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„Serow? Hauptsache, da drinnen ist es warm“

Je länger die Schlange, desto besser – jedenfalls, wenn es um eine Kunstausstellung geht. Die Länge der Warteschlange ist ihr Erfolgsthermometer. In Moskau hat es höchste Werte gezeigt: Täglich standen dort Menschenmassen vor der Tretjakow-Galerie an; die Serow-Ausstellung, die von Anfang Oktober bis Ende Januar lief, zog fast eine halbe Million Menschen an. Das ist zwar noch kein Weltrekord (die Ausstellung des MoMA in Berlin 2004 hatte beispielsweise 1,2 Mio. Besucher), aber doch eine Landesbestleistung.

Anlässlich des 150. Geburtstags des Künstlers wurden mehr als 100 Gemälde und 150 graphische Werke gezeigt, die überwiegende Mehrheit davon aus einer einzigen Gattung: dem Porträt. Gemalte Blicke zweier Zaren, zahlloser Fürsten, Fabrikanten und Künstler kreuzten sich mit den lebendigen der Besucher, der einfachen wie auch der prominenten: Eine Woche vor der offiziellen Schließung der Ausstellung war in Begleitung des Kulturministers auch Wladimir Putin zu Gast. Kaum wurde dies publik, wuchs die Schlange noch einmal gewaltig – das Ministerium für Katastrophenschutz musste eingeschaltet werden, um sie zu bändigen, die Russische Militärhistorische Gesellschaft und der Menschenrechtsrat beim Präsidenten.

Moskau ist sonst nicht dafür bekannt, dass seine Bevölkerung in derart fanatischer Weise kunstsinnig wäre. Was trieb die Menschen auf einmal zu Serow, dem Hausporträtisten eines längst verschwundenen Adels und des ihn nachahmenden russischen Großbürgertums? Die Suche nach nationaler Identität? Sahen die Besucher in den Serow-Bildern nicht die Porträtierten, sondern das vorrevolutionäre Russland, nostalgisch verklärt? Oder lag der Grund für den Besucheransturm gar nicht in den ausgestellten Bildern, sondern in der Schlange selbst? In der Schlange sind alle Menschen gleich, sie verkörperte in der sowjetischen Welt laut dem Riten- und Alltagsforscher Konstantin Bogdanow die Idee der Gerechtigkeit. Grund genug, um stundenlang in der Kälte vor einer Porträtsammlung auszuharren?

Wie dem auch sei: Die Serow-Schlange ist ein Phänomen. Sogar in das russische Internet hat sie sich in Form populärer Internet-Meme hineingeschlängelt. Für Takie Dela hatte sich Nina Nasarowa eingereiht und nicht nur gefroren.

Источник Takie dela

Ein Notarztwagen. Mehrere Rettungsfahrzeuge. Ein orangefarbenes Riesenzelt mit Heizkanonen. Vorbeieilende Leute in Uniformen des Katastrophenministeriums. Auf beiden Seiten des Platzes stehen gleich mehrere Feldküchen: An der einen gibt es starken, süßen Schwarztee aus großen Kübeln, deren Inhalt für bis zu 600 Personen reicht, an der anderen Dosenrindfleisch und Schwarzbrot. In der Mitte stehen die Leute in zwei Reihen Schlange: die lange führt zur Kasse, die zweite, halb so lange, ist für die, die ihre Eintrittskarten rechtzeitig online gekauft haben.

„Innerhalb einer halben Stunde werden vor dem Museum 300 Kilogramm Buchweizengrütze verdrückt“ - Foto © Nina NasarowaSeit vergangener Woche erinnern die Nachrichten aus der Zweigstelle der Tretjakow-Galerie am Krymski Wal an Meldungen aus Krisengebieten.

Besucher der Serow-Ausstellung haben die Tür des Galeriegebäudes aufgebrochen. Der Rat für Menschenrechte setzte sich für eine einmonatige Verlängerung der Ausstellung ein. Eine Verlängerung ist allerdings nicht möglich, aus Gründen, die nicht in der Macht des Museums liegen.

Auch die Pressestelle der Galerie griff auf Formulierungen zurück, die eine Katastrophensituation beschreiben. Auf Facebook wandte sie sich an Besucherinnen und Besucher mit den Worten: „Ziehen Sie sich warm an, und bewahren Sie Ruhe.“

„Ich zog in die Ausstellung wie in eine Schlacht. Schon am Vorabend habe ich mich vorbereitet und alles rausgesucht, was ich anziehen will. Darüber habe ich den Pelzmantel probiert, um zu schauen, ob ich da so noch reinpasse“, erzählt Marina Afanasjewna vergnügt. Sie arbeitet als Ingenieurin in einem Moskauer Wissenschaftszentrum. Sogar an die anderen hat sie gedacht und als Reserve ein flauschiges Wolltuch und eine Flasche Cognac mitgebracht.

Der Cognac kam gerade recht: Am Samstag, den 23. Januar hatten die Leute vor ihr schon rund zwei Stunden auf die Öffnung des Museums gewartet – die ersten hatten sich schon gegen acht Uhr morgens eingefunden.

„Serow - sehr famous. Sogar in China“

Neben Marina Afanasjewna steht Wangding Chen, ein 19-jähriger Chinese, der an der Petersburger Kunstakademie studiert und sich auf Porträts und Landschaften spezialisiert. Er ist das erste Mal in Moskau und aus mangelnder Erfahrung ist er ohne Mütze und nur mit einem leichten Mantel hergekommen. Wangding Chen friert offensichtlich furchtbar, aber der Student will nicht aufgeben. „Serow – sehr famous“, erklärt er in gebrochenem Russisch, „sogar in China.“

Mona-Lisa-Moment bei Serow - Foto © Nina NasarowaDie Serow-Ausstellung ist die meistbesuchte Ausstellung in der Geschichte Russlands und der UdSSR. Bereits 440.000 Menschen haben sie besucht. Die Garderobe in der Tretjakow-Galerie fasst mit 1200 Plätzen weit weniger. Außerdem muss aus Sicherheitsgründen ein Teil des Foyers unbedingt freigehalten werden, damit die Schlangen zur Kasse, Garderobe, dem Café und den Toiletten nicht durcheinander geraten, wie Lara Bobkowa erklärt, die Leiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Museums.
Wenn endlich wieder eine Gruppe von Menschen durch die metallene Absperrung hindurch darf, ertönt ab und zu ein lautes „Hurra!“ – so sieht in Filmen die Erstürmung einer Festung aus.

Es ist nicht das erste Mal, dass am Krymski Wal eine Schlange steht. Wie sich eine andere Museumsmitarbeiterin erinnert, gab es bei der Ausstellung zu Isaak Lewitan sogar eine Schlägerei.

Jeder beschuldigt vor allem sich selbst

Nicht nur die Tretjakow-Galerie rühmt sich des Phänomens der langen Schlangen – auch das Staatliche Puschkin-Museum ist dafür bekannt, Besucheranstürme schlecht in den Griff zu bekommen. Die Leute in der Schlange erinnern sich noch, wie sie für Caravaggio anstanden („vier Stunden im Regen, und dann gab es da ganze neun Bilder“), für Picasso, Dalí, Turner, einem fällt sogar wieder ein, wie 2007 Modigliani nach Moskau kam. Man hört jedoch keinerlei Beschwerden über die Museen, jeder beschuldigt vor allem zuerst sich selbst: „wir Russen sind halt schlampig“, „ ... machen immer alles auf den letzten Drücker ...“

Schon gegen 11 Uhr ist das orangefarbene Zelt, in dem Heizkanonen heiße Luft spenden, proppenvoll. An einer der Feldküchen ist gerade die mit Dosenrindfleisch vermischte Buchweizengrütze fertig geworden. Verteilt wird sie von Mitgliedern der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft, die sich sonst eher mit der Errichtung von Denkmälern und der Organisation von Ausstellungen, Festivals und Jugendfreizeitlagern beschäftigt. Eines ihrer letzten Projekte im Rahmen der Woche der Importsubstitution in St. Petersburg war eine Diskussion über militärpatriotischen Tourismus.

Die Feldküche wurde auf persönliche Anweisung des Vorsitzenden der Gesellschaft, Kulturminister Wladimir Medinski, aufgestellt. Als Dank hat man den Freiwilligen an der Essensausgabe versprochen, sie abends nach Schließung des Museums in die Ausstellung zu lassen.
Die Gesellschaft ist auch mit historischen Rekonstruktionen beschäftigt. Wahrscheinlich ist deshalb für die Buchweizengrütze mit Dosenfleisch ein Mann verantwortlich, der eine NKWD-Uniform aus dem Jahr 1941 trägt. Die Initiative hat ausschließlich einen wohltätigen Zweck, erklärt er gelassen: „Die Leute bekommen alles kostenlos. Wir haben das alles mit unseren Ressourcen organisiert. Die Ausgaben sind nicht hoch, nicht der Rede wert.“

Bald merkt die Schlange, dass es keine Toiletten gibt

Die Grütze erfreut sich großer Beliebtheit. „Wenn ich nach Hause komme, mach ich mir das auch. Ich kaufe Dosenfleisch. Da könnten noch gebratene Zwiebeln dazu“, sagt Marina Afanasjewna.

Innerhalb einer halben Stunde werden vor dem Museum 300 Kilogramm verdrückt. Wer zu spät kommt, kann sich noch mit Tee aufwärmen, der großzügig ausgeteilt wird, und bald merkt die Schlange, dass es keine Toilettenhäuschen gibt.

Die Mitarbeiter des Katastrophenministeriums zucken mit den Schultern und raten dazu, den Wachmann am Mitarbeitereingang um Einlass zu bitten. In der Schlange wird geflüstert, dass man alternativ auch kurz ins Café Cervetti gehen kann.

Wangding Chen lehnt die Buchweizengrütze mit Dosenfleisch rundweg ab und klagt, er sei ja selbst schuld: Er hat seinen Studentenausweis zu Hause vergessen, mit dem man ihn als Kunststudenten kostenlos und ohne Anstehen in der Schlange reingelassen hätte. Seine sechs gewissenhafteren chinesischen Studienkollegen schauen sich nun gerade die Ausstellung an.

„Wir sehen, dass er schon ganz blau wird“

„Wir haben ihm ja gleich gesagt: Pack dich warm ein, sonst erfrierst du“, erzählt Marina Afanasjewna besorgt. „Nein, sagt er, nur mein Handy kann erfrieren. Er steht und steht und wir sehen, dass er schon ganz blau wird. Ich habe ihm meine Wollhandschuhe gegeben und dann haben wir ihn dazu gebracht, sich wenigstens einen Schal um den Kopf zu binden. So haben wir ihn gerettet!“ Wangding Chen lächelt erschöpft: „Ich bin den Leuten in dieser Schlange sehr dankbar, dass ich erfahren durfte, wie freundlich die russischen Menschen sind.“

Für den Rummel um die Serow-Ausstellung gibt es inzwischen viele Erklärungen: das durchdachte kuratorische Konzept, das dem Mythos vom goldenen Zeitalter der russischen Geschichte zuarbeitet, die professionelle PR-Kampagne des Museums, Putins Ausstellungsbesuch und letztlich auch die Möglichkeit, seltene Werke sehen zu können.

„Serow liebe ich, aber Menschen nicht so“

Michail Lwowitsch, ein pensionierter Ingenieur, ist mit seinem Sohn aus Tula angereist. Um Serow sehen zu können, ist er um 7.20 Uhr in die Elektritschka nach Moskau gestiegen.

„Als wir wegen Korowin hergefahren sind, waren nur wenig Leute da“, spinnt er gelassen die Plauderei mit einer älteren Dame neben ihm fort. „Ich habe leider kein Maschinengewehr, hätte ich eins, wären hier auch nur wenig Leute. Serow liebe ich, aber Menschen nicht so.“ „Da gebe ich ihnen recht“, lacht die gebildete, ältere Dame laut auf.

 
Bitte anstellen! Besucher vor der Tretjakow-Galerie

Die Mehrheit der Leute in der Schlange erinnert sich nicht mehr an die seltenen Arbeiten Serows, sondern weiß einfach: „Ein Volkskünstler, den kannte ich schon als Kind.“

Ein  „Volkskünstler“ ist er auch in einem anderen Sinn, der in der Schlange mehrmals genannt wird. Auf die Frage: „Was hat Sie dazu gebracht, bei solchen Temperaturen die Ausstellung zu besuchen?“ antwortet eine junge Frau kurz: „Ich liebe die Impressionisten.“

Der Minister verspricht seine Hilfe

In der Wahrnehmung der breiten Masse gilt Serow als Repräsentant des russischen Impressionismus, deren Vertreter inzwischen schon lange zu den wohl wichtigsten Volkskünstlern geworden sind.

Eine andere junge Frau, die endlich an der ersehnten Tür angelangt ist, sagt frohlockend zu ihrem Freund: „Das nächste Mal würde ich nur noch für Monet so lange in der Kälte warten!“

Um 16 Uhr gibt der Museumsdirektor eine Sondererklärung ab: „Nach kurzfristig einberufenen Versammlungen unseres Museums haben wir nun beschlossen, die Ausstellung zu verlängern.“

Sechs Bilder aus ausländischen Sammlungen müssten zurückgegeben werden, die anderen dürften noch eine Woche länger am Krymski Wal hängen. Diesen Kompromiss habe man gemeinsam mit dem Kulturministerium gefunden und der Minister persönlich habe Hilfe versprochen.

Die Schlange als Traum von der Zivilgesellschaft

Die Schlange zu Serow verkörpert plötzlich den Traum von der Zivilgesellschaft, ein Simulacrum für Reformen: Angefangen vom Volksaufruhr und der aufgebrochenen Tür, über die angespannte Suche nach einer Lösung, bis hin zur Einbeziehung staatlicher Organe – all das diente dazu, etwas zu verändern, was bis dahin scheinbar nicht zu ändern war.

Das Katastrophenministerium, das den Frierenden tapfer seine volle Unterstützung gewährte (im Zentrum von Moskau), das Kulturministerium, die gemeinnützigen Vereine, die zu Hilfe eilten, sogar die Presseabteilung des Museums, die sich als ein Vorbild an Flexibilität und Geduld erwies – sie alle arbeiteten so vorbildlich, dass man über der ganzen Hektik schnell vergessen kann: Eigentlich hat es gar keine echte Krisensituation gegeben.

Das Quentchen Freiraum am Krymski Wal wurde zum Eingang in den Kaninchenbau, durch den die ganze Schlange zu Serow verschwand. Sie kam am anderen Ende wieder raus und fand sich in einem anderen Land wieder.

„Er hat umsonst angestanden, schade“

„Er hat es nicht mehr ausgehalten und ist gegangen“, seufzt Marina Afanasjewna über Wangding Chen. „Nein, ich kann nicht mehr, hat er gesagt, kann mich nicht mehr auf den Beinen halten vor lauter Kälte. Dabei hatte er es fast geschafft.“

„Er hat umsonst angestanden, schade“, ruft jemand aus der Schlange.

„Na, zumindest hat er was, woran er sich erinnern wird.“

Dann schweigen alle einen Moment und schauen gespannt und erwartungsvoll durch die Glasscheiben in das geräumige Foyer der Galerie. In dem sieht es wie zum Spott gerade völlig leer aus. „Ach, der Serow“, sagt Michail Lwowitsch, „Hauptsache, da drinnen ist es warm.“

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Valentin Serow

Der Maler Valentin Serow (1865–1911) war ein gefeierter Porträtist des späten Zarenreichs. Die bürgerlichen Mäzene der Moskauer und Sankt Petersburger High Society ließen sich von ihm genauso malen wie der Adel und die Zarenfamilie. Sein Stil ist vielseitig und reicht vom lichten Impressionismus zum düsteren Symbolismus. Serow war Mitglied der Peredwishniki und von Djagilews Mir Iskusstwa, aber ebenso der Kaiserlichen Kunstakademie in Sankt Petersburg. Er ist ein wichtiger Vertreter einer russischen Kunstszene, die sich um die Jahrhundertwende in regem Austausch mit dem Westen befand.

Das künstlerische Schaffen Valentin Serows fällt ins Fin de Siécle der russischen Kunst, Kultur und Literatur. Seine Porträts zeigen das Who is who der kosmopolitischen Moskauer und Sankt Petersburger Upperclass: die kunstsinnigen Industriellen und ihre mondänen Gattinnen, die Komponisten und Künstler, Schauspielerinnen und Tänzerinnen, aber auch die Noblesse des späten Zarenreichs. Serow selbst war Grenzgänger, zwischen Russland und dem westlichen Europa, zwischen abendländischer Kunstgeschichte und der Wiederbelebung der russischen Volkskunsttradition, zwischen Akademismus und den Ismen der Moderne. Seine stilistisch von Impressionismus, Realismus, aber auch Symbolismus beeinflusste Malerei steht am Vorabend des avantgardistischen Aufbruchs in Russland. In ihrem Standardwerk Das große Experiment: Die russische Kunst 18631922 findet Camilla Gray daher eine treffende Beschreibung, wenn sie Serow zu den wenigen Künstlern zählt, „[...] welche die Kluft zwischen der Welt von gestern und der von morgen überbrückten.“1

Der Sohn des Musikkritikers und Opernkomponisten Alexander Serow verbrachte seine Kindheit im Gouvernement Smolensk und in München. In Paris erhielt er Zeichenunterricht vom berühmten russischen Maler Ilja Repin, bildete sich später in der liberalen Künstler-Kolonie Abramzewo bei Moskau weiter und besuchte zudem zwischen 1880 und 1885 die Kaiserliche Akademie der Künste in Sankt Petersburg.

Schnell entwickelte sich Serow zu einem der beliebtesten Porträtmaler seiner Zeit. Zwar trat er 1894 den Peredwishniki bei; die soziale Kritik aber, die viele Werke ihrer Mitglieder auszeichnet, war nicht Serows Anliegen. Vielmehr betonte er das malerische Moment und suchte in seinen Porträts nach dem individuellen, spontanen Ausdruck des Gegenübers. Dabei schreckte er auch nicht davor zurück, die unvorteilhaften Seiten des Porträtierten ins Bild zu setzen. Eine Porträtsitzung bei ihm galt daher vielleicht nicht zu Unrecht auch als „gefährlich“.

Valentin Serow – Das Mädchen mit Pfirsichen, 1887

Der Blick auf die Tochter seines Förderers Mamontow, Vera, dagegen ist wohlwollend; er fängt ihr ungekünsteltes, jugendliches Wesen ein. Das Mädchen mit Pfirsichen (1887, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau), in dem der Einfluss von Pleinair-Malerei und Impressionismus spürbar ist, gehört zu Serows frühen Hauptwerken. In leichter Aufsicht sehen wir das junge Mädchen an einem Tisch in einem enggefassten Interieur sitzen. Selbstbewusst blickt sie dem Betrachter entgegen und wirkt gleichzeitig selbstvergessen. Die eigentliche Hauptrolle aber spielt – ganz der impressionistischen Manier entsprechend – das Licht, das von hinten durch ein Fenster fällt. Serow gibt es in vielfarbigen Hell- und Dunkeltönen wieder, die das Weiß der Wände und der Tischdecke, auf der die titelgebenden Pfirsiche wie zu einem zufälligem Stillleben arrangiert sind, brechen. Die dunklen Stuhllehnen, aber auch die Frisur des Mädchens Vera bilden rhythmische Akzente, die den harmonischen Gesamteindruck des Bildes beleben.

Dass die lichte Atmosphäre dieses Porträts noch heute begeistert, zeigte jüngst die große Serow-Retrospektive in der Tretjakow-Galerie, für die mit diesem Motiv geworben wurde. Dort waren auch weitere seiner Hauptwerke zu sehen, wie das Porträt von Henriette Girshman (1907, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau), das mit seinem raffiniert-kalkulierten Bildaufbau einer doppelten Spiegelung Diego Vélazquez’ Las Meninas (1656, Museo del Prado, Madrid) zitiert. 1907, im Entstehungsjahr dieses Bildes, reiste Serow zusammen mit dem Künstler Léon Bakst nach Griechenland. In der Folge klärte sich sein Stil unter dem Eindruck der griechisch-antiken Kunst. Beide – Bakst und Serow – gehörten zur Mir Iskusstwa (dt. Welt der Kunst), einer Künstlervereinigung um die von Sergej Djagilew betriebene gleichnamige Kunstzeitung, die den Jugendstil für Russland interpretierte. Aus dem Umfeld von Djagilews Ballett Russe, mit dem dieser in Paris gastierte, stammt auch Ida Rubinstein, die Serow 1910 porträtierte (Staatliches Russisches Museum, Sankt Petersburg). Die gefeierte Tänzerin galt als schillernde, exaltierte Persönlichkeit, die gegen die moralisch-sittlichen Vorstellungen ihrer Zeit antrat und auch den gesellschaftlichen Skandal nicht scheute. Auf der Bühne zeigte sie sich in den fantastischen, orientalisch anmutenden Kostümen, die Léon Bakst für sie schuf. Serow dagegen zeigt sie als Akt; doch die Femme fatal erscheint in ihrer artifiziellen Haltung und der kantigen Silhouette vor dem kargen Hintergrund „[...] eigenartig und seltsam unerotisch“2. Hier zeigt sich Serows Auseinandersetzung mit Jugendstil und Symbolismus. Jüngste Forschungen verweisen zudem auf einen möglichen Einfluss von fernöstlicher Kunst.     

Valentin Serow – Porträt von Ida Rubinstein, 1910

Ab 1897 unterrichtete Serow an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur. Zu seinen Schülern zählte auch Michail Larionow, der mit Natalja Gontscharowa das Gründerpaar der Avantgarde formte. Und auch politisch kündigte sich schon das Wetterleuchten des kommenden Umbruchs an. Serow, ein Mitglied der Kaiserlichen Kunstakademie in Sankt Petersburg, verließ diese 1905 aus Protest gegen die Ereignisse des Blutsonntags. An seinen Mentor und Freund Ilja Repin schrieb Serow, der noch 1896 in einem eher seltenen vielfigurigen Historienbild die Krönung des Zaren Nikolaus II. gemalt hatte, hellsichtig: „Es war ein grauenhaftes Spektakel, als die beherrschte, majestätische, unbewaffnete Menge auf die Angriffe der Kavallerie und das Kanonenfeuer zuging … Was war der Sinn dieses Gemetzels? Wer hatte diese Entscheidung getroffen? Nein, nichts und niemand kann diesen Fleck entfernen.“3


1.Gray, Camilla (1974): Das große Experiment: Die russische Kunst 1863–1922, Köln, S. S. 29 
2.Bowlt, John E. (2008): Moskau & St. Petersburg: Kunst, Leben und Kultur in Russland 1900–1920, Wien, S. S. 279 
3.Bowlt, John E. (2008), S. 55, Anm. 10 
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