit dieser Anzahl von Verweisen gibt es kaum Hoffnung, vorzeitig auf Bewährung entlassen zu werden. Trotzdem entschloss sich Mochnatkin 2015 dazu, einen Antrag auf Überstellung in den offenen Vollzug zu schreiben – in der Siedlung nahe der Strafkolonie sind die Haftbedingungen weniger streng. Der Leiter seiner Einheit lehnte ab mit der Begründung, dass Mochnatkin zu viele Verweise habe. Daraufhin nannte Mochnatkin ihn Arschloch, Wichser und Hurensohn. Die Szene ereignete sich vor den Augen des Leiters der Kolonie – dafür gab es Einzelhaft. Als der Kolonieleiter in Mochnatkins Zelle kam, wiederholte sich die Geschichte: Mochnatkin nannte ihn Arschloch und bekam fünf Tage Bunker obendrauf.
Kurz nach seiner Entlassung aus der Einzelhaft wurde ein neues Strafverfahren gegen Mochnatkin eingeleitet: Artikel 319 – Beleidigung eines Staatsbeamten.
Das war erst der Anfang von Mochnatkins Krieg mit dem russischen Gefängnissystem.
Paragraphen für die Widerspenstigen
Im russischen Strafgesetz gibt es mehrere Artikel, die es erlauben, die Haftzeit eines Gefangenen zu verlängern – fast bis ins Unendliche. Menschenrechtler sagen, dass diese Paragraphen in unterschiedlicher Häufigkeit dazu verwendet werden, Häftlinge zu bestrafen, die der Gefängnisleitung Probleme bereiten, – und politische Insassen. Auf Mochnatkin trifft beides zu.
Artikel 318 und 319
Der durch die Moskauer Proteste berühmt gewordene Artikel 318 (Gewalt gegen Staatsvertreter) ist eine der gängigen Rechtsnormen, um die Haftstrafen nach oben zu schrauben. Jedes Jahr werden aufgrund dieses Artikels mindestens 6000 Verfahren eingeleitet, aber wie viele Angeklagte tatsächlich auf seiner Grundlage einsitzen, ist schwer zu sagen – keine der von Projekt angefragten Behörden gibt entsprechende Zahlen heraus. Auch Artikel 319 kann dazu dienen, die ursprüngliche Haftzeit zu verlängern, zu der ein Gefangener zunächst verurteilt wurde.
Artikel 321
Doch die gerissenste Erfindung des russischen Strafsystems ist Artikel 321: Störung der Arbeit von Anstalten, die die Isolation von der Gesellschaft gewährleisten. Er wird ausschließlich in Strafkolonien angewendet. Meistens werden die Insassen nach Absatz 2 verurteilt: Anwendung von Gewalt gegen einen Mitarbeiter der Haft- oder Isolationsanstalt. Die Höchststrafe wird mit fünf Jahren angesetzt. In den öffentlichen Urteilen aufgrund von Artikel 321 sind Strafen zwischen einem und drei Jahren die Regel.
Artikel 321 und der Fall Mochnatkin
Mochnatkin wurde zwei Mal wegen Störung der Arbeit der Kolonie angeklagt: Beim ersten Mal – nach dem Vorfall mit der Wirbelsäule – verlängerte sich seine Haftstrafe um zweieinhalb Jahre.
Das zweite Verfahren auf Grundlage von Artikel 321 wurde im November 2018 eingeleitet: Er hatte sich gegen Mitarbeiter der Kolonie zur Wehr gesetzt, die ihn aus dem Gefängniskrankenhaus ins Gericht bringen wollten. Von diesem zweiten Verfahren erfuhr er knapp einen Monat vor seiner Entlassung aus der vorherigen Haftstrafe: Sie wäre am 30. November abgelaufen, aber das Gericht ordnete aufgrund des neuen Verfahrens eine zweimonatige Vorbeugehaft an und ließ ihn im Gefängnis.
Menschenrechtsaktivisten setzten sich für Mochnatkin ein. Der Pressedienst des russischen Strafvollzugs FSIN reagierte auf den öffentlichen Aufschrei mit der Erklärung, Mochnatkin habe die Überstellung „selbst sabotiert“, indem er „bestimmte Anforderungen durch Panik, Geschrei und Kraftausdrücke verletzt“ habe.
Am 14. Dezember 2018 hob das Gericht den Arrest unerwartet auf. Mochnatkin kam frei. Nach der Entlassung verschlechterte sich sein Zustand zusehends – innerhalb eines Jahres lag er drei Mal im Krankenhaus, war auf Schmerzmittel angewiesen und konnte aufgrund der Schmerzen kaum schlafen.
Wenn er sich besser fühlte, nahm er an Protestaktionen teil: Im Juli 2019 spazierte er über den Boulevard-Ring, um die oppositionellen Kandidaten bei den Wahlen in Moskau zu unterstützen. Am 10. August 2019 war er bei der Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt.
Strafkodex des Schweigens
Nicht alle Gefangenen haben zumindest diese Art der öffentlichen Unterstützung. Ein gewöhnlicher Häftling, der in Konflikt mit der Lagerverwaltung steht, hat nur eine rechtliche Möglichkeit: Er kann eine Beschwerde gegen die Handlungen der Vollzugsbeamten schreiben (sie kann entweder über einen Anwalt oder nahestehende Personen übermittelt werden – was als der sicherste Weg gilt –, oder über das Strafvollzugs-System des FSIN selbst). Wenn der Häftling über Misshandlung oder Folter klagt, leitet das Ermittlungskomitee eine Untersuchung ein. Wenn die Untersuchung den Verdacht nicht bestätigt, kann das Ermittlungskomitee ein Strafverfahren gegen den Häftling selbst eröffnen – nach Paragraph 306, wegen Falschaussage. Das kann zwei bis drei Jahre Haft bedeuten – eine weitere Möglichkeit, einen widerspenstigen Häftling zu bestrafen.
Freisprüche gibt es in solchen Fällen praktisch keine, aber manchmal wird die Anklage wegen Verjährung fallengelassen. Für die ersten zwei Absätze beträgt die Frist zwei Jahre.
Aufgrund des zweiten Verfahrens wegen Artikel 321 – als er sich geweigert hatte, aus dem Krankenhaus ins Gericht zu fahren – drohten Mochnatkin weitere fünf Jahre Haft. Unser Treffen fand 2019, nur wenige Tage vor der nächsten Gerichtssitzung in Archangelsk statt. Mochnatkin ist nicht hingefahren: Die Rückenschmerzen sind zu stark, er kann kaum laufen.
„Eine neue Haftstrafe kann ich nicht ausschließen“, antwortet Mochnatkin müde auf meine Frage nach der Zukunft. Zum Ende des Gesprächs hin spricht er immer leiser, macht lange Pausen. „Am Anfang hatte ich viel Kraft, aber die habe ich wohl aufgebraucht. Jetzt habe ich keine Kraft mehr. Aber ich muss weitermachen – ich verteidige ja nicht irgendjemanden, sondern mich selbst, ich muss Druck auf diese [FSIN-Mitarbeiter] ausüben, Gegenerklärungen zu den Straftaten schreiben. Wenn sich der Angeklagte nicht selbst rausholt, dann tut es niemand.“
Anmerkung von dekoder: Das letzte offene Verfahren gegen Mochnatkin wurde schließlich wegen seines schlechten Gesundheitszustands und wegen „Formfehlern“ eingestellt. Nachdem er im Dezember 2019 noch zwei Mal operiert worden war, starb Sergej Mochnatkin am 28. Mai 2020 in Moskau.