Noch nie gab es in russischen Gefängnissen so wenige Insassen: Etwas mehr als eine halbe Million Menschen verbüßen derzeit ihre Haftstrafe. Vor 20 Jahren waren es etwa doppelt so viele, nach den USA war Russland das Land mit den meisten Gefangenen pro 100.000 Einwohner.
Was sich in den letzten 20 Jahren allerdings nur wenig verändert hat, sind die Haftbedingungen. Heute gibt der russische Staat täglich nur etwas mehr als umgerechnet zwei Euro pro Gefangenen aus. Ein Haftplatz in Deutschland kostet rund das 60-fache. Abgesehen von oft katastrophalen Haftbedingungen müssen sich die Gefangenen in Russland auch besonderen Knast-Gesetzmäßigkeiten unterwerfen: Erniedrigungen und Folter seitens der Justizmitarbeiter oder Mitinsassen gehören dort faktisch zur Tagesordnung. Zwar gibt es bestimmte Ausnahmen, wie sie die Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja Olga Romanowa beschreibt, insgesamt sei das russische Gefängniswesen aber systematisch darauf ausgerichtet, Menschen zu brechen.
Eine Innenansicht solcher Praktiken liefert Oleg Senzow. Der ukrainische Regisseur wurde 2014 verhaftet und nach einem als politisch-motiviert eingestuften Prozess wegen Terrorismus verurteilt. Erst im Zuge eines Gefangenenaustauschs kam Senzow im September 2019 frei. In der Novaya Gazeta gibt er einen Einblick hinter Gitter und reiht sich damit ein in das traditionsreiche Genre russischer Gefängnisliteratur.
Alle Gefängnisse ähneln sich wie traurige Verwandte. Jedoch nur äußerlich – in ihrer inneren Struktur unterscheiden sie sich: Es gibt welche, wo es schlecht ist, und solche, in denen vollständige Finsternis herrscht. Für einen Außenstehenden, der nicht im System steckt, sind diese Unterschiede schwer zu erkennen und zu verstehen. Kommt eine Überprüfungskommission ins Gefängnis oder in die Strafkolonie, dann ist dort alles in bester Ordnung, die Häftlinge haben keinerlei Beschwerden, die Anstaltsleitung ist zuvorkommend, die Prüfer sind zufrieden. Das wirkliche Gefängnisleben wird für die Zeit des Kommissionsbesuchs weggepfercht und übertüncht. Ist die Kommission wieder weg, geht alles wieder seinen gewohnten Gang, manchmal den Gang der Höllenkreise.
Lager, in denen die Häftlinge gebrochen werden sollen
Der schwer auszusprechende Name des kleinen Städtchens am Polarkreis wird dem Durchschnittsbürger nichts sagen. Den Häftlingen sagt er hingegen sehr viel. Labytnangi oder umgangssprachlich Labytki, kennen fast alle, die einsitzen, wie auch den nicht weniger traurigen Nachbarort, die Siedlung Charp, die „Polareule“. Sie wurden in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Lager errichtet, in denen die Häftlinge unter den schweren Bedingungen des hohen Nordens gebrochen werden sollten – und das ist noch heute so. Ihr Ziel ist nicht, die Häftlinge zu bessern oder sie arbeiten zu lassen (außer acht Monaten im Jahr Schneeschippen gibt es hier nichts zu tun), sondern sie in eine gehorsame Herde Vieh zu verwandeln. Dese Aufgabe wird seit vielen Jahren mit großem Erfolg erfüllt. Im Prinzip wird in Russland jede Strafanstalt mit dem Ziel errichtet, jemanden zu brechen und zu vernichten, menschliche Körper und Schicksale zu zermalmen. Nur geschieht dies mancherorts auf alltägliche Art, routinemäßig, während es woanders wie am Fließband läuft und ein unvorstellbar perverses Niveau erreicht.
Außer acht Monaten im Jahr Schneeschippen gibt es nichts zu tun
Dort gibt man dir gleich auf der Schwelle zu verstehen, dass du in ein Fegefeuer geraten bist, in dem du keinerlei Rechte hast, Beschwerden zwecklos sind und es niemanden gibt, bei dem man sich beschweren könnte. Die Ankömmlinge werden allein deshalb gnadenlos geschlagen, weil sie existieren; das ist die sogenannte „Aufnahme“. Es ist eine obligatorische Prozedur, praktisch ein Ritual. Hier wird dir auch beigebracht, dass du die Mitarbeiter der Anstaltsverwaltung nie anders als mit „Bürger Vorgesetzter“ anzureden und für jede Handlung um Erlaubnis zu fragen hast, etwa, um an einem Uniformierten vorbeizugehen: „Erlauben Sie, dass ich vorbeigehe, Bürger Vorgesetzter?“ Die Häftlinge haben laut und im Chor zu grüßen, ganz gleich, wie oft man den betreffenden Mitarbeiter an diesem Tag schon gegrüßt hatte, mit einem klaren und freundschaftlichen „Guten Tag, Bürger Vorgesetzter!“
Nach der „Aufnahme“ wird dir eine Zusammenarbeit mit der Verwaltung nahegelegt, wobei klargemacht wird, dass es hier im Lager keine einfachen mushiki gibt, sondern nur kollaborierende krasnyje und erniedrigte petuchi. Dabei musst du wählen, zu wem du gehören willst.
Wenn du dich für deine eigene Variante entscheidest, ein anständiger Häftling zu bleiben, wird dir mit Hilfe entsprechender Werkzeuge zu verstehen gegeben, dass du falsch liegst. Gut die Hälfte der Neuankömmlinge schlägt sich schon in der Quarantäne auf die Seite der Roten, der Rest versucht standhaft zu bleiben. Diejenigen, die nicht umgehend gebrochen werden können, werden langfristig bearbeitet; sie werden praktisch über die gesamte Haftzeit hinweg psychischem und physischem Druck ausgesetzt.
Drohungen mit Vergewaltigung sind ständige Begleiter
Während der zweiwöchigen Quarantäne wirst du regelmäßig schikaniert. Die Anstaltsordnung pauken, patriotische Lieder und die Hymne der Russischen Föderation singen, in Reih und Glied marschieren, im Gleichschritt – das sind die Pflichtteile der Anfangslektion im Umerziehungsprogramm. Diesen Schwachsinn abzulehnen, nicht in eine Kooperation einzuwilligen und die entsprechenden Papiere nicht zu unterschreiben, das trauen sich nur wenige. Für die gibt es allerdings spezielle Behandlungen, die in der sogenannten petrowka stattfinden. Das ist ein kleines einzeln stehendes Gebäude mit zwei Zellen und drei Büroräumen für die operativen Mitarbeiter. Hier behandelt man die Ungehorsamen besonders grausam, denn, wie es so schön heißt: „Operative drehen nicht Däumchen“. Schläge, Erniedrigungen, Elektroschocks, nackt in einer kalten Zelle oder in einem nassen Knastkittel zu stecken – das ist nicht das Schlimmste, was dir passieren kann.
Vielleicht wirst du für einen Tag in eine Matratze eingerollt und herumgeworfen wie eine Puppe. Oder noch schlimmer: Man steckt dich in Embryohaltung in eine Metallkiste und verschließt sie wie einen Safe, in dem man keine Luft bekommt und unter sich macht, weil eine Toiletten- oder Mittagspause bei diesem Abenteuer nicht vorgesehen ist.
Drohungen mit Vergewaltigung sind ständige Begleiter der erniedrigenden Behandlung.
Für den Häftling gibt es nur ein Mittel, sich gegen diese Folter zu wehren, nämlich, sich aufzuschlitzen. Mit einer Klinge, einem Stück Glas oder Metall, mit den Zähnen. Sich die Adern aufschneiden, aufreißen, damit man ins Gefängnislazarett gelangt, wo man sich von diesem Albtraum ein wenig erholen kann. Kommst du so weichgekocht wieder hoch ins Lager, hat das Leiden des Häftlings jedoch kein Ende. Du gerätst in ein eigenartiges Zombieland, in dem sämtliche offizielle Regeln mit idiotischer und perverser Genauigkeit befolgt werden; darüber hinaus gibt es noch einen Haufen eigener Regeln, lokale Raffinessen, die sich die werte Verwaltung hat einfallen lassen. Wagemutige, die gegen dieses System kämpfen, gibt es wenige, und wenn die sich nicht fügen, wird ihnen übel mitgespielt, dann werden sie gebrochen, durch den Dreck gezogen, aber die Hände sollen sich dabei andere schmutzig machen. Die besonders Standhaften werden in die jeschka gesteckt, ins JePKT, das sich im benachbarten Charp befindet, wo sich der nächste Kreis der Hölle angesiedelt hat.
Nur ein Mittel, sich gegen diese Folter zu wehren
Der die gesamte Haftzeit hindurch leidende mushik sieht, wie vor seinen Augen die Barackenmeister „ausfliegen“ und herumschnüffeln mit ihren Schergen, den sogenannten kosly (dt. Ziegenböcke), die nicht angerührt, geschlagen oder erniedrigt werden. Er sieht jene, die ihr Gewissen für ein kleines bisschen süßeres Leben verkauft haben, die für die Verwaltung der Strafkolonie arbeiten, die mithelfen, den übrigen Häftlingen das Regime reinzudrücken. Viele halten es nicht aus, geben auf und gehen zu den Roten, wo es leichter ist, wärmer, und wo es eine Chance gibt, dass man früher auf Bewährung freigelassen wird.
Das aus zehn Mitarbeitern pro Schicht bestehende Team ist nicht in der Lage, 500 Lagerhäftlinge in dieser sklavischen Hörigkeit zu halten. Also wurde ein System geschaffen, bei dem die Hälfte der Insassen offen oder insgeheim mit der Verwaltung zusammenarbeitet und dabei hilft, die Ordnung und die Atmosphäre der Angst und des Misstrauens aufrechtzuerhalten. Du kannst nichts machen oder etwas sagen, was den Mitarbeitern nicht zugetragen würde.
Jeder der kosly führt im Laufe des Tages seine kleine Liste in die er alle Verfehlungen einträgt, alles, was er gesehen oder gehört hat, jede Information über andere Häftlinge, die für die operativen Mitarbeiter nützlich ist – auch über Denunzianten wie er selbst einer ist. Am Ende des Tages sammelt der Barackenmeister all diese Zettel auf einem Haufen und stellt den Gesamtbericht über die Baracke zusammen. Der wird am Morgen den Operativen übergeben, die das alles bearbeiten und entsprechende Maßnahmen treffen. Und schon wird jemand zur Bestrafung in die petrowka abgeführt.
Bei den Roten herrscht untereinander heftige Konkurrenz. Sie versuchen alle, sich diensteifrig nicht nur bei der Verwaltung hervorzutun, sondern auch bei dem eigenen Barackenmeister, um auf der lokalen Hierarchieleiter aufzusteigen. Dabei werden gegeneinander Intrigen gesponnen und sowohl Mitarbeiter als auch andere Häftlinge in diese Machenschaften hineingezogen. Nicht alle können so wendig oder zynisch sein, daher justiert das System die benötigten Leute ständig neu und stößt die ungeeigneten ab. Dieses verbrauchte Menschenmaterial wird als Wolle oder Krätze bezeichnet, mit dem weder die Roten selbst und umso weniger die mushiki etwas zu tun haben wollen.
Die Barackenmeister mit ihren engsten Untergebenen schröpfen nicht nur andere Häftlinge, wenn diese Pakete bekommen oder sich etwas im Gefängnisladen gekauft haben, sie gehen auch in größerem Stil vor. Unter Mithilfe des operativen Personals und der aus der Masse aller Insassen angeworbenen Unterhändler werden unerträgliche Bedingungen geschaffen oder verschleierte Fallen für Erpressungsopfer aufgebaut, die angesichts der Gefahr, in den „Gockelstall“ zu geraten (die Sonderbaracke für gefallene petuchi), bereit sind zu zahlen. Manchmal ist das eine einmalige Aktion, manchmal eine regelmäßige. Und es ist längst nicht gesagt, dass ein solch gejagter kabantschik tatsächlich draußen Geld hat. Dann ruft er flehend zu Hause an, und es wird ein Auto verkauft oder ein Kredit aufgenommen.
Die umfassende Atmosphäre der Rechtlosigkeit, des Misstrauens, der Gewalt und der Angst innerhalb eines Lagers, das durch einen Verbotskanon eingefriedet ist, gleicht dem Modell eines kleinen totalitären Staates. Kafka und Orwell in einem. Dort zu existieren und dabei Mensch zu bleiben, ist sehr schwer. Diese Atmosphäre sorgt in jeder Weise dafür, dass du dich in einen gehorsamen Sklaven verwandelst, in einen Zombie, ein Tier, das bereit ist, seinen Artgenossen an die Kehle zu gehen, um das eigene Leben leichter zu machen, und das auf alle Fragen der Prüfer antwortet: „Keine Beschwerden, Bürger Vorgesetzter!“ Weil die Kommission wieder abfährt, die petrowka aber bleibt.
Jedes Gefängnis ist ein Abbild der Gesellschaft
Bis ins Unendliche lassen sich die Schrecken des Gefängnisses, die Folter und die Erniedrigungen beschreiben. Man kann all die gottverdammten Orte des Strafvollzugsystems in Russland aufzählen, die all jene auswendig kennen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Man kann hunderte Überprüfungsmissionen engagierter Menschenrechtsbeauftragter schicken, die in Wirklichkeit Beauftragte der Gefängnisverwaltung sind. Oder sogenannte Gesellschaftskommissionen, die vor allem aus ehemaligen Mitarbeitern bestehen, die keinerlei Verfehlungen feststellen werden. Ändern wird sich dadurch nichts. Jedes Gefängnis ist lediglich ein Abbild der Gesellschaft, die es erschafft. Ein Land, das zwei Schritte von einem totalitären Staat entfernt ist, kann keine anderen Gefängnisse haben. Man könnte Labytnangi dem Erdboden gleich machen, doch würde dieser Furunkel an anderem Ort erneut aufbrechen – weil dieser Staat von innen heraus krank ist.