Folter und Gewalt in Russlands Gefängnissen sind ein offenes Geheimnis – immer wieder drangen Augenzeugenberichte darüber an die Öffentlichkeit. Auch Olga Romanowa, Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja, weist seit Jahren darauf hin, dass das russische Gefängniswesen systematisch darauf ausgerichtet sei, Menschen zu brechen. Dem ehemaligen Häftling Sergej Saweljew ist es nun gelungen, ein großes Archiv an Daten, die Foltervideos aus russischen Gefängnissen enthalten, aus dem Knast zu schmuggeln. Das Material zeugt von einem systematischen Folternetzwerk in mehreren russischen Gefängnissen. Saweljew wandte sich damit an den Menschenrechtler Wladimir Ossetschkin, der einzelne Videos auf seiner Plattform Gulagu.net veröffentlichte, benannt nach dem stalinistischen Lagersystem.
Die explizite Gewalt auf den Videos erschütterte viele. Doch obwohl sich auch Russlands Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa erschüttert zeigte und Sergej Saweljew für seinen Mut lobte, wurde der Ex-Häftling zur Fahndung ausgeschrieben und Haftbefehl gegen ihn erlassen. Er ersucht derzeit politisches Asyl in Frankreich.
Meduza hat Sergej Saweljew interviewt und mit ihm darüber gesprochen, inwiefern er selbst Opfer von Gefängnisfolter wurde, wie er an das Material kam – und warum die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Andrej Sarafimow/Meduza: Sagen Sie ein paar Worte über sich. Wie alt sind Sie, und wo kommen Sie her?
Sergej Saweljew: Ich bin 31. Ich bin aus Belarus, geboren wurde ich in Minsk. Dort habe ich auch den Großteil meines Lebens verbracht.
Warum haben Sie sich nach der Veröffentlichung der Foltervideos dafür entschieden, Ihre Identität preiszugeben?
Dem Geheimdienst ist meine Identität sowieso bekannt. Nur die Öffentlichkeit wusste nicht, wer ich bin. Der Geheimdienst hatte mich längst ausfindig gemacht, also machte es keinen Sinn mehr [meinen Namen geheim zu halten]. Das genaue Datum weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass sie seit einigen Monaten wissen, wer ich bin.
Wie würden Sie beschreiben, was auf den Videos zu sehen ist?
Die „Aktivisten“ – so nennt man die anderen Häftlinge im Tuberkulose-Gefängniskrankenhaus OTB-1 in Saratow – können sich jeden Mithäftling vornehmen, den die Leitung rauspickt. Dann bringen sie ihn in die Folterkammer und foltern ihn auf jede erdenkliche Weise. Angefangen bei banalen Schlägen und Erniedrigungen bis hin zu krassen Formen sexueller Gewalt. Sie können einem Menschen antun, was sie wollen.
Wer entscheidet, welcher Häftling gefoltert wird?
Verschiedene Leute in leitenden Positionen in und außerhalb der jeweiligen Einrichtung. Ich bin mir sicher, dass die Spuren noch viel höher führen: bis hin zu den Leitern des FSIN [Strafvollzugsbehörde] und des FSB.
Sie können einem Menschen antun, was sie wollen
Manche Entscheidungen wurden wahrscheinlich auch vor Ort getroffen. Aber in den meisten Fällen kamen die Anweisungen von oben.
Wofür brauchen die FSIN-Beamten die Folter? Was sind deren Ziele?
Die Ziele können sehr unterschiedlich sein. Angefangen bei banaler Bestrafung wegen Verstößen oder Ungehorsam bis hin zu Erpressung. Manchmal setzen sie Folter ein, um das Opfer später zu Falschaussagen gegen jemand anderen zu zwingen.
Auch Rache auf Bestellung von oben ist nicht ausgeschlossen.
Und werden die Ziele mittels Folter erreicht?
Das Ganze passiert ja nicht seit einem Jahr, es hat System in den Behörden, also sind sie [die FSIN-Beamten] mit den Ergebnissen offenbar zufrieden.
Sie sagten, Sie hätten den Großteil Ihres Lebens in Minsk verbracht. Wann und wie sind Sie nach Russland gekommen?
Das war 2013. Ein Bekannter hat mir einen Job angeboten. So bin ich in der Oblast Krasnodar gelandet und bin dort nicht mehr weggekommen. Ich wurde von Spezialeinheiten festgenommen, genauer gesagt vom FSB. Man beschuldigte mich, einen Drogendeal vorzubereiten.
Es geht darum, den Widerstand, den Willen zu brechen. Darum, einem Menschen zu zeigen, dass er keinerlei Rechte hat
Bei der Festnahme habe ich zum ersten Mal Gewalt durch die Silowiki erlebt. Das hat natürlich Spuren fürs ganze Leben hinterlassen. Ich bin noch nie derart brutal, derart heftig und derart krass zusammengeschlagen worden. Die Schläge dauerten den ganzen Tag. Zehn Leute haben auf mich eingeprügelt. Alle maskiert und mit Waffen.
Wollten sie ein Geständnis erzwingen?
Es geht eher darum, den Widerstand, den Willen zu brechen. Darum, einem Menschen zu zeigen, dass er keinerlei Rechte hat. „Wir machen alles, was wir wollen, und uns wird nichts passieren“.
Wie kam es, dass Sie vom FSB festgenommen wurden?
Ehrlich gesagt, drängt sich mir der Verdacht auf, dass die Sache von Vorneherein geplant war. Zu dieser Zeit [Saweljew wurde 2013 verhaftet – Anm. Meduza] war ja eigentlich die Drogenfahndung für solche Delikte zuständig, und doch hat der FSB die Angelegenheit übernommen. Das gibt mir zu denken.
Was ist im Untersuchungsgefängnis passiert?
In den ersten zwei Monaten wurde ich ungefähr einmal die Woche verprügelt. Das diente jetzt nicht mehr dazu, ein Geständnis aus mir rauszuprügeln, sondern damit ich die Protokolle unterschreibe, die sie zusammenstellen, ich leistete gar nicht groß Widerstand. [Das haben sie gemacht] damit ich nicht gegen die Ermittler aufmucke und nicht gegen den Strom schwimme. Als die Ermittlungen abgeschlossen waren, wurden die Akten dem Gericht übergeben und ich wurde ins Untersuchungsgefängnis Nr. 3 in Noworossisk verlegt.
Wie unterschied sich das vom vorherigen Untersuchungsgefängnis des FSB?
Der Verwaltung dort war alles egal, die haben sich um gar nichts gekümmert. Ich war mit genau den Dingen konfrontiert, von denen ich schon unzählige Male gehört hatte: Ein russisches Untersuchungsgefängnis bedeutet null Hygiene, überfüllte Zellen, keine Sanitäranlagen. Absolut menschenunwürdige Verhältnisse. Wir waren mit 26 Leuten in einer Zelle für 12. Geschlafen haben wir dann abwechselnd, in zwei oder sogar drei Schichten. Die Rohre sind undicht, der Betonboden platzt auf, der Putz bröckelt von der Decke, es gibt riesige Kakerlaken.
Ein russisches Untersuchungsgefängnis bedeutet null Hygiene, überfüllte Zellen, keine Sanitäranlagen
Der Gerichtsprozess dauerte fast anderthalb Jahre und hatte eher was von einer Vorlesung. Ich wurde einfach zum Gericht gebracht und durfte mir dort die Geschichte [die Verfahrensdetails] anhören, die die FSB-Ermittler aufgeschrieben hatten. Seite für Seite. Und dann wurde die Sitzung vertagt, weil die Ermittler nämlich sehr viel geschrieben hatten. Fast ein ganzes Buch. Eine richtige Lesung war das.
Am Ende stand das Urteil [neun Jahre Straflager]. Nach der Urteilsverkündung wurde ich in die Oblast Saratow verlegt, wo ich die Haftstrafe verbüßen sollte. Als erstes kam ich in die Besserungsarbeitskolonie IK-10 und blieb dort ungefähr ein halbes Jahr.
Nach der Verlegung dorthin kamen wir in Quarantäne. Am ersten Abend wurden wir heftig geschlagen – sowohl von Mithäftlingen, den sogenannten Aktivisten, als auch von den Beamten.
Wie kamen Sie dann ins OTB-1?
Nach einem Lungenröntgen wurde mir gesagt, es gebe Auffälligkeiten, die abgeklärt werden müssten. Verdacht auf Tuberkulose. Dafür müsste ich in ein Spezialkrankenhaus, ins OTB-1 eben. So sind die Regeln – ob man will oder nicht, man muss hin. Unter dem Vorwand können sie jeden Häftling aus jeder beliebigen Haftanstalt verlegen. Man kann die Verlegung [ins Krankenhaus] nicht verweigern.
Über das OTB-1 wissen natürlich alle Bescheid. Jeder weiß, was für ein furchtbarer Ort das ist und dass man besser nicht krank werden sollte. Ich weiß von Fällen, bei denen sich Leute aus Protest aufgeschlitzt [die Pulsadern aufgeschnitten] haben: „Ich weiß, was die da drin mit mir machen, da fahre ich nicht hin.“
Jeder weiß, was für ein furchtbarer Ort das Gefängniskrankenhaus ist und dass man besser nicht krank werden sollte
Als mir gesagt wurde, dass ich ins OTB muss, fühlte ich Angst und Ausweglosigkeit. Allerdings wurde ich bei der Ankunft im OTB nicht geschlagen.
Ein paar Tage nachdem festgestellt wurde, dass ich gesund war, kam jemand von der Sicherheitsabteilung zu mir. Er sagte, sie hätten eine Stelle frei und suchten jemanden, der Grundkenntnisse im Umgang mit Computern hat. Word, Excel, Photoshop – solche Sachen. Das konnte ich. Also fing ich am dritten oder vierten Tag an, in der Sicherheitsabteilung vom Krankenhaus zu arbeiten. Und ein Posten in der Sicherheitsabteilung ist nicht irgendwas, so jemanden schlägt und foltert man nicht. Das ist keine schlechte Position.
Wann bekamen Sie zum ersten Mal Folterszenen zu Gesicht?
Die ersten zwei Jahre hatte ich keinen Zugang zu solchen Dingen. Man hat mich überprüft und genau beobachtet: Mit wem ich Umgang habe, was ich mache. Alle möglichen Leute haben mich getestet, ob ich Geheimnisse für mich behalten kann. Erst später, als ich mir ein gewisses Vertrauen verdient hatte …
Solche Aufnahmen entstehen nicht zufällig. Es wird alles vorbereitet. Das [die Folter] sind geplante Aktionen. [Die Videos] drehen nicht die Mitarbeiter. Erst gibt es einen Befehl von der Krankenhausleitung oder von der Leitung der Sicherheitsabteilung: „Heute kommt Häftling soundso zu dir, gib ihm eine aufgeladene Kamera mit leerem Speicher. Später zeigst du mir, was er gefilmt hat.“
Solche Aufnahmen entstehen nicht zufällig. Es wird alles vorbereitet
Der Häftling kommt, ich gebe ihm die Kamera. Er geht zum Spezialeinsatz [Folter], kommt zurück, gibt mir die Kamera wieder. Ich ziehe die Files auf den PC, überprüfe, ob sich alle öffnen lassen, und gebe sie der Verwaltung. Danach wird mir gesagt, was ich damit machen soll. Entweder: „Zieh sie mir auf nen Stick“ oder: „Lösch alles, damit nichts auf dem Computer bleibt“.
Gehörten die Geräte den Mitarbeitern?
Die Kameras waren alle erfasst, die gehören zum Bestand der Sicherheitsabteilung. Die Anzahl ist so ausgelegt, dass es genug für alle Mitarbeiter und noch ein paar in Reserve gibt. Ich musste also keinen Mitarbeitern hinterherrennen, um einem Aktivisten eine Kamera zu geben. Es war immer eine gewisse Zahl vorhanden, über die ich frei verfügen konnte.
Warum mussten die FSIN-Beamten überhaupt einen Häftling einstellen, der dann auch noch Zugang zu solchen sensiblen Daten hatte?
Wahrscheinlich wollten sie das selbst nicht anschauen, und irgendwer musste es tun. Wenigstens überprüfen, ob sich die Files öffnen lassen. Überhaupt wird ein Großteil der Arbeit an Häftlinge übertragen, das ist nichts Besonderes. Aus Faulheit, Unprofessionalität, Selbstgefälligkeit.
Ein Teil der Videos wurde auf USB-Sticks weitergegeben. Welche Videos gingen an die Leute „oben“?
Ich muss dazusagen, dass nichts auf den PCs bleiben durfte. Diese Dinge waren grundsätzlich nicht dazu gedacht, dass man sie in den Behörden aufbewahrt.
Überhaupt wird ein Großteil der Arbeit an Häftlinge übertragen, das ist nichts Besonderes. Aus Faulheit, Unprofessionalität, Selbstgefälligkeit
Was nach oben weitergegeben wurde, kam auf einen Stick und wurde weggebracht – als Bestätigung, dass die Spezialmaßnahmen durchgeführt worden waren. Als Material für spätere Erpressung. Als Garantie, dass ein Mensch tut, was man von ihm verlangt.
Wie genau haben Sie das Archiv herausgeschmuggelt? Auf einem Datenträger?
Ja. Ich habe in den letzten Jahren [die gesamten Informationen] kopiert, vervielfältigt, gesammelt und versteckt. Dort [im Straflager] gab es kein Internet oder andere Möglichkeiten, Daten zu übermitteln. Dafür gab es nur einen einzigen Weg [auf Datenträgern]. Und davon gab es genug, die kamen überall zum Einsatz. Bei meiner Freilassung war die größte Herausforderung, sie rauszuschmuggeln.
In dem Archiv sind auch Videos aus anderen Regionen. Da ist die Rede von den Oblasten Wladimir, Saratow, Irkutsk. Wo kommen diese Videos her?
Die FSIN-Behörden müssen zusammenarbeiten und Informationen austauschen, zumindest bei den Akten. Dafür braucht es ein lokales Netzwerk. Wenn man an einer Stelle Zugang zum Netzwerk der Behörde hat, kommt man auch in die anderen rein.
Wie funktioniert das Netzwerk, aus dem Sie die Videos der anderen Regionen hatten? Das hieße ja, dass andere Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung die Videos nicht gelöscht haben?
Sieht so aus. Ich möchte die technischen Abläufe ungern offenlegen. Denn gerade machen ja viele Leute in den Straflagern genau das, was ich gemacht habe. Wenn ich jetzt alles erzähle, könnten die Geheimdienste ihnen den Weg versperren. Ich muss die Prozesse und Algorithmen für die Leute offenhalten, die sich dafür entschieden haben, mir auf diesem Weg zu folgen.
Glauben Sie nicht, dass die Wege längst bekannt sind?
Soweit ich weiß, ist der FSIN eine sehr schwerfällige Maschine. Vor allem was die technische Entwicklung betrifft. Deswegen werden sie einige Zeit brauchen, um die Abläufe zu verstehen und zu unterbinden. Ich schätze, wir haben noch ein bisschen Zeit.
Sie sprachen von Misshandlungen im Untersuchungsgefängnis, im Straflager und im Krankenhaus. Wurden diese Einrichtungen nicht wenigstens einmal von einer Kommission zur Überwachung der Rechte von Gefangenen aufgesucht?
Doch, natürlich, mehrfach. Die kommen ständig – Überwachungskommissionen, die Staatsanwaltschaft.
Aber das ist alles Show. Sie werden von Mitarbeitern der Haftanstalt herumgeführt, von irgendwem von oben. Die Lagermitarbeiter zeigen ihnen, was sie ihnen zeigen wollen. „Schauen Sie, unsere renovierte Banja!“ – „Ja, toll! Es sind großartige Verhältnisse!“, sagen dann angeheuerte Häftlinge, denen man später Fragen stellt, um ein Häkchen im Bericht zu machen: „15 Personen wurden befragt. Keine Beschwerden über die Verhältnisse. Alles toll und super.“
Hat sich nie jemand bei der Kommission über Folter beschwert?
Soweit ich weiß, nicht. Es gab nie eine Untersuchung oder irgendein Verfahren. Nicht dass ich wüsste.
Hatten Sie Zweifel, ob Sie die Videos aus dem Archiv veröffentlichen sollen?
Nein, hatte ich nicht. Ich habe im Februar 2021 Kontakt zu Wladimir Ossetschkin [dem Gründer von Gulagu.net] aufgenommen. Wir haben uns geschrieben. Zu dem Zeitpunkt wusste ich schon, dass er einer der führenden Menschenrechtler ist, die keine Angst haben, die Wahrheit zu sagen, und nicht von Politikern oder Silowiki abhängen. Er hatte über Folter und Machtmissbrauch berichtet, und das schonungslos und effektiv.
Haben Sie sofort beschlossen, Russland zu verlassen?
Nach meiner Freilassung bin ich einfach nach Hause [nach Belarus] gefahren. Das ging problemlos, ich bin erstmal bei Verwandten untergekommen, habe allen Papierkram erledigt und mir einen Job gesucht. Ich habe ein ganz normales Leben geführt, und eben auch mit Gulagu.net zusammengearbeitet. Wenn ich mich nicht irre, kamen im März die ersten Veröffentlichungen, die auf meinen Materialien basierten.
Was passierte danach? Soweit ich weiß, hatten Sie am Flughafen in Sankt Petersburg eine Begegnung mit gewissen „Mitarbeitern“.
Ich bin am 24. September 2021 von Minsk nach Nowosibirsk geflogen, um Freunde zu besuchen. Es gab einen Zwischenstopp in Pulkowo. Dort wurde ich am Schalter von Polizisten und einigen Leuten in zivil aufgehalten. Sie haben mich in ein Büro gebracht und mehrere Stunden verhört.
Haben sie sich vorgestellt?
Natürlich nicht. Sie haben sofort gesagt, sie wüssten über alles Bescheid: dass ich Material an Gulagu.net liefere. Sie meinten, das wäre mindestens Verrat von Staatsgeheimnissen. „Du wanderst in den Knast und ein Jahr später erhängst du dich da drin, weil du den FSIN in Verruf gebracht hast“.
Gab es das Angebot, zu kooperieren?
Ja, es hieß, wenn ich kooperieren würde, könnten die Dinge anders laufen. Zwei Möglichkeiten. Die erste: Ich kooperiere, gebe ihnen das gesamte Archiv, arbeite mit ihnen zusammen gegen Ossetschkin und gehe für vier Jahre wegen Verrat von Staatsgeheimnissen in den Knast. Oder: Ich versuche unterzutauchen, Beschwerde einzureichen und werde wegen Spionage verurteilt – da liegen die Haftstrafen dann schon bei zehn bis 20 Jahren.
Sie haben ein Protokoll erstellt, in dem ich quasi gegen Ossetschkin aussage. Sie wollten sein Projekt [Gulagu.net] unbedingt diskreditieren und seine Arbeit in Verruf bringen. Ich musste unterschreiben. Sie sollten ja glauben, dass ich kooperiere.
Der FSIN wollte auch das ganze Archiv von Ihnen. Wann war das?
Das war auch da, in Pulkowo. Das interessierte sie am meisten. Es interessierte sie überhaupt nicht, was in dem Archiv enthalten war, welche furchtbaren Aufnahmen, wie viele Menschen brutal gefoltert wurden, wer die Befehle erteilt, wer gefoltert hat. Das Einzige, was die wollten, war den Datenfluss zu unterbinden. Und mir das Maul zu stopfen.
Haben Sie ihnen irgendwelche Daten überlassen?
Ich wurde sehr gründlich durchsucht, sie wollten meinen Laptop, USB-Sticks, Festplatten. Aber ich hatte das Archiv nicht bei mir.
Russia Today berichtete mit Verweis auf eine Quelle beim Geheimdienst, Sie hätten das Archiv für 2000 Dollar an Menschenrechtler verkauft, das Geld sei über Yandex.Money geflossen. Stimmt das?
Ehrlich gesagt, hätte das passieren können, hätte ich Yandex.Money. Ich weiß nicht, wie die auf Yandex.Money kommen. Selbstverständlich habe ich die Daten nicht verkauft. Aber materielle Hilfe [von Menschenrechtlern] gab es. Ich habe viele Jahre im Gefängnis verbracht und eine kolossale Datenmenge gesammelt, das alles musste systematisiert und archiviert werden. Als ich das Land verlassen musste, gab es Überweisungen, um die Ausreise zu organisieren.
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie in Frankreich angekommen sind?
Als ich in Frankreich war und mich an die Behörden gewandt hatte, konnte ich endlich aufatmen und mich beruhigen, mich ein bisschen regenerieren. Die Flucht war natürlich schwer für mich.
Seit heute [das Interview fand am 23. Oktober 2021 statt] ist bekannt, dass Sie zur Fahndung ausgeschrieben wurden.
Das ist keine große Überraschung, vielmehr … ist es traurig. Es ist traurig, dass sie immer noch versuchen, mich zum Schweigen zu bringen, anstatt grobe Menschenrechtsverstöße aufzuklären, die Täter zur Verantwortung zu ziehen und die Energie in Untersuchungen und Ermittlungen zu stecken. Aber egal welche Anklage sie gegen mich erfinden – die russische Gesellschaft und die Weltöffentlichkeit wissen, worum es in Wirklichkeit geht.