Im Mordfall Litwinenko gibt es vom Londoner High Court herbe Anschuldigungen gegen den russischen Präsidenten. In ihrem 329 Seiten starken Bericht schlussfolgern die britischen Ermittler, dass der Mord „wahrscheinlich” von Putin gebilligt worden sei. Beweise dafür gibt es allerdings keine – so geht es nun vor allem um die Deutungshoheit. Und hier steht viel auf dem Spiel, denn zugleich wird in dieser Diskussion um das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen verhandelt. Juri Saprykin hat für The New Times die Erzählstränge im Fall Litwinenko entwirrt.
Marshall McLuhans berühmter Ausspruch „The medium is the message“ ist nun schon über fünfzig Jahre alt, und allmählich dürfte seine Kernaussage jedem Erstklässler geläufig sein: Egal welches Kommunikationsmittel man benutzt, es verändert unmerklich die Aussage, die es transportiert, und beeinflusst deren Gewicht und Status. Geburtstagsglückwünsche klingen unterschiedlich, je nachdem ob sie in Form einer Postkarte, eines Telefonanrufs oder eines Postings in der Facebook-Chronik ankommen. Kadyrows Drohungen gegen die Opposition wären nicht weiter aufgefallen, hätte er sie in einem Nachrichtenbeitrag auf Grosny-TV geäußert, im warmen, gemütlichen Instagram-Umfeld dagegen wirken sie verheerend. Der Name des Präsidenten der Russischen Föderation direkt neben Schilderungen von Mordkomplotten und Drogenhandelsrouten hätte keinerlei Aufsehen erregt, wäre er in diesem Zusammenhang auf der Website Kavkaz Center aufgetaucht – in einer dicken Akte mit der Aufschrift British High Court dagegen machen derlei logische Verknüpfungen einen ganz anderen Eindruck, und die oft gehörten Worte sind auf einmal mehr als nur Worte.
Aber das gewählte Kommunikationsmittel ist nicht das einzige, was den Kern einer Mitteilung verändert: Alles hängt davon ab, in welche Geschichte, in welches Narrativ sich eine Aussage einfügt. Schon in den ersten Stunden nach der Veröffentlichung des Litwinenko-Berichts begann in Russlands Medien die Schlacht ums Narrativ. Die Fakten wirken ganz anders, wenn man den Bericht von vorneherein als Polit-Farce oder einen weiteren aggressiven Akt des britischen Geheimdiensts darstellt oder zumindest den Namen „Putin“ weglässt. Doch all das sind Tricks für den Hausgebrauch. Für diejenigen, die den Bericht im Original lesen, ergibt sich aus den Dokumenten der Untersuchung natürlich eine ganz andere Geschichte. Diese Geschichte handelt nicht von einer Teekanne mit Polonium und auch nicht vom Schicksal der Person Litwinenko, sondern davon, wie Russlands Machtspitze politische Gegner umbringt, nicht zuletzt auch auf fremdem Staatsgebiet, und zumindest in einem Fall unter Verwendung von radioaktiven Stoffen. Und diese Geschichte kann nicht folgenlos bleiben. Natürlich, wir sind gewohnt, in einer Welt zu leben, wo auch die krassesten Statements der hochrangigsten Personen oft schon am nächsten Tag vergessen oder bedeutungslos geworden sind, doch der Status des Londoner Obersten Gerichts wird verhindern, dass diese Geschichte sich in Luft auflöst, als hätte es sie nie gegeben.
Denkt man an die Folgen, sieht man vor dem inneren Auge zunächst ein Brainstorming in Downing Street oder in der Nähe des Oval Office: Wie ist zu reagieren auf die Ergebnisse der Untersuchung, was könnte man noch beschränken, verbieten, einfrieren, ohne dass es nach endgültigem Bruch und Trennung aussieht (zumal die Entwicklung derzeit eher in Richtung Aufhebung der wegen der Krim verhängten Sanktionen geht)? Doch das ist nur der erste und offensichtlichste Teil der Gleichung: Im nächsten Schritt, das haben uns die letzten Jahre gelehrt, entsteht eine Lawine gegenseitiger Kränkungen, die Gott weiß wohin rast. Selbst wenn nur personenbezogene Sanktionen gegen Andrej Lugowois und Dimitri Kowtuns unmittelbare Vorgesetzte verhängt werden, ist als Gegenmaßnahmen mit allem zu rechnen: von einem Ale- und Stout-Verbot in Russland über die Absage des P.-J.-Harvey-Konzerts bis hin zu Bomben auf Woronesh. Selbst wenn der Name Putin aus weiteren Prozessunterlagen verschwindet, bleibt die persönliche Kränkung in der Welt und kann sich in völlig unvorhersehbaren Formen äußern. Sollte es nicht irgendwann zu einem Gerichtsurteil kommen (was schwer vorstellbar ist), gibt es immer noch die westlichen Staatschefs, die Presse, die öffentliche Meinung, die mit diesem Wissen irgendwie leben müssen. Und wenn das nächste Mal ein gemeinsames Vorgehen an irgendeinem Krisenherd zur Debatte steht, wird es unweigerlich wieder hochkommen.
All das – der gegenseitige Argwohn, die sich auftürmenden Kränkungen, der Wettlauf von Sanktionen und Gegensanktionen – ist im Grunde nicht neu. Na gut, wir treten noch zwei Schritte auf die Frontlinien des Kalten Krieges zu, aber ein Einreiseverbot und ein paar eingefrorene Konten mehr (genau wie der Vorwurf der Gegenseite, es gehe darum, in Russland einen Umsturz herbeizuführen) beeindrucken niemanden mehr. Und auch die beiden großen Geschichten, in deren Zusammenhang die Widersacher die jüngst veröffentlichten Fakten bringen, existieren nicht erst seit gestern. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es auf russischer Seite zum Fall Litwinenko nicht nur eine, sondern ganze drei Geschichten gibt.
Die erste ist die offizielle Geschichte, verbunden mit dem Namen Maria Sacharowa: Es handele sich nicht um Untersuchungsergebnisse, sondern nur um haltlose Spekulationen, die den Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien schaden sollen. Die zweite ist die geopolitische, die aus dem Volk, erzählt von Couchpublizisten auf Facebook: Ihr Engländer bringt doch selber weltweit heimlich Leute um, James Bond ist das beste Beispiel – warum sollen wir das dann nicht dürfen? Die dritte, unverhohlen menschenverachtende Geschichte erzählen die Organisatoren jener Kundgebung in Grosny, bei der der Dumaabgeordnete Adam Delimchanow erklärte: „Für jedes Wort, dass diese Leute gegen das Oberhaupt der Republik Tschetschenien oder gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin sagen, werden sie einstehen müssen! Vor dem Gesetz und ohne Gesetz werden sie einstehen müssen! Selbst wenn sie sich im Ausland aufhalten sollten, denn ausländische Gesetze erkennen wir nicht an!“ Und allein die Tatsache, dass diese drei Geschichten nebeneinander existieren, kann man als weiteren Beweis nehmen für die Seite der Anklage des Londoner High Court.