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„Es gibt Gesetze, die niemand befolgen muss”

„Wenn ihr könnt, geht jetzt.“ Mit diesen Worten wandte sich der russische Bestsellerautor Dmitry Glukhovsky kürzlich an die Menschen in seiner Heimat. Anlass ist eine Gesetzesänderung, mit der noch leichter zum Krieg gegen die Ukraine eingezogen werden kann als bisher: Einberufungsbescheide können künftig elektronisch über das staatliche Serviceportal Gosuslugi zugestellt werden. Ferner dürfen Empfänger eines solchen Bescheides das Land nicht mehr verlassen. Das Gesetz wurde bereits in beiden Kammern des Parlaments angenommen. In Sozialen Medien wird befürchtet, dass dies als Vorbereitung einer neuen Mobilmachung diene. „Es ist ein Gesetz über das Recht des Staates, einen jeden per Mail zum Tode zu verurteilen – ohne Recht auf Einspruch oder Möglichkeit zur Flucht“, schreibt Glukhovsky weiter.

Der Schriftsteller ist nicht nur für seine Metro-Romane bekannt, sondern auch für seine scharfe Kritik an den politischen Verhältnissen in Russland. Wegen seiner Äußerungen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde Glukhovsky am 21. März in Moskau angeklagt. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft. Am heutigen Donnerstag (13. April) wird die Verhandlung fortgesetzt. Gegen die Vorwürfe wehrte sich Glukhovsky in einem Brief an das Gericht, den er auch auf Facebook veröffentlichte.

Update: Am 7. August 2023 wurde Glukhovsky in Abwesenheit zu acht Jahren Strafkolonie verurteilt

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„Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine“ / Foto © picture alliance / TT NYHETSBYRÅN | Henrik Montgomery/TT

Ich bin nicht in Russland, aber ich stehe in Russland vor Gericht. Gestern fand die erste Sitzung statt. 

Angeklagt bin ich nach dem neuen Artikel 207 Absatz 3. De facto ist das ein Gesetz zur Kriegszensur, abgefeimt wie immer im Putin-Russland: Das „Gesetz über die Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation“.
Hier der Brief, den ich an das Basmanny-Gericht [in Moskau – dek] geschickt habe:

„Wozu dienen Gesetze?

Gesetze dienen dazu, die Schwachen vor den Übergriffen der Starken zu schützen und die Starken vor der Versuchung, sich an den Schwachen zu vergreifen. Gesetze dienen dazu, Verbrecher zu bestrafen und neue Verbrechen zu verhindern. Dazu, das Schlechte im Menschen auszumerzen und das Gute blühen zu lassen.

Es gibt nichts, das wichtiger und kostbarer wäre als euer Leben. Dieses Leben gehört nur euch und sonst niemandem. Niemand hat das Recht, es euch wegzunehmen. Niemand hat das Recht, die Menschen, die ihr liebt, zu töten. Und niemand hat das Recht, euch zu befehlen, völlig unschuldige Menschen umzubringen.

Wenn ein Gesetz erlassen wird, das von mir verlangt, unschuldige Menschen zu töten, dann ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen. Wenn ein Gesetz erlassen wird, das von mir verlangt, das Töten unschuldiger Menschen zu vertuschen, ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen. Wenn ein Gesetz erlassen wird, das verbietet, die Wahrheit darüber zu sagen, dass andere unschuldige Menschen töten – ein solches Gesetz sollte niemand befolgen.

Wenn ein Gesetz von mir verlangt, das Töten unschuldiger Menschen zu vertuschen, ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen

Es spielt keine Rolle, ob die Mörder Soldaten unseres Landes sind. Es spielt keine Rolle, ob sie den Befehl ihrer Kommandanten oder ihres Oberbefehlshabers ausführen. Ein Soldat, der einen unschuldigen Menschen tötet, ist ein Verbrecher. Sogar schlimmer als ein gewöhnlicher Verbrecher, denn dahinter steht ein riesiger Gewaltapparat, dem das Opfer nichts entgegensetzen kann.

Wozu braucht es einen Strafrechtsparagrafen über die ,Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation‘? Er soll verbieten, die Wahrheit über die Morde und Gräuel zu sagen, die unsere Soldaten auf ukrainischen Boden begehen. Über Folter, Vergewaltigungen, illegale Hinrichtungen. Diese Folter und Vergewaltigungen sind dokumentiert. Die Leichen, deren Hände auf dem Rücken mit dem weißen Band gefesselt waren, die die russischen Soldaten ukrainischen Bürgern zu tragen befohlen, sind exhumiert. Es sind Fakten. Es ist bereits geschehen. Die Wahrheit lässt sich nicht verbieten. Man kann nur versuchen, sie zu vertuschen, um weiter ungestraft zu morden, foltern und vergewaltigen.

Dieser Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen

Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine. Mein Land hat ein anderes Land überfallen, das einst ein Bruderland war, ohne jeden Grund und Anlass. Es hat Panzer geschickt, um die ukrainische Hauptstadt einzunehmen. Es hat Flugzeuge geschickt, um ukrainische Städte zu bombardieren. Es hat unzählige Menschenleben vernichtet. Dutzende von Städten dem Erdboden gleichgemacht. Es hat entgegen jedem internationalen Recht ukrainische Gebiete annektiert und zu seinem Eigentum erklärt.

Dieser Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen. Sein Grauen und seine Sinnlosigkeit sind zu offensichtlich. Aber die, die ihn entfesselt haben – Wladimir Putin und sein engstes Umfeld – können nicht zurück. Denn nach allen Gesetzen der Menschlichkeit sind sie echte Verbrecher und fürchten deswegen die Strafe für diese Verbrechen.

Doch in Russland herrscht heute das Gesetz des Stärkeren. Mit Gewalt werden Menschen gebrochen, mit Gewalt wird das Gesetz gebeugt, um vor Gericht das Recht zu erpressen, die Schwachen weiterhin zu brechen und das Gesetz weiterhin nach Belieben zu beugen. Das ist der Grund, warum in Russland menschenfeindliche Gesetze erlassen werden.

Die Wahrheit ist verboten

Man verbietet, den Krieg Krieg zu nennen, und ordnet an, ihn stattdessen als ,militärische Spezialoperation‘ zu bezeichnen, um sich weder von den eigenen Bürgern noch vor allen anderen für die unzähligen ukrainischen Opfer und die sinnlos geopferten russischen Soldaten rechtfertigen zu müssen. Man stopft jedem den Mund, der es wagt, ein Wort darüber zu verlieren. Die es doch tun, sperrt man für zehn oder fünfzehn Jahre ins Gefängnis.

Man verbietet, die Wahrheit als Wahrheit zu bezeichnen und die Lüge als Lüge. Man verankert diese Verkehrung im Gesetzestext, indem man erwiesene Fakten als ,wissentliche Falschinformation‘ bezeichnet. Man erlaubt Morde an Unschuldigen. Man befiehlt, sie zu vertuschen. Man schafft die Strafe für die Verbrecher ab. Und spornt sie an, neue Verbrechen zu begehen.

Die Staatsmacht zwingt uns in kürzester Zeit den Glauben auf, dass das unvorstellbar Böse normal und wünschenswert ist. Sie zwingt uns, die Grundprinzipien der Moral zu vergessen, die uns unsere Eltern von Klein an beibringen. Sie gewöhnt uns an die Lüge und ans Morden.

Der Zweck besteht darin, in der neuen Generation von Russen die Selbstachtung zu vernichten

Das Verbot, die Wahrheit auszusprechen, und die Aufforderung, öffentlich Lügen zu verbreiten, hat einen Zweck. Der Zweck besteht darin, in der neuen Generation von Russen die Selbstachtung zu vernichten. Ihren menschlichen Kern zu brechen, sie zu zwingen, aus Angst vor einer ungerechten Strafe auf sich selbst zu spucken, eigenständig ihre moralischen Grundfesten mit Füßen zu treten – ihr natürliches Verständnis davon, was menschliches Gesetz ist.

Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine. Weil es der russischen Macht nicht gelungen ist, die Ukrainer zu entmenschlichen, entmenschlicht sie die eigenen Staatsbürger. 

Selbsterhaltungstrieb der Staatsmacht

Auch wenn die Verwüstungen in der Ukraine mit bloßem Auge, ja sogar aus dem Weltraum, zu sehen sind, – so ist folgendes zu konstatieren: Die Zerstörung, die der russische Apparat aus reinem Selbsterhaltungstrieb in der Seele der Nation, in der DNA unserer Gesellschaft losgetreten hat, gefährdet, auch wenn noch unsichtbar, die Existenz Russlands.

Um sich heute selbst zu erhalten, zerstört die russische Staatsmacht die wunderschöne, aufblühende Ukraine und sie zerstört Russland, meine Heimat. Ich kann es nicht verhindern, aber ich kann auch nicht schweigen.

Ich bin überzeugt, dass ich die Wahrheit sage, wenn ich die Verbrechen der russischen Armee in der Ukraine klar benenne. Ich bin überzeugt, dass das Verteidigungsministerium und die oberste Führung der Russischen Föderation gelogen haben und lügen, um diesen grausamen, sinnlosen Krieg zu rechtfertigen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass sie es sind, die an Russland und seiner Zukunft Verbrechen begehen, und nicht ich.

Es gibt Gesetze, die niemand befolgen muss. Und ich werde sie nicht befolgen.”


Dmitry Glukhovsky lebt seit 2022 im Exil. Im Mai 2023 erscheint sein neuester Roman Outpost – Der Aufbruch in deutscher Übersetzung von den dekoder-Übersetzerinnen Jennie Seitz und Maria Rajer.

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Sakon (Gesetz)

Kurz vor der Präsidentschaftswahl, bei der Wladimir Putin erstmals zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt wurde, veröffentlichte er im Februar 2000 einen „Wählerbrief“. In diesem Text skizzierte er sein Programm und rief die „Diktatur des Gesetzes“ aus: Demokratie sei eine Diktatur des Gesetzes und nicht die Diktatur derjenigen, die amtshalber dieses Gesetz verfechten.1
Seitdem ist die Formel „im Rahmen des Gesetzes“ (russ. w Ramkach Sakona) anscheinend zum Lieblingsausdruck Wladimir Putins geworden: Wichtigste Pflicht des Präsidenten sei es, im Rahmen des Gesetzes zu handeln, Rechtsschutzorgane und Gerichte müssen im Rahmen des Gesetzes agieren, die Durchführung von Wahlkampagnen seien ebenso nur im Rahmen des Gesetzes möglich. Auch die Opposition dürfe frei protestieren – im Rahmen des Gesetzes.

Auch wenn man viele offene Fragen (die Legalität des Gesetzgebers, die Repressivität der Gesetze, ihre Konformität mit der Verfassung, die Unabhängigkeit der Gerichte et cetera) beiseite lässt, der Ausdruck w Ramkach Sakona bleibt spannend: 
Denn Sakon (dt. „Gesetz“) wird in der russischen Kultur als ein vorgegebener Rahmen oder als eine Grenze verstanden, die man passieren kann. Sakon teilt zwar das Handeln in „erlaubt“ und „nicht erlaubt“, aber die Frage, ob es „gerecht“ oder „ungerecht“, „richtig” oder „falsch“ ist, beantwortet jeder für sich.

Das Wort Sa-kon, wie auch das heutige Wort kon-ez (dt. „Ende“) oder is-koni (dt. „anfänglich“) leitet sich vom Wortstamm kon, der sowohl Ende als auch Anfang bedeuten kann, ab.2 Im Wörterbuch von Wladimir Dal wird Sakon definiert als „Schranke, die der Freiheit des Willens und des Handelns gesetzt wird“3. Der Wille und das Handeln hören aber mit dieser Grenze nicht auf, denn Sakon, so schreibt der Philologe und Kulturwissenschaftler Juri Stepanow, ist „keine höchste Kategorie, der alles, was innerhalb einer Sphäre liegt, untergeordnet ist“. Sakon spiegelt also kein Rechtssystem und hat mit Gerechtigkeit erstmal nichts zu tun. Dem Sakon setzt man das Gute, das Gewissen und die Gerechtigkeit entgegen, und dies tun sowohl die „normalen Bürger“ als auch die Machthaber. 

Gesetz versus Gerechtigkeit

Ein Fall, der in den 2000er Jahren für viel Aufruhr sorgte, war das Gerichtsverfahren gegen Michail Chodorkowski: Im Mai 2005 wurde der ehemalige YUKOS-Chef wegen Steuerhinterziehung und Privatisierungsbetrug zu neun Jahren Haft verurteilt. In einem zweiten Verfahren (wegen Unterschlagung und Geldwäsche) kamen noch sechs weitere Jahre hinzu. 
Auf die Frage, ob es gerecht sei, dass Chodorkowski im Gefängnis ist, antwortete Wladimir Putin beim Direkten Draht 2010 mit einem Zitat aus einem sowjetischen Film: „Ein Dieb gehört ins Gefängnis“.4 Abgesehen von der rhetorischen Plausibilität, machte sich Putin mit diesem Zitat angreifbar: Mit eben diesem Satz erklärt ein Ermittler im gleichen Film, warum er einem Dieb das angeblich gestohlene Portemonnaie heimlich selbst untergeschoben und ihn dann quasi auf frischer Tat ertappt hatte. Ein Dieb gehört ins Gefängnis – das ist gerecht. Wie er dort aber hineingerät, das ist eine andere Frage.

So glaubte ein Jahr vor dem Urteil (2004) über Chodorkowski fast die Hälfte der Gesellschaft, das Gericht werde ihm gegenüber keine Gerechtigkeit walten lassen und weder objektiv noch unbefangen sein5. 2013 meinte mehr als ein Drittel, dass er „auf Bestellung von oben“ verurteilt wurde.6 Es gab jedoch so gut wie keine Proteste: Auch wenn es im Fall Chodorkowski keinen gerechten Prozess gab, so schien vielen die Tatsache, dass er im Gefängnis ist, gerecht zu sein. Schließlich gehörte er zu einer Gruppe von Oligarchen, die in den „wilden“ 1990er Jahren ihre Vermögen ungerechterweise erworben hatten.7 Das gab Chodorkowski selbst zu: Der Kauf von YUKOS 1996 sei nicht gerecht gewesen. Aber legal. „Ich habe [YUKOS], wie alle anderen, nach damaligen Gesetzen gekauft“,8 kommentierte er die Situation nach seiner Begnadigung, die im Dezember 2013 erfolgte. 

Der Knoten aus den unterschiedlichen Fäden von Recht und Gerechtigkeit ist in diesem Fall extrem verwickelt: Eine gesetzeskonforme, aber als ungerecht empfundene Tat (der Kauf von YUKOS) wird durch eine unrechtmäßige und politisch motivierte staatliche Reaktion (die Verhaftung Chodorkowskis) kompensiert, die in den Augen der Bevölkerung die Gerechtigkeit wiederherstellt. Multipliziert mit einer Menge anderer Faktoren, die reine Spekulation sind (der Staat wolle YUKOS enteignen, Chodorkowski finanziere die Opposition und bereite einen Umsturz vor et cetera), wird klar, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung des Falles unmöglich ist, die konkreten Gesetze, die nicht eingehalten wurden, ernst zu nehmen.

Rechtlicher Pluralismus

Das ohnehin komplexe System ist in der Tat noch komplexer, weil in Russland offensichtlich ein rechtlicher Pluralismus herrscht. Neben den staatlichen Gesetzen gelten in der wirtschaftlichen und auch in der politischen Praxis gleichzeitig die sogenannten ponjatija: ein System von Normen und Regeln, denen alle Mitglieder einer Gemeinschaft zu folgen haben. Russische Ponjatija, auch worowskoi sakon (dt. „Diebesgesetz“) genannt, sind in der kriminellen Subkultur verwurzelt. 
Auch wenn kriminelle Autoritäten – als Diebe vor dem Gesetz oder auch als sakonniki bezeichnet – heute nicht mehr aktiver und dominanter Teil der russischen Gesellschaft sind, anders als noch in den sogenannten „wilden“ 1990ern: Die Ponjatija sind geblieben und wirken weit über die kriminelle Welt hinaus.9 Praktiken wie der otshim (dt. in etwa „Abpressen“ oder „Enteignung“) eines Unternehmens, sanos (von sanesti, dt. „etwas vorbeibringen“) und otkat (dt. etwa „zurückschaffen“, im Sinne einer Gegenleistung für Korruption) sind ein Echo dieses Pluralismus.

Ein anderes Beispiel für den rechtlichen Pluralismus ist auch die Schattenwirtschaft, zu der in Russland schätzungsweise über 30 Millionen Menschen gehören. Die Betreiber der sogenannten Garagenwirtschaft etwa tun alles dafür, um sich vom Staat fernzuhalten. Sie lassen sich nicht von staatlichen Gesetzen, sondern vielmehr von einem System informeller Regeln und Normen leiten und bilden dabei auch eigene Verwaltungs- oder sogar Gerichtsorgane. Die Garashniki haben kein schlechtes Gewissen, weil sie dabei gegen das Gesetz verstoßen. Genauso wenig wie Lehrer, die Nachhilfe anbieten und die Einnahmen nicht versteuern, oder Bauern, die keinerlei Kontrolle unterstehen und eigene Netzwerke für den Verkauf ihrer Waren nutzen. Wenn der Staat als ungerecht wahrgenommen wird, dann ist es für viele ein legitimer Akt, diesem Staat Steuern vorzuenthalten und den eigenen gerecht erarbeiteten Lohn zu schützen.

Achtet eure Verfassung!

Das schwierige Verhältnis zum Gesetz in der russischen Kultur wird von Kulturwissenschaftlern zum einen mit einer unterentwickelten rechtlichen Begrifflichkeit erklärt, und zum anderen damit, dass die Bevölkerung grundlegende Gesetze nicht kennt. Viele Gesetzestexte sind für die Menschen auch nicht zugänglich, weil sie nur als geheime Ukasy existieren. Aber auch wenn die Texte veröffentlicht werden, werden diese und selbst die russische Verfassung nur selten gelesen: Laut einer Umfrage haben fast 40 Prozent der Gesellschaft nie die Verfassung gelesen, weitere 50 Prozent können sich kaum erinnern, was darin steht.10
Die Menschenrechtsbewegung hat in Russland daher neben aufklärerischer Tätigkeit eine wichtige Aufgabe: die Menschen vor Gericht im Rahmen der bestehenden Gesetze zu schützen. Eine weitere Aufgabe besteht darin, die Regierung dazu zu bewegen, diese bestehenden Gesetze auch einzuhalten: Im Ranking der Rechtsstaatlichkeit von The World Justice Project besetzte Russland 2017-18 Rang 89 von 113. Der berühmte Aufruf aus den 1960er Jahren, der Entstehungszeit der Menschenrechtsbewegung, gilt also immer noch: „Achtet die Verfassung!“

Verurteilte als Unglückliche

Als eine spezielle Variante des lateinischen Sprichwortes dura lex, sed lex (dt. „Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz“) kursiert in Russland der Spruch „Die Härte russischer Gesetze wird dadurch gemildert, dass man sie nicht einhalten muss“. Er wird dem Dichter Pjotr Wjasemski zugeschrieben und gehört seit dem 19. Jahrhundert zum Schatzkästchen russischer Volksweisheiten. 
Die repressiven Gesetze, die nicht nur das Erbe voriger Epochen, sondern durchaus auch Verfehlungen der Gegenwart sind, können gar nicht flächendeckend wirken: Das sogenannte Jarowaja-Gesetz setzt beispielsweise die Sperrung aller Online-Anbieter voraus, die sich weigern, dem Geheimdienst FSB ihre Dechiffrier-Schlüssel zur Verfügung zu stellen: Der Messenger-Dienst Telegram etwa tat dies nicht, funktioniert in Russland aber mit Einschränkungen weiterhin. Für die Teilnahme an einer nicht genehmigten Protestaktion droht per Gesetz eine 15-tägige Haft, solche Proteste finden aber immer wieder auch unbehelligt statt.11 Leonid Wolkow, der Kampagnenchef von Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, schätzt die Wahrscheinlichkeit einer Strafe in diesem Zusammenhang auf etwa ein Prozent ein.12

Auch außerhalb des politischen Lebens ist die Bereitschaft, „von außen, von jenseits der Gesetzesgrenze zu gucken“ recht hoch. Fast jeder bewegt sich zeitweise außerhalb des Gesetzes und jeder kann zugleich stillschweigend ein Gesetzesbrecher sein. Man fühlt sich vom Staat betrogen und dazu gezwungen, keine Steuern zu zahlen oder zu klauen; es gibt zu viele Gesetze, die sich auch gegenseitig widersprechen, sodass man unweigerlich gegen eins dieser Gesetze verstößt. Nach dieser Logik kann praktisch jeder bestraft werden. Und jeder, der bestraft wird, hat Pech und verdient Mitleid.

So gelten die 30 beim Bolotnaja-Prozess verurteilten Personen nicht als Verbrecher, sondern als zufällige Opfer des Regimes.13 Als Unglücklicher galt auch Chodorkowski, dessen frühzeitige Entlassung 2013 nur ein Drittel der Bevölkerung guthieß. Diese Bezeichnung der Verurteilten als „Unglückliche“ gelangte im 19. Jahrhundert sogar ins Wörterbuch der russischen Sprache.14 Die Frage nach der Schuld, beziehungsweise ob jemand gegen ein Gesetz verstoßen hat, spielte eine untergeordnete Rolle: „Nein, das Volk verneint das Verbrechen nicht und weiß, dass der Verbrecher schuldig ist. Das Volk weiß aber auch, dass es mit jedem Verbrecher die Schuld teilt“, kommentierte Fjodor Dostojewski das Phänomen.

Schuld und Sühne

Verstößt man gegen ein Gesetz, so begeht man ein prestuplenije (dt. „Verbrechen“). Wortwörtlich übersetzt: Man übertritt eine Schwelle, eine Grenze. Das Wort verwendete Dostojewski im Titel seines berühmten Romans Prestuplenije i Nakasanije, der ins Deutsche oft mit Schuld und Sühne übersetzt wird (Verbrechen und Strafe in der neuesten Übersetzung). Geleitet von einem speziellen Verständnis von Gerechtigkeit und der Überzeugung, ein Recht auf das Verbrechen zu haben, tötet der Protagonist zwei Menschen. Der größte Teil des Romans beschreibt den Weg zur Reue und bewussten Annahme der Strafe. 
Dostojewski meinte, dass die Erfahrung der Sünde, der Überschreitung, für einen Menschen auf dem Weg zur Freiheit wichtig sei.15 Die Frage, ob das Verbrechen als Erfahrung der Grenzüberschreitung im russischen Bewusstsein den Weg zur Freiheit ebnet, bleibt offen. 


1.Kommersant: Otkrytoe pis´mo Vladimira Putina k izbirateljam
2.vgl. Ėtimologičeskij slovar' russkogo jazyka: Zakon und Stepanov, Jurij (2004): Zakon, in: Konstanty: Slovar´ russkoj kul'tury, Moskau, S. 592-593
3.Slovardalja.net: Zakon
4.Mesto vstreči izmenit´ nel´zja (dt. „Der Treffpunkt kann nicht geändert werden“), 1979, Regie: Stanislav Govoruchin, Schauspiel u. a. Vladimir Vyssotskij
5.Lenta.ru: Polovina rossijan ne verit v spravedlivost´ suda nad Chodorkovskim
6.Levada.ru: Obščestvennoe mnenie o Chodorkovskom
7.Vedomosti: Možet li Putin zakryt´ temu privatizacii und „Chodorkowski ist ein Oligarch, er soll im Gefängnis bleiben”, sagte ein politischer Aktivist in einem Interview im Rahmen des Forschungsprojektes Comparing protest actions in Soviet and post-Soviet spaces
8.Vedomosti: Chodorkovskij nazval priobritenie JUKOSA nespravedlivym no zakonnym 
9.Volkov, Vadim (2014): Ponjatijnoe pravo, in: Po tu storonu prava: zakonodateli, sudy i politsija v Rossii, Moskau, S. 61
10.Interfax.ru: Počti 40 % rossijan nikogda ne čitali Konstitutsiju
11.Die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen im Rahmen von Nawalnys Kampagne wurde auch damit gerechtfertigt, dass das Gesetz, dem die Registrierungspflicht zugrunde liegt, nicht verfassungskonform sei. Hier wird ein höher stehendes Recht, das zugleich als legitim betrachtet wird, dafür herangezogen, ein niedriger stehendes Recht als „ungerecht“ zu diskreditieren und seinen Bruch zu legitimieren.
12.Novaya Gazeta: Leonid Volkov: „Est´ vyžžennoe pole, i na njom tol´ko my“ 
13.Die im Rahmen des Bolotnaja-Prozesses verurteilten Personen werden als Usniki Bolotnoj (dt. „Eingekerkerte vom Bolotnaja-Platz“) bezeichnet, das Wort Usnik hat dabei eine sehr starke Färbung, die auf eine ungerechte Haft hinweist. Die Tradition, verurteilte Oppositionelle als Opfer oder sogar als Märtyrer wahrzunehmen, geht ins 19. Jahrhundert zurück. Die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung zeigt, dass politische Terroristen, die hochrangige russische Politiker ermordet haben, im großen und gebildeten Teil der Gesellschaft als Heilige galten, die ihr Leben im Kampf gegen Ungerechtigkeit opferten, vgl. Siskina, L. I. (2016): Estetika smerti i etika vozmezdija: russkij političeskij terrorizm načala XX. veka v sovremennom kontekste, in: Upravlenčeskoe konsultirovanie, Nr. 5 (89), S. 212–219
14.„Als ‚Unglückliche‘ [„Nesčastnye“] bezeichnet das Volk alle nach Sibirien Verbannten überhaupt“, aus: Dal´, Vladimir: Tolkovyj slovar´ zivogo velikorusskogo jazyka, zit. nach: Stepanov, S. 599
15.vgl. Berdjajew, Nikolaj (1968): Mirosozercanie Dostoevskogo, Prag (Kapitel: Freiheit)
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