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Graues Land Kusbass

Wenn in Deutschland über den Kohleausstieg diskutiert wird, dann geht es meistens um Klimaschutz. Und wenn über russische Energieträger diskutiert wird, dann geht es meist um die Abhängigkeit von russischem Gas. Dabei verfehlen beide Diskussionen ein gemeinsames Problem: Rein rechnerisch ist die Abhängigkeit von russischer Steinkohle höher als die von russischem Gas – 39 gegenüber 32 Prozent des jeweiligen Gesamtverbrauchs in Deutschland. Außerdem kommt der Großteil russischer Steinkohle aus der Region Kusbass – und das hat gravierende Folgen für die Umwelt, vor allem im Kusnezker Becken selbst.

2018 und 2019 haben die deutschen Kohlekonzerne Einfuhrrekorde für Steinkohle aus dem Kusbass verzeichnet. Der Rohstoff ist dort so preiswert zu bekommen, wie kaum woanders. Das hat zu tun mit indirekten russischen Subventionen für den Transport, aber unter anderem auch damit, dass der Staat kaum Geld dafür ausgibt, die Umweltfolgen des Tagebaus zu beseitigen.

Diese Folgen sind mittlerweile verheerend, die steigende Zahl der Krebs- und Lungenerkrankungen alarmierend. Takie Dela hat sich in die Region aufgemacht und mit Menschen vor Ort gesprochen.

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Tagebau im Zentrum Kisseljowsks – der Staat gibt kaum Geld aus, um die Umweltfolgen zu beseitigen / Foto © Wladimir Awerin/Takie DelaIm vergangenen Winter fiel in Kisseljowsk in der Oblast Kemerowo schwarzer Schnee. Ein halbes Jahr später wandten sich die Stadtbewohner mit einer Videobotschaft an den Premierminister Kanadas, Justin Trudeau, und den Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres. Sie berichteten von der schlechten Umweltsituation in ihrer Region und baten um Asyl. 

In Kisseljowsk leben etwa 90.000 Menschen. In der Stadt und ihrer unmittelbaren Umgebung befinden sich neun Tagebauanlagen. Überall in Kisseljowsk liegt der penetrante Bahnhofsgestank von Teeröl und brennender Kohle in der Luft, als hielte man seine Nase an einen abfahrenden Zug.

Kohlekessel färben weiße Hunde grau

Wir treffen Natalja Subkоwa, Aktivistin und Chefredakteurin der unabhängigen Zeitung Nowosti Kisseljowska, vor einem windschiefen zweistöckigen Gebäude – das ist ihr Haus. Zum letzten Mal sei es in den 1990ern geprüft worden, sagt sie. Schon damals gab es 64 Prozent Verschleiß. Heute weigere sich die Lokalregierung, das Gebäude als nicht bewohnbar einzustufen. Und um ein unabhängiges Gutachten in Auftrag zu geben, fehle das Geld. Im Hof qualmt ein kleines Kohlekesselhaus und färbt alles, einschließlich der ehemals weißen Hunde, grau. Im Erdgeschoss von Nataljas Haus wohnt der Bergarbeiter Ljoscha mit seiner Familie, er ist gerade von der Schicht zurück. Während seine Frau uns die Spuren vom Schimmel zeigt, der sich durch die Wände frisst, sprechen Natalja und Ljoscha über das Belüftungssystem – es funktioniert schon lange nicht.

Auf dem Weg nach Kisseljowsk – überall liegt der Gestank von Teeröl und brennender Kohle in der Luft / Foto © Wladimir Awerin/Takie Dela„Du könntest versuchen, das Ofenrohr von unten zu putzen, damit er besser zieht – dann ist es vielleicht nicht ganz so schlimm“, schlägt Natalja vor.

„Glaubst du, das hätte ich noch nicht?“ Ljoscha gestikuliert heftig mit den rußschwarzen tätowierten Armen. „Wir haben schon zweimal den Schornsteinfeger kommen lassen, damit der alles durchputzt, das hat überhaupt nichts gebracht. Danach ist aus dem Schornstein eine Ratte auf meine Tochter gefallen, ihr direkt auf Kopf! Da fasst man besser nichts an!“

Damit der Schimmel sich wenigstens nicht ausbreitet, raten die Kommunalbehörden, häufiger zu lüften – aber das geht auch nicht: Draußen schwirrt Kohlestaub, und das Haus wird sowieso schon nicht warm. Die Temperatur in den Wohnungen sei in den letzten Jahren stetig gesunken, sagen die Bewohner. Das liege an der schlechten Qualität der Kohle in den Heizkesseln – die schaffe keine Wärme, sondern nur permanente Kopfschmerzen.

Luftverschmutzung, schlechte Wasserqualität, Krebserkrankungen – das alles führen die Umweltspezialisten und die Stadtbewohner auf die Kohleförderung aus dem Tagebau zurück. 

Zaun vor dem Tagebau in Kisseljowsk – hier ist alles in diesen besonderen Smog eingehüllt, der aus den Schloten der Kraftwerke, Kohlekessel und Fabriken aufsteigt / Foto © Wladimir Awerin/Takie DelaDer Wechsel von den Minen zum Tagebau vollzog sich hier in den 1990er Jahren, die Regierung begründet ihn nach wie vor mit der Sicherheit der Bergarbeiter: Beim Tagebau wird niemand verschüttet. Aber das Verfahren zerstört Acker- und Waldflächen: Ganze Landstriche verwandeln sich in Mondlandschaften.

Beim Tagebau wird niemand verschüttet

Im Süden des Kusbass, im Umkreis von Nowokusnezk, gibt es dutzende Tagebaugebiete und Schwerindustrieunternehmen. Hier ist alles in diesen besonderen Smog gehüllt, einen trüben Dunst, der aus den unzähligen Schloten der Kraftwerke, Kohlekessel und Fabriken aufsteigt.

„Zu Sowjetzeiten war der Kusbass ökologisch betrachtet eine der besseren Regionen“, erzählt uns Maxim Utschwatow, der Gründer des Portals Otkryty Gorod [dt. Offene Stadt]. „Die Kohle wurde überwiegend unter Tage gefördert, das verursachte weniger Staub, Tagebau gab es kaum. Die Kohle ging vor allem in den Eigenbedarf der Region: in die Metallindustrie und die Kraftwerke hier in Kusbass. Aber in den letzten zehn Jahren haben sich die Prioritäten verschoben: Mittlerweile fördern wir die Kohle einfach nur und verkaufen sie dann ins Ausland.“

In Wirklichkeit wurden auch in der Sowjetunion Tagebauanlagen errichtet, allerdings nicht in Stadtnähe. Batschatski ist eines davon, es gehört zu den größten Russlands und ist bis heute nicht erschöpft. 1949 eröffnet, gilt sie mittlerweile als eine lokale Sehenswürdigkeit: Die Halden von Batschatski sieht man schon von Weitem, insgesamt erstreckt sich der Tagebau über zehn Kilometer.

Auf dem Grubengrund hätten locker das Hauptgebäude der MGU und einige Hochhäuser aus Moskau City Platz

Wir kämpfen uns durch Schneemassen und Berge von Bauschutt bis zum Grubenrand von Batschatski vor. Die Grube ist fast 300 Meter tief. Auf dem Grund hätten locker das Hauptgebäude der MGU und einige Hochhäuser aus Moskau City Platz. Oben dröhnen und poltern tonnenschwere Muldenkipper und Bagger, im dichten Kohlestaub und Methan wirken sie wie Spielzeugautos.

Die Häuser am Rand der Siedlung sind etwa einen Kilometer von den Abraumhalden entfernt; theoretisch wurde die Schutzzone für solche Objekte also beachtet. Dennoch ist die Siedlung von einer dünnen Kohlestaubschicht überzogen – und die dringt durch jede noch so schmale Ritze in die Häuser, außerdem sind die Sprengungen auf dem Tagebau manchmal so heftig, dass sie anthropogene Erdbeben auslösen. Das bislang stärkste ereignete sich 2013 und lag bei 6,1 Grad auf der Richterskala. Unterirdische Erschütterungen waren sogar in allen benachbarten Regionen spürbar, im Kusbass wurden etwa 5000 Häuser beschädigt. Daran, dass die aktive Seismik in Batschatski menschengemacht ist, zweifeln weder die Wissenschaftler noch die Stadtbewohner. Die Risse in den Häusern sind noch heute zu sehen.

Seit dem Frühling 2019 gibt es im Städtchen Parnikowka einen unterirdischen Brand / Foto © Wladimir Awerin/Takie DelaZurück in Kisseljowsk. Ein aktiver Tagebau qualmt mitten in der Stadt. Doch wir bemerken zunächst nur die schwarz-weißen Berge vom abgebauten Gestein und die BelAZ, die auf ihren Ladeflächen brennende Kohle abtransportieren.

„Der gesundheitsschädlichste Job im Tagebau ist Baggerfahrer“, sagt Natalja. „Die arbeiten ganz unten und atmen bis zu zwölf Stunden lang Methan und Qualm ein, kaum einer von ihnen wird 60. Die BelAZ-Fahrer kommen wenigstens zwischendurch mal hoch und können kurz Luft schnappen, die haben es etwas besser. Mein Mann fährt schon 17 Jahre auf seinem BelAZ , alle staunen, dass er noch so gut aussieht, aber vor kurzem haben auch bei ihm die Bursitiden angefangen, das sind Schleimbeutelentzündungen in den Gelenken. Er hat irrsinnige Schmerzen, aber er arbeitet weiter, was soll man sonst machen?“

Natalja führt uns in eine graue Sackgasse, an deren Ende allmählich eine große Schutthalde ansteigt: ein altes Grubenfeld. In den 2000er Jahren wurden die Stollen aufgegeben und die obere Erdschicht teilweise direkt freigelegt, um an die Kohlevorkommen zu gelangen. Die Einheimischen sagen, das gängige Verfahren, die Tagebauanlagen freizulegen, geht heute so: Die obere Schicht wird weggesprengt, den Rest besorgen dann die Bagger und Muldenkipper, und das, bis alle Schichten verwertet sind.

„Hier kommt man an den Grubenhang von Fukushima, so nennen wir diesen Abschnitt“, erzählt Natalja. „Aber seien Sie vorsichtig, ein falscher Schritt und Sie stürzen rund hundert Meter in die Tiefe – da findet man Sie so schnell nicht wieder.“

Der Tod ist hier eine Erlösung

Am Abhang von Fukushima eröffnet sich die Aussicht auf ein schwarzes Loch mit einem Durchmesser von zwei Kilometern, dessen Grund vor lauter Qualm, Staub und Gasen kaum auszumachen ist. Das Atmen fällt schon hier schwer, nicht auszudenken, wie es unten sein muss, wo die roten Bagger ständig neue Kohle auf die Tragflächen der Muldenkipper hieven. 

„Der Tod ist hier eine Erlösung“, sagt Natalja. „Das ist doch nicht normal!“ 

Im Umkreis von Nowokusnezk gibt es dutzende Tagebaugebiete und Schwerindustrieunternehmen / Foto © Wladimir Awerin/Takie DelaIm Frühling 2019 bemerkten die Stadtbewohner zum ersten Mal Rauch über Parnikowka im Bezirk Kisseljowsk, wo sich die angeblich geflutete Sohle des Schachts Kisseljowskaja befindet. Sie wandten sich an alle Instanzen: von der Lokalverwaltung bis hin zur UNO, denn mit einem unterirdischen Brand selbst fertigzuwerden, ist nicht möglich.

„Anfangs hieß es, da brenne eine illegale Mülldeponie. Dann hat man das Ganze mit Baggern freigelegt und es wurde noch schlimmer“, erinnert sich Witali, der 100 Meter von dem Gelände entfernt wohnt. „Am Ende hat man immerhin Löcher in die Erde gebohrt, flüssigen Stickstoff und dann Wasser reingekippt und alles mit Lehm abgedichtet, aber unter der Erde brennt es trotzdem weiter.“

Witali ist einer der Verfasser jener Videobotschaft, er erzählt uns, danach hätte jemand das Haus gegenüber in Brand gesteckt. „Entweder haben die sich geirrt oder sie wollten mir nur Angst einjagen, es ist jedenfalls nochmal gutgegangen. Ich habe mir jetzt eine Kamera am Fenster installiert, da kommt keiner so leicht ans Haus.“ 

Anfangs hieß es, da brenne eine illegale Mülldeponie

Wir gehen auf das Gelände, das trotz Frost irgendwie seltsam aussieht: Der Schnee bildet kleine Höcker, stellenweise sind schwarze Erde und Lehm zu sehen, die wegen der unterirdischen Hitze auch bei minus zehn Grad noch weich sind. Wenn man eine Handvoll nimmt, tritt sofort Wasser aus. 

Plötzlich kommt ein lauter Knall vom nächstgelegenen Tagebau. Die Einheimischen drehen sich nicht einmal um – die nächste Schicht wird weggesprengt, sie sind es gewohnt. 

Siedelt doch die Leute um, dann könnt ihr euch da meinetwegen blöde graben

„Wir sind ja alle keine Kinder, wir sind nicht blöd, uns ist schon klar, dass die Kohle gefördert werden muss. Mein Vater arbeitet auf dem Tagebau da drüben“, Witali deutet mit der Zigarette in die Richtung, aus der es eben geknallt hat. „Auch die junge Frau, die in dem Video die Erklärung verliest, arbeitet auf einem Tagebau, aber sie hatte keine Angst, an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir verstehen alles, aber so kann man nicht leben. Natürlich soll der Tagebau in Betrieb bleiben, aber siedelt doch die Leute um, dann könnt ihr euch da meinetwegen blöde graben.“ 

Die Menschen fordern nicht die Schließung der Unternehmen sondern nur die EInhaltung von Umweltstandards und Arbeitnehmerrechten / Foto © Wladimir Awerin/Takie DelaIn Kisseljowsk, das kreuz und quer von Steinbrüchen durchfurcht ist, arbeitet der Großteil der Bevölkerung in der Bergbauindustrie, deswegen fordern die Leute auch keine Schließung der Unternehmen, sondern vor allem die Einhaltung der Umweltstandards und der Arbeitsrechte der Bergarbeiter. 

„Das Leben der Leute hier könnte so viel besser sein, wenn sich die Kohleunternehmen an die Umweltstandards halten würden“, sagt Maxim Utschwatow. „Aber solange alle nur ihren Profit im Kopf haben, wird sich nichts ändern, die Lage wird sich nur verschlimmern.“ 

Auf unserer Rückfahrt kommen wir an der Verladestelle vorbei. Wir sehen Häuserfassaden – so schwarz wie die hier abgebaute Kohle. Graue Hunde bellen uns hinterher. Am Straßenrand stehen nachdenkliche Kinder, deren Wangenröte mit Kohlestaub verdeckt ist.

Quelle: Takie Dela
Übersetzung: Maria Rajer
Erschienen am 18.02.2020

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Monostädte

Erloschene Fabrikschlote, verödete Landschaften und erschreckende Perspektivlosigkeit – seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erleben viele russische Monostädte ihren Niedergang. Ab den 1930er Jahren zumeist am Reißbrett entworfen, zogen die rund um einen einzigen Betrieb oder ein Kombinat errichteten Städte einstmals hunderttausende Menschen an. Die Siedlungen um die Metall- und Rohstoffindustrie bildeten das Rückgrat der sowjetischen Wirtschaft: Über 400 Monostädte erwirtschafteten zeitweise bis zu 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Seit den 1990er Jahren befinden sich viele Monostädte im wirtschaftlichen Niedergang: Sie sind geplagt von Problemen wie Arbeitslosigkeit, hoher Anfälligkeit gegenüber Konjunkturschwankungen und massiver Abwanderung von jungen, qualifizierten Arbeitskräften.

Viele kleine und mittlere Industriestandorte der ehemaligen Sowjetunion sind sogenannte monoindustrielle Städte (russ. „monoprofilnyje munizipalnyje obrasowanija“) oder kurz: Monostädte. Eine Stadt gilt dann als monoindustriell, wenn sie über 3000 Einwohner zählt und mindestens ein Fünftel aller Beschäftigten in nur einem Unternehmen oder Industriekomplex angestellt ist. Ein solches Unternehmen gilt für die russische Gesetzgebung als ein gemeindekonstituierender Betrieb (russ. „gradoobrasujuschtscheje predprijatije“). Zu Monostädten zählen derzeit 317 Städte in Russland (offiziell 319, davon zwei Monostädte auf der Halbinsel Krim), also ungefähr jede dritte Stadt des Landes. Dort leben insgesamt etwa 15,6 Millionen Menschen, die rund ein Viertel des russischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften, Tendenz fallend.1 Die meisten Monostädte liegen in der Oblast Kemerowo (19), gefolgt von der Oblast Swerdlowsk (15), der Oblast Tscheljabinsk und der Oblast Nishni Nowgorod (jeweils 12).

 


Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbildmodus wechseln. Stand: 2016. Quellen: Regierung der Russischen Föderation, Ministerium für Industrie und Handel

Quantität und Qualität von Monostädten

Die Anzahl von russischen Monostädten ist seit den 1990er Jahren rückläufig. Dabei muss allerdings bemerkt werden, dass sowohl über die Gesamtzahl als auch über die Definition von Monostädten lange Zeit Uneinigkeit herrschte. Das lag zum einen am Strukturwandel: Einige Kommunen verloren nämlich durch die Änderung der Beschäftigungssituation ihren Status oder verschwanden gar von der Landkarte. Zum anderen lag das an verschiedenen Klassifikationen, die sich entweder nach demographischen, ökonomischen oder politischen Kriterien richteten. So wurden teilweise auch die sogenannten geschlossenen Städte dazugezählt – Städte, die für militärische Zwecke oder für die Atomindustrie erbaut wurden und damit zugangsbeschränkt sind. Auch ihre nächsten Verwandten zählte man teilweise dazu: Die sogenannten Wissenschaftsstädte sind mit ihren teils geheimen Forschungszentren ebenfalls oft zugangsbeschränkt.2 Solche Städte unterscheiden sich von Monostädten hauptsächlich durch ihre gesetzlichen Stellungen und spezifischen Finanzierungen, sowie durch ihre Bevölkerungsstruktur.

Die russische Regierung definierte diese Unterschiede erst 2014. Dabei erstellte sie zugleich sowohl einen gesetzlichen Rahmen für die besagte Definition von Monostädten als auch eine Unterteilung in drei sozioökonomische Kategorien: Demnach befinden sich derzeit 93 russische Monostädte in einer kritischen Lage, 153 Städte gehören zur sogenannten Risikogruppe und 71 gelten als Städte in einer stabilen soziоökonomischen Lage.3

Zahlreiche Beispiele zeigen, dass dieses urbane Modell hochgradig risikobehaftet ist, vor allem durch Konjunkturschwankungen. Umweltverschmutzung, schwache Infrastruktur (unter anderem im Bildungs- und Gesundheitssektor) sowie die Abwanderung von jungen qualifizierten Arbeitskräften sind weit verbreitete Probleme von Monostädten.4 Dieses oft als Teufelskreis beschriebene Phänomen verhindert den nötigen Strukturwandel.

Während unterfinanzierte Gemeinden von sozioökonomischen Transformations-Herausforderungen oft überfordert sind, bieten sich für die Bewohner von Monostädten nur wenige Chancen und Perspektiven. Überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit ist die häufige Folge. Zahlreiche Monostädte gerieten in den 1990er Jahren in eine Abwärtsspirale aus Abwanderung, Stadtschrumpfung und sinkender Lebensqualität.

Während der Wirtschaftskrise kam es 2009 zu öffentlichen Protesten in einigen Monostädten: Die bekanntesten ereigneten sich in Pikaljowo – eine Stadt mit rund 22.000 Einwohnern in der Nähe von St. Petersburg, wo Zement, Aluminium und Kalisalz hergestellt werden. Die Eskalation rief schließlich das Eingreifen des damaligen Premierministers Wladimir Putin als Schlichter auf den Plan.


Schlote im Stadtbild 

Portrait I: Toljatti

Toljatti an der Wolga / Foto  © Alexxx Malev/flickr.com

Der Produktionskomplex der Autofabrik AwtoWAS / Foto © Alexxx Malev/flickr.com

Toljatti ist mit rund 700.000 Einwohnern die größte Monostadt Russlands. Die Stadt an der Wolga beherbergt seit 1966 den größten russischen Autohersteller – die Autofabrik AwtoWAS, in der bis Ende 2008 etwa 106.000 Mitarbeiter beschäftigt waren. Die überwiegende Mehrheit anderer Unternehmen in Toljatti ist mit der Autoindustrie verknüpft. In Folge der Wirtschaftskrise geriet das Unternehmen 2009 in finanzielle Schwierigkeiten. Sanierungsmaßnahmen und mehrere Entlassungswellen folgten, sodass der größte PKW-Hersteller in Russland Anfang 2018 nur noch rund 36.400 Mitarbeiter beschäftigte.

Portrait II: Kowdor

Kowdor - nördlich des Polarkreises an der finnischen Grenze / Foto © Maksim Mugatin

Das Bergwerk in Kowdor / Foto © Maksim Mugatin

Die Stadt Kowdor in der Oblast Murmansk liegt etwa 100 Kilometer nördlich des Polarkreises an der finnischen Grenze. Dort lebten einstmals rund 30.000 Menschen. Die Stadt entstand 1953, als der Abbau von Eisen und Phosphat begann und eine Raffinerie gebaut wurde. Mit dem Verfall der Eisen-Nachfrage wurde die Produktion in den 1990er Jahren auf die Herstellung anderer Mineralien umgestellt. Der Betrieb gehört derzeit zu einem Chemiekonzern, der die Produktionsstätte gegenwärtig modernisiert. Kowdor zählt rund 16.000 Einwohner, etwa 3700 von ihnen sind Beschäftigte des Abbaubetriebs.


Planwirtschaftliche single-industry towns

Monoindustrielle Städte sind keineswegs nur ein sowjetisches beziehungsweise russisches Phänomen. So gibt es beispielsweise in Kanada schätzungsweise 1000 single-industry towns mit über einer Million Gesamtbevölkerung.5

Die sowjetischen Monostädte haben jedoch durchaus ihre Spezifika: Sie wurden durch die Urbanisierung und Industrialisierung sowjetischen Typs hervorgebracht, deren Folgen noch heute weite Teile Eurasiens prägen. Im Unterschied zu westlichen Industrieländern wurde der Städtebau in der UdSSR zentralistisch vorangetrieben, und zwar auf Grundlage von Plänen über die landesweite Verteilung von Produktivkräften.6 Der Staat setzte dabei mittelfristige politische, planwirtschaftliche und militärstrategische Ziele durch. Nachhaltigkeits- und soziale Kriterien traten in den Hintergrund. Besonders in der Nachkriegszeit wurde das Modell der monoindustriellen Städte zur Blaupause der wirtschaftlichen Erschließung des Landes, vor allem in entlegenen Regionen.

Sein und Bewusstsein in Monostädten

Die Unterordnung aller städtischen Funktionen unter die Logik planwirtschaftlicher Industrialisierung spiegelt sich in sämtlichen Lebensbereichen der Monostädte wider. Nicht nur räumliche, architektonische, ökonomische, demographische Strukturen sind davon geprägt, sondern auch die Institutionen, Kommunikation und Alltagsroutinen mehrerer Millionen Menschen.

So sind heute noch vielerorts die städtischen Versorgungssysteme wie Fernwärme und Strom an Produktionskreisläufe der Betriebe gekoppelt. Wenn das Unternehmen in einer wirtschaftlichen Krise steckt, dann ist auch oft die Versorgung der ganzen Stadt davon betroffen. Auch Stadtpflege, soziale Dienstleistungen oder Stadtfeste gehören häufig zu den Verantwortlichkeiten des gemeindekonstituierenden Betriebs. Finanzielle Schwierigkeiten des Betriebs spiegeln sich somit in vielen Lebensbereichen der Stadtbewohner wider.

So überrascht es kaum, dass viele (Wohn-)Häuser in den russischen Monostädten heute baufällig sind. Viele öffentliche Räume sind verwahrlost, es fehlt an zeitgemäßen Freizeitangeboten und sogenannten „dritten Räumen“ – Orte wie Cafés, Bars oder Parks, an denen sich Menschen treffen können.7

Die demographische Struktur von Monostädten wird besonders durch die Bildungsmigration von Abiturienten und durch die überproportionale Abwanderung von jungen Frauen belastet.

Paternalistische Muster scheinen sich über mehrere Generationen in vielfältiger Weise verstetigt zu haben. Studien zufolge ist für Monostädte in besonders hohem Maß die Passivität der Bevölkerung charakteristisch, die von Industriebetrieben die Lösung sozialer, infrastruktureller und ökologischer Probleme erwartet.8 Unternehmen beklagen diese Erwartungshaltung und versuchen teilweise aktive Rollenmodelle durch Programme zu fördern, womit sie aber zugleich auch ihre Rolle als Ressourcengeber zementieren und den Paternalismus forterhalten. Hinzu kommt, dass die Führungsebene der Unternehmen häufig auch die Gemeindeverwaltungen und die lokalen Medien kontrolliert. Damit reproduzieren die Unternehmen nicht nur die gemeindekonstituierende Komponente, sondern fügen ihr noch oftmals auch eine alltagskonstituierende hinzu.

Ein bisher kaum gelöstes Problem ist die bereits Jahrzehnte andauernde Umweltverschmutzung. Der kostspielige Einsatz von automatisierten Emissionskontrollen und modernen Reinigungsverfahren schreitet nur sehr langsam voran. Für die Konkurrenzfähigkeit der Städte wird aber der ökologische Faktor in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen.

Aktuelle Lösungsansätze

Monostädte stehen vor ernsten Herausforderungen, für die notwendige sozioökonomische Umstrukturierung gibt es aber keine simplen Lösungen. Stadtsoziologen und andere Wissenschaftler fordern komplexe Antworten, unter anderem sollen Partnerschaften zwischen Städten und dem Privatsektor die gravierenden Probleme mildern.9

2014 erklärte Präsident Wladimir Putin die wirtschaftliche Diversifizierung und Modernisierung der Monostädte erstmals zur Priorität. Mit der Umsetzung des ehrgeizigen Programms ist die Stiftung zur Entwicklung der Monostädte betraut.10 Diese regt teilweise mit Erfolg dazu an, Investitionsprojekte zu finanzieren, Steuersenkungen zu beschließen11 und das Verwaltungspersonal auszubilden.12 Der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit der Monostädte liegt aber auch im bürgerschaftlichen Engagement, in der Ausformung einer positiven lokalen Identität und in der Entwicklung von Zukunftsperspektiven.13


 
1.Neuere Erhebungen relativieren allerdings die offiziellen Arbeitsmarkt-Zahlen. Demnach sind inzwischen weniger Menschen in gemeindekonstituierenden Betrieben beschäftigt als bislang angenommen. Siehe: Zubarevič, N. V. (2017): Transformacija rynkov truda rossijskich monogorodov, in: Vestnik Moskovskogo universiteta, Serija 5: Geografija, 2017:4, S: 38–43 
2.Abweichende Definitionen und Gesamtzahlen der russischen Monostädte siehe z. B. unter: World Bank (2010): Russian economic report (English),; Maslova, A. N. (2011): Monogoroda v Rossii: problemy i  rešenija, in: Problemnyj analiz i gosudarstvenno-upravlenčeskoje projektirovanije, 2011:5 
3.Definition gemäß Beschluss der Russischen Regierung vom 29.07.2014. Die Liste der Monostädte wurde mehrmals aktualisiert, zuletzt 2016. Monostädte der Öl- und Gasindustrie sowie  sogenannte geschlossene Städte sind nicht in der Liste enthalten. 
4.Zemljanskij, D. J./Lamanov, S. V. (2014): Szenarii razvitija monoprofil'nych gorodov Rossii, in: Vestnik Moskovkogo universiteta, Serija 5: Geografija, 2014:5, S. 69-74; Zemljanskij, D. J. (2011): Single industry towns in Russia, in: Regional Research of Russia, Vol. 1, no. 1 
5.Siehe u. a.: David Curran Associates (2009): Municipal Economic Crisis Response Program: A Municipal Guide for Economic Recovery, St. Johns 
6.Batunova, E./Gunko, M. (2018): Planning under conditions of shrinkage: the case of Russian small and medium-sized cities, in: Hospers, G.-J./Syssner, J. (Hrsg.): Dealing with Urban and Rural Shrinkage: Formal and Informal Strategies, Munster, S. 58-72 
7.Als dritte Räume („Third Spaces“) werden in der Stadtsoziologie Orte der Vergesellschaftung bezeichnet – i m Unterschied zu „First Space“ (Wohnort) und „Second Space“ (Arbeitsplatz). Der Begriff geht auf Ray Oldenburgs Theorie zurück: Der Raum produziert die Gesellschaft. Oldenburg, Ray (1989): The Great Good Place: Cafes, Coffee Shops, Community Centers, Beauty Parlors, General Stores, Bars, Hangouts, and How They Get You Through the Day, New York 
8.Kommersant: Formula oživlenija monogorodov 
9.Siehe oben: World Bank (2010) 
10.Die russische Stiftung zur Entwicklung der Monostädte (Fond razvitija monogorodov) wurde mit Beteiligung der staatlichen Wneschekonombank 2014 gegründet. Sie investiert auch selbst in Infrastrukturmaßnahmen und fördert seit 2016 die Entstehung von sogenannten „Territorien vorauseilender Entwicklung“. Laut Eigenangabe hat die Stiftung bis Ende 2017 etwa 140 Millionen Euro investiert und rund 5000 Arbeitsplätze geschaffen. Die Programmziele sehen bis Ende 2018 etwa 230.000 neue Arbeitsplätze und ein Investitionsvolumen von 170 Milliarden Rubel (etwa 2,4 Milliarden Euro) vor: Fond razvitija monogorodov, siehe auch: Novosti Monogrodov 
11.Davon profitieren bis Augut 2018 etwa 170 gelistete Unternehmen in circa 60 Monostädten, siehe Unternehmensliste
12.Bis Ende 2017 wurden mit Mitteln der Stiftung Teams aus 314 russischen Monostädten oder insgesamt 1546 Vertreter der lokalen Verwaltung und Privatwirtschaft ausgebildet, siehe Tätigkeitsbericht
13.Zamyatina, Nadezhda /Pelyasov, Alexander (2016): The Anna Karenina Principle: How to Diversify Monocities, in: Orttung, R./Zemljanskij, D. J.: Sustaining Russia’s Arctic Cities: Resource Politics, Migration, and Climate Change; Lamarov, S. V. (2014): Scenarii rasvitija monoprofil'nych gorodov Rossii, in: Vestnik Moskovskogo universiteta, Geografija, 2014:5, S. 69-74; Zemlyanskij, D. Y. (2011): Single industry towns in Russia, in: Regional Research of Russia, Vol 1, no. 1 
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