Spätestens seit den Tschetschenienkriegen der 1990er Jahre ist der Nordkaukasus in der russischen Gesellschaft als das „dunkle Andere“, als Ort der Gewalt und des Hasses abgespeichert. Bei einer Reihe von Morden führt die Spur bis in höchste Kreise tschetschenischer Sicherheitsorgane: beim Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja, die kritisch über die Tschetschenienkriege berichtet hatte, genauso wie bei der Ermordung der Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa und zuletzt beim Mord an dem Oppositionellen Boris Nemzow. Meist werden die Mörder verhaftet, die eigentlichen Auftraggeber der Tat jedoch bleiben im Dunkeln. Ein besonderes Bedürfnis, die Fälle aufzuklären gibt es nicht – nicht von Seiten des Staates und nur von wenigen Teilen der Gesellschaft.
Und so hört kaum noch jemand auf bei Nachrichten wie dieser: Eine Gruppe Menschenrechtler und Journalisten ist am 9. März 2016 an der Grenze zwischen Tschetschenien und Inguschetien überfallen worden. Etwa 20 maskierte Männer stoppten den Bus, zerrten die Insassen aus dem Fahrzeug, verprügelten sie und steckten den Bus in Brand. Mindestens sechs Menschen wurden verletzt. Die Reise war vom unabhängigen Komitee für die Verhinderung von Folter organisiert worden, das sich für Menschenrechte in der Konfliktregion starkmacht, unter den Verletzten waren auch ein norwegischer und eine schwedische Journalistin.
Der Leiter des Komitees für die Verhinderung von Folter, Igor Kaljapin, gilt als Intimfeind des tschetschenischen Staatsoberhauptes Ramsan Kadyrow. Mehrfach wurden Büroräume der Organisation verwüstet, zuletzt kurz nach dem Überfall an der Grenze, in der Nacht zum Donnerstag, 10. März. Kaljapin vermutet tschetschenische Sicherheitsorgane hinter den Übergriffen. Der Menschenrechtsbeauftragte in Grosny dagegen nannte dies „absurd" und beschuldigte Kaljapin, alles selbst inszeniert zu haben. Kreml-Sprecher Peskow zeigte sich nach dem Überfall „äußerst empört“.
Der Journalist und Blogger Oleg Kaschin, der im November 2010 auf offener Straße in Moskau selbst krankenhausreif geschlagen wurde, beschreibt auf Slon.ru, warum man sich in Russland längst an Nachrichten wie diese gewöhnt hat – und weshalb er es für wichtig hält, dass die Ereignisse im Nordkaukasus nicht als tschetschenischer Sonderfall, sondern als Problem der gesamten russischen Gesellschaft begriffen werden.
Wohl kaum eine Nachricht generiert weniger Klicks als diese: „Im Kaukasus wurden Menschenrechtler und Journalisten angegriffen.“ Das klingt wie Mitte oder Ende der 90er Jahre. Damals gehörten derartige Nachrichten zum Alltag und provozierten bestenfalls eine Gegenfrage: Tschetschenen oder Föderale? Wurden sie ins Zindan gesperrt oder ins Gefängnis Tschernokosowo gebracht?
Das Wort „Menschenrechtler“ stammt aus dieser Zeit und dieser Gegend, aus den Nachrichten über Sergej Kowaljow. Auch die Journalisten, die gemeinsam mit diesen Menschenrechtlern genannt werden, waren etwas ganz anderes als jene Fernsehstars, die der russische Zuschauer heute so gerne zur Primetime im Ersten Kanal sieht.
Die Reporterin Jelena Masjuk zum Beispiel: 20 Jahre schon arbeitet sie nicht mehr über den Kaukasus. Heute ist sie Mitglied des Menschenrechtsrates beim Präsidenten und hat viele Filme gedreht. Aber auch heute noch, wenn du irgendwo ihren Namen aussprichst, fragt bestimmt jemand: „Die Jelena Masjuk?“ Oder der Reporter Andrej Babizki – ungeachtet dessen, dass er jetzt auf der Seite der Volksrepublik im Donbass steht und sich mit den Ukrainern und den russischen Liberalen fetzt – auch der wird immer „der Andrej Babizki“ von damals bleiben.
Deshalb muss man wohl auch extra erklären, dass es jene Tschetschenen und jene russische Soldaten schon lange nicht mehr gibt und dass auch die Menschenrechtler aus der Generation von Kowaljow etwas völlig anderes sind als das heutige Komitee [für die Verhinderung von Folter – dek] von Igor Kaljapin.
Die Journalisten aus den 90er und 2000er Jahren sind in den Menschenrechtsrat, ins Establishment oder in Rente gegangen. An ihre Stelle traten Zwanzigjährige, die während des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges noch Kinder waren, die heute überhaupt nicht in jenem Koordinatensystem leben, das sich mit Worten wie „Minutka“, „Seljonka“, „Tschernokosowo“ und „Föderale“ ins Bewusstsein der älteren Generation gefressen hat.
Das Tschetschenien der 10er Jahre ist das Königreich von Ramsan Kadyrow. Von ihm bekommt man schnell einen Eindruck, wenn man zunächst seinen Instagram-Account anschaut und dann etwas, sagen wir mal, über den Mord an Boris Nemzow liest oder ganz allgemein über die Kämpfer des örtlichen Innenministeriums, jener seltsamen Frucht der erzwungenen Liebe zwischen Tschetschenen und Föderalen Russen vor zwanzig Jahren.
Tschetschenien heute – das ist kein Krieg. Tschetschenien heute – das ist destillierter und in Marmor verpackter Frieden. Doch es gibt einen Frieden, der zumindest nicht besser ist als Krieg – wenn jedes Gesicht ein furchtbares, schreckliches Geheimnis trägt, wenn unter dem Marmor ein Stöhnen erklingt und Blut hervorquillt, das jemand jeden Morgen sorgfältig mit seiner Hand wegwischt.
Das klingt pathetisch, doch wie soll es sonst klingen? Dem Stöhnen und dem Blut spüren junge Juristen aus der Provinz nach. Die meisten kommen von der Wolga, weil ihr Chef Igor Kaljapin, Leiter des Komitees für die Verhinderung von Folter, in Nishni Nowgorod lebt. In Kadyrows Instagram-Account werden sie oft mit dem Gattungsbegriff Kaljapiny bezeichnet: Der Autor meint damit „Feinde Russlands“, „Schaitane“ und andere, die tatsächlich seine persönlichen Feinde sind – nach Jahren seiner Herrschaft ist er an den absoluten Gehorsam seiner Untertanen und die Ergriffenheit seiner Gäste gewöhnt.
Kaljapin selbst war zur Zeit des ersten Tschetschenienkriegs im Einberufungsalter, entspricht also überhaupt nicht jenem Bild eines Lew Scharanski, über den die patriotischen Idioten aus den sozialen Netzwerken sich so gerne lustig machen. Kaljapin ist kein Held der Dissidentenbewegung, eher ähnelt er einem Hollywood-Helden aus einem Film wie Mississippi Burning – die Wurzel des Hasses. Der einzige Unterschied: Hinter den Hollywood-Helden, die schreckliche Geheimnisse in fernen Bundesstaaten auskundschaften wollen, steht mindestens ein Präsident Hoover. Kaljapin hat nur seine Mission als Menschenrechtler des 21. Jahrhunderts. Und er hat die Sympathien zwanzigjähriger Journalisten, die daran gewöhnt sind, von ihm exklusive Informationen zu erhalten, die man auf keiner offiziellen Pressetour nach Grosny bekommt.
Solche Journalisten sind mit Kaljapins Leuten [am vergangenen Mittwoch, 8. März 2016 – dek] vom Flughafen der Nachbarrepublik Inguschetien in Richtung Grosny gefahren. Der Bus, in dem sie saßen, wurde zertrümmert und in Brand gesteckt von Kämpfern in Autos mit Kennzeichen aus der Region 95 [also Tschetschenien – dek]. Die Journalisten, darunter auch ausländische, wurden mit Stöcken und Brettern verprügelt. Ihre Pässe und ihre Ausrüstung sind im Bus verbrannt. Zur gleichen Zeit demolierten bewaffnete Männer in Camouflage das Büro von Kaljapins Komitee, und zwar in der inguschetischen Stadt Karabulak, wohin es erst vor kurzem nach der Demolierung des lange in Grosny ansässigen Büros umgezogen war. Das ist Russland im Jahr 2016.
Die kastrierten Normen journalistischer Ethik, wie sie in Russland schon lange vor Beginn der wundervollen heutigen Epoche Einzug gehalten haben, erlauben es nicht, den Kämpfern aus dem tschetschenischen Polizei- und Geheimdienstapparat einfach die Schuld an diesem Verbrechen zu geben. Und die allgemeine Liebe zum Pelewinschen Weltbild führt zu der Annahme, dass etwas, das wie eine Katze aussieht und wie eine Katze miaut, in Wirklichkeit keine Katze ist, sondern nur schwarze PR, um jemanden zu kompromittieren.
Angesichts der Gerüchte, dass die Amtszeit für Kadyrow nicht nur formal ein Ende haben könnte, sind das alles äußerst unangenehme Nachrichten für das tschetschenische Oberhaupt: Der Skandal ist international, denn unter den Opfern waren zwei Ausländer; er betrifft öffentliche Feinde Kadyrows, und dann hat er sich auch noch auf inguschetischem Gebiet abgespielt, wo doch alle wissen, wie angespannt die Beziehungen zwischen der Regierung Tschetscheniens und Inguschetiens sind.
Aber erinnern wir uns: In der gesamten postsowjetischen Ära hat es kein einziges Verbrechen gegeben, das als genialer Schachzug aufgeklärt wurde, um jemandem ordentlich was anzuhängen. Bei uns wird zwar viel geredet und spekuliert, aber es gibt nichts Handfestes dazu. Als Drahtzieher eines Verbrechens erweist sich schließlich meist jemand, über den man dachte: Nein, der kann es nicht sein, der lässt sich doch so etwas nicht anhängen.
Eine Motivation, sich nichts anhängen zu lassen, gibt es im heutigen Russland aber überhaupt nicht. Jene, die Macht, Geld und Zugriff auf den Polizei- oder Geheimdienstapparat haben, lassen sich nur allzu gerne was anhängen, denn ihr wichtigstes Attribut ist Straflosigkeit. Vielleicht bleiben sie nur deswegen in Russland, nicht wegen des Geldes. Nur hier dürfen sie so leben, wie sie wollen, mit goldenen Pistolen und so weiter.
Wenn nun jemand denkt, dass es nach diesen Nachrichten von der tschetschenisch-inguschetischen Grenze „so richtig losgeht“ – vergesst es. Gar nichts geht los. Es wird das übliche „Ich weiß nicht“ von Putin-Sprecher Peskow geben, das übliche „die Untersuchung wird es zeigen“ von Markin, dem Sprecher der Ermittlungsbehörde, und die traditionellen Geheimdienst-Leaks über die Nachrichtenagentur Rosbalt. Und dann wird der Skandal leise abklingen. Bei uns wird es um jeden Skandal nach 24 Stunden leiser, nach 48 Stunden noch leiser, und so geht es weiter bis hin zur vollkommenen Stille. So ist es halt bei uns, so ist halt das Leben.
Die Kollegen von Mediazona, von The New Times und anderen Medien, die Opfer der Attacke auf diesen Bus geworden sind, brauchen jetzt unsere Unterstützung. Das Ereignis wird wie immer ein guter Solidaritätstest sein, wie immer werden ihn nicht alle Medien und Journalistenverbände bestehen. Das ist natürlich ihre Sache.
Unsere Sache aber ist es, uns eines vor Augen zu halten: Im Russland des Jahres 2016 ist es möglich, einen Bus mit Journalisten und Menschenrechtlern anzuhalten, alle zu verprügeln und dann das Fahrzeug abzufackeln. Sagt also nicht „Bus im Kaukasus in Brand gesteckt“, sondern „Bus in Russland in Brand gesteckt“, das ist wichtig.