Am 22. Februar 2021 hatten sich Alexander Lukaschenko und sein russischer Kollege Wladimir Putin in der Nähe von Sotschi getroffen. Es war das zweite Treffen nach dem Beginn der historischen Protestwelle im August 2020 in Belarus. Beim ersten Treffen im September hatte Putin am Schwarzen Meer seine Unterstützung für Lukaschenko mit einem 1,5 Milliarden US-Dollar-Kredit untermauert. Diesmal ging es weniger um Geld, Gas und Kredite als wohl mehr um die Symbolik des Treffens, wie Kommentatoren urteilten: Zwei Autokraten präsentierten sich als Einheit im Kampf gegen die Proteste und potentielle demokratische Bewegungen in ihren jeweiligen Ländern.
Dass die belarussisch-russischen Beziehungen in der Vergangenheit immer wieder von großen Schwierigkeiten und wenig Harmonie geprägt waren, beschreibt die Wissenschaftlerin Nadja Douglas in der Gnose zum Thema.
Lukaschenko befürchtet indes, dass die Proteste am 25. März, dem Tag der Freiheit, wieder im großen Stil ausbrechen könnten. Die Opposition hat eine Demonstration für diesen Tag angekündigt. Und der KGB-Chef Iwan Tertel will bereits Hinweise auf Destabilisierungspläne ausgemacht haben. Entsprechend ist zu erwarten, dass der Machtapparat weiter gezielt gegen jeglichen Widerstand vorgehen wird. Auch für diese Gangart diente das Treffen in Sotschi als Rückversicherung.
In ihrem Beitrag für die Novaya Gazeta geht die bekannte belarussische Journalistin Irina Chalip der nicht ganz neuen Zweckharmonie zwischen den beiden Autokraten auf den Grund.
An dem Tag, als Putin und Lukaschenko in Sotschi fürstlich zu Mittag speisten, warf sich in Gomel der sechzehnjährige Nikita Solotarjow gegen die Gitterstäbe seines Käfigs im Gerichtssaal und schrie: „Lasst mich hier raus!“. Nikita wird wegen Vorbereitung von Massenunruhen zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Er hat Epilepsie.
Verhaftet wurde Nikita Solotarjow im August 2020. „Papa, sie schlagen mich jeden Tag!“, sagte er zu seinem Vater, der bei den Verhören als gesetzlicher Vertreter des Minderjährigen dabei war. Nikita beklagte, man würde ihm seine Tabletten nicht geben, und einmal soll der Aufseher auf seine Bitte um Medikamente geantwortet haben: „Du bist ein Politischer und wirst verrecken!“
Seit Beginn der Proteste in Belarus sind 200 Tage vergangen, und auf den ersten Blick scheint es, als wären die Proteste vorbei. Viele Menschen sind wegen Corona in Quarantäne. Andere verbringen ihre Zeit vor Gericht: Im Zuge der Proteste wurden an die zweitausend Strafverfahren eingeleitet.
Die Belarussen sind zu einem Langstreckenlauf angetreten
Die Gerichtsverhandlungen laufen seit Dezember. In vielen belarussischen Städten kommen Menschen zu den Gerichten, um die Angeklagten zu unterstützen: den minderjährigen Nikita, die Journalistinnen von Belsat, den Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko sowie Hunderte andere Protestteilnehmer, Journalisten, Administratoren von Telegram-Kanälen, Blogger und Unternehmer. Die Menschen bringen Sachen in die Gefängnisse und stehen in den Postämtern Schlange, um Päckchen, Telegramme oder Geld in die U-Haft zu schicken. Abends oder früh morgens gehen sie mit Flaggen raus zu lokalen Protestaktionen in ihren Vierteln und in den Hinterhöfen. Es ist natürlich dunkel. Und unheimlich. Manchmal scheint es, als sei die Morgendämmerung eine Erfindung der Autoren utopischer Romane.
Die Partisanenaktionen in den Hinterhöfen sind natürlich keine hunderttausendköpfigen Märsche durch die Innenstadt von Minsk. Und die Lage in Belarus ist heute schwieriger denn je. Aber auf keinen Fall hoffnungslos. Im Gegensatz zu der von Lukaschenko, die ist praktisch hoffnungslos. Die Belarussen sind zu einem Langstreckenlauf angetreten, und er aus Gewohnheit zu einem 100-Meter-Sprint. Lukaschenko hat seine Kräfte falsch eingeteilt, und jetzt bleibt ihm nur noch, nach Sotschi zu fliegen und zu hoffen – wenn nicht auf Hilfe, dann wenigstens auf ein freundliches Wort.
Noch vor einem Jahr waren die Treffen zwischen Lukaschenko und Putin Anlass für Diskussionen und akribische Analysen von Wortwahl und Gestik („er hat zweimal geguckt, und einmal hat er ‚kommen Sie rein, es zieht‘ gesagt“), sie schürten Ängste auf der einen und Hoffnung auf der anderen Seite. In Belarus kümmern die Treffen und Dialoge des Selbsternannten mit dem Nullgesetzten jetzt niemanden mehr. Gut, sie haben sich getroffen und umarmt. Getrunken und gegessen, auf Skiern gestanden. Aber das war‘s auch schon.
Sie haben jetzt ihre eigenen Gesprächsthemen, die für die Belarussen nicht mehr interessant sind, weil es nichts mehr zu besprechen gibt außer Repressalien. Lukaschenko und Putin können Erfahrungen austauschen; sie können sich Gedanken machen, ob man Kinder schon jetzt einbuchtet oder noch abwartet, bis sie erwachsen sind; sie können über das Strafmaß für Andersdenkende beratschlagen und ob man ohne Folter auskommt oder doch lieber zu den langerprobten Methoden des Herausprügelns von Geständnissen greift. Putin und Lukaschenko verbindet heute mehr denn je. Die Integrationspläne beider Staaten, Öl- und Gaspreise, frühere Auseinandersetzungen – all das ist in den Hintergrund gerückt und hängt an unsichtbaren Schnüren, die aus dem Zuschauerraum nicht zu sehen sind. Jetzt ist der Moment der wahren Einigkeit gekommen. Es könnte der Beginn einer engen Männerfreundschaft werden, aber auch ihr Ende – Essen unter Freunden können sehr unterschiedlich ausgehen, da können Sie jeden Kellner fragen. Aber im Moment wirken Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko wie zwei alte Freunde, zwei Gleichgesinnte, die zusammen auf der Bank vor der Hütte sitzen, den Sonnenuntergang betrachten, und über den Lauf der Welt sinnieren.
Abrechnung mit Andersdenkenden
Man muss nur die Bilder des jüngsten Treffens in Sotschi mit älteren vergleichen: vor einem, zwei, fünf Jahren. Damals waren das noch zwei völlig unterschiedliche Menschen: Der fast gleich einer Würgeschlange ruhige Putin, der am Haupteingang einen Bittsteller empfängt. Und Lukaschenko, der sich dem Anführer von derartigem Kaliber anbiedert. Der eine genervt, weil er gezwungen ist den anderen zu empfangen, mit dem im selben Raum zu sein und Ebenbürtigkeit vorzutäuschen ihm sichtlich Unbehagen bereitet. Der andere voll Hass, weil er gezwungen ist, Freundlichkeit gepaart mit Gehorsam zu mimen und angesichts des Spotts der Kremlbelegschaft Fassung zu bewahren, der es erlaubt und sogar ausdrücklich empfohlen ist, über die politische Mesalliance zu scherzen.
Und jetzt tun sie beide gleichermaßen so, als wäre in ihren Ländern alles stabil, lügen einander und der Außenwelt im gleichen Tonfall etwas vor, stellen sich gleichermaßen blind und beharren darauf, dass man sie zu Hause respektiert und wählt. Sogar die Kleiderwahl ist fast identisch – im Stil der sowjetischen Landbevölkerung der 1950er Jahre.
Im Grunde haben sie schon lange und jeder auf seine Art auf diese Nähe zugesteuert. Der eine Teilnehmer des Sotschi-Treffens stellte seine Legitimität durch hartnäckiges Nullierungsmanagement in Frage. Der zweite erstickte die Opposition bereits im Keim. Aber in diesem Winter trafen sich ihre Wege an einem Scheidepunkt. An diesem Punkt steht die massenhafte Abrechnung mit Andersdenkenden, willkürliche Verhaftungen und Prozesse, Gewalt gegen Kinder, Drohungen gegen ihre Eltern, Folter und Mord. Vielleicht sieht genau so der Bifurkationspunkt aus.
Übrigens ist Lukaschenko schon ein paar Tage vor dem offiziellen Treffen mit seinem Verbündeten nach Sotschi geflogen – in seinen wohlverdienten Skiurlaub. Am Tag seiner Abreise wurde in Belarus der Prozess gegen die Journalistin Katerina Borissewitsch und den Arzt Artjom Sorokin aufgenommen (weil sie die Wahrheit über die null Promille im Blut des ermordeten Roman Bondarenko ans Tageslicht gebracht haben), wurde ein Dutzend weiterer Protestteilnehmer in Straflager und den offenen Vollzug geschickt, wurde gegen Viktor Babariko eine ellenlange Anklageschrift verlesen, wurde Maria Kolesnikowas Anwältin Ljudmilla Kasak die Lizenz entzogen, wurde die Haftstrafe von Pawel Sewerinzew, der seit dem 7. Juni in U-Haft sitzt, verlängert und wurde der am 11. August in Brest getötete Gennadi Schutow postum des Widerstands gegen die Staatsgewalt schuldig gesprochen. Das ist die Realität, in der die Belarussen heute leben.
Kann man den Menschen vorwerfen, dass sie ihren Protest in die Hinterhöfe verlegt haben und im Partisanenformat fortsetzen? Nein, natürlich nicht. Kann man behaupten, dass Lukaschenko aufgibt und morgen abtritt? Ich würde gerne ja sagen, aber – nein. Kann man davon sprechen, dass die Proteste verloren sind und die Menschen nicht mehr zu Hunderttausenden auf die Straßen gehen werden? Nein, nein und noch dreimal nein.
Am 25. März beginnt der Frühling
Natürlich werden sie wieder auf die Straße gehen. Diese Winterpause war notwendig. Erstens wegen der zweiten Corona-Welle, die man zu Hause aussitzen musste, sich schützen. Zweitens hat das Ausmaß der Verluste die Menschen eine Zeitlang buchstäblich betäubt: Hunderte, die für lange Zeit durch Folter außer Gefecht gesetzt wurden, Tausende, die wegen Strafverfahren in Untersuchungshaft mussten, Zehntausende, die das Land verlassen haben.
Aber die Stimmung in der Gesellschaft zeigt, dass die Belarussen den Frühling kaum erwarten können. Und das Datum für den Beginn der Frühlingsproteste steht bereits fest: der 25. März – Tag der Freiheit, Jahrestag der Gründung der Unabhängigen Volksrepublik Belarus. Der unabhängige belarussische Staat wurde 1918 im deutsch besetzten Minsk ausgerufen und existierte bis Dezember, als die sowjetischen Truppen in Belarus einmarschierten. An diesem Tag gehen die Belarussen immer auf die Straße, auch wenn sie die restlichen 364 Tage zu Hause bleiben. Und immer mit weiß-rot-weißen Fahnen.
Genau dieser 25. März ist jetzt Gesprächsthema Nummer eins: bei den abendlichen, zur Tradition gewordenen Spaziergängen mit der Nachbarschaft, in der Schlange beim Postamt, im Bus und in den sozialen Netzwerken. Die Belarussen warten auf den Tag der Freiheit. Und es ist ihnen völlig egal, was die beiden neuen Busenfreunde irgendwo in Sotschi zu Mittag hatten.