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Kollegen jagen Kollegen

Viktor Babariko war im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 der aussichtsreichste mögliche Kandidat der Opposition in Belarus. Doch bereits vor der Registrierung wurde er festgenommen und schließlich zu 14 Jahren Straflager verurteilt, sein Anwalt Maxim Znak zu zehn Jahren. Seit Februar 2023 wird auch sein Verteidiger nicht mehr zu ihm vorgelassen. Über 600 Tage gab es keinerlei Lebenszeichen von Babariko, bis kürzlich immerhin Fotos mit ihm in den sozialen Medien auftauchten. So ergeht es vielen bekannten politischen Gefangenen: Sie werden im sogenannten Incommunicado-Regime gehalten, in Einzelhaft ohne Kontakt zur Außenwelt und zu ihren Anwälten. 

Derweil stehen auch die Rechtsanwälte selbst im Fadenkreuz der Strafverfolgungsbehörden im Lukaschenko-Staat. Ihnen wird die Zulassung entzogen, sie werden festgenommen und weggesperrt, viele verlassen das Land. Die Journalistin Jana Machowa zeigt die Folgen dieser Verfolgung. 

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Der Anwalt Maxim Znak bei seiner Gerichtsverhandlung im Jahr 2021 (zusammen mit Maria Kolesnikowa) / Foto © Viktor Tolochko/ SNA/ Imago

Lebt Maxim Znak? Keiner seiner Nächsten kann das mit Sicherheit sagen. 

In Belarus wurde eine Repressionsspirale gegen Juristen losgetreten: Der Gründer der Rechtsanwaltskanzlei Braginez und Partner, Witali Braginez, wurde im Mai 2022 festgenommen, kurz vor dem Gerichtsprozess seines Mandanten Andrej Motschalow. Im Januar des folgenden Jahres wurde Braginez in einer nichtöffentlichen Verhandlung wegen vier Paragraphen des Strafgesetzbuches zu acht Jahren Freiheitsentzug im Straflager mit verschärften Bedingungen verurteilt. Sein ehemaliger Mandant Motschalow war übrigens auch Anwalt. Die Strafverteidiger von Viktor Babariko, Sergej Tichanowski, Maria Kolesnikowa, Sofia Sapega und vielen anderen mussten überstürzt das Land verlassen. 

Insgesamt verloren von 2020 bis Anfang 2024 mehr als 140 belarussische Anwälte ihre Zulassung, mindestens 23 Anwälte wurden verhaftet, nachdem sie Menschen verteidigt hatten, die aus politischen Motiven festgenommen worden waren. Diese Angaben stammen aus dem Projekt Recht auf Verteidigung (russ. Prawo na saschtschitu). Gegen sechs Juristen wurden Strafverfahren eröffnet. Ende Februar 2024 startete der KGB eine erneute Razzia gegen Anwälte politischer Gefangener und ihre Familien, bei der mindestens zwölf Verteidiger festgenommen wurden, die juristisch Hilfe leisten. Ein Ende der Repressionen ist nicht absehbar. 

Immer mehr unabhängige Verteidiger verlassen den Beruf 

Mit der Änderung des Rechtsanwaltsgesetzes 2021 zerstörte die politische Führung die unabhängige Anwaltschaft, indem Einzelanwälte und unabhängige Anwaltskanzleien abgeschafft wurden. Jetzt kann man nur in juristischen Kanzleien arbeiten, die von Anwaltskollegien mit Zustimmung des Justizministeriums eröffnet werden. Anwälte mussten sich diesen Kanzleien anschließen – oder ihren Beruf aufgeben. 

„Dadurch sollten die belarussischen Rechtsanwälte unter die Kontrolle der Staatsführung gebracht werden“, ist sich Maria Kolessowa-Gudilina sicher, die 2020 Dutzende politisch verfolgte Belarussen verteidigte. Dann wurde ihr die Lizenz entzogen, sie verließ das Land, ihre Social-Media-Accounts wurden als „extremistisch“ eingestuft. Früher hat sich das Ministerium mit der Widerrufung der Zulassungen befasst. Jetzt wurde diese Verantwortung an die Kollegien delegiert – denen kann aber nur eine Person vorsitzen, die vom Ministerium bestätigt wurde. 

Silowiki, Staatsanwälte und Richter wechseln zunehmend in den Beruf des Rechtsanwalts 

„Kollegen verfolgen jetzt Kollegen. Man findet praktisch keine Anwälte für politische Strafsachen mehr – wer einen Fall übernimmt, geht ein Risiko ein. Das ist ein großes Problem. 2023 wurden Anwälte festgenommen, die als Kontaktpersonen agierten [also als Empfänger und Übermittler von Informationen - dek]. Sechs Anwälte sitzen im Gefängnis, weil sie professionell ihre Arbeit ausgeführt haben. Und trotz alledem gibt es noch Menschen, die politische Fälle übernehmen und ihre Arbeit sorgfältig erledigen“, berichtet Kolessowa-Gudilina. 

In Belarus nehmen die Anwälte derweil wahr: Während immer mehr unabhängige Verteidiger den Beruf verlassen, wechseln ehemalige Silowiki, Staatsanwälte und Richter zunehmend in den Beruf des Rechtsanwalts. Dafür gibt es eindeutig grünes Licht: Für den Quereinstieg reichen ein Empfehlungsschreiben vom Fachamt, ein verkürztes Praktikum und statt der regulären schriftlichen Prüfung im Justizministerium ein Vorstellungsgespräch.  

Mehr als nur ein „teurer Briefträger“ 

Viele Anwälte, denen die Zulassung entzogen wurde, sind in Belarus geblieben. Manche haben sich einen neuen Tätigkeitsbereich gesucht, aber einige arbeiten weiterhin im juristischen Geschäft. Ein belarussischer Anwalt, der seine Lizenz wegen der Verteidigung politischer Häftlinge verloren hat und daher anonym bleiben muss, berichtet: „Anwälte, die ihren Beruf weiterhin ausüben, sind quasi Staatsbeamte, von Unabhängigkeit kann keine Rede sein. Vereinzelt gibt es noch Anwälte, die in Ordnung sind. In vier Jahren Arbeit unter völlig wahnsinnigen, stressigen Bedingungen haben sie die neuen Regeln verstanden und sich angepasst. Es klingt vielleicht seltsam, aber es ist gut, dass sie sich angepasst haben und so weiterhin helfen können.“ 

Viele Menschen in Belarus glauben gar nicht mehr an den Nutzen von Anwälten, insbesondere bei politischen Prozessen, und bezeichnen sie als „teure Briefträger“. Maria Kolessowa-Gudilina ist überzeugt, dass das nicht richtig ist: Die Arbeit eines Anwalts ist für die Öffentlichkeit oft nicht sichtbar, aber dank ihm kann ein Fall in völlig anderer Form vor Gericht kommen, mit weniger Anklagepunkten und entsprechend einer geringeren Haftdauer im Urteil.  

Dem stimmt ein weiterer belarussischer Anwalt zu, dem die Lizenz entzogen wurde, er erinnert im Gespräch mit dekoder daran, dass seit 2020 viele politische Fälle verhandelt wurden, von denen die Öffentlichkeit gar nichts weiß. „Viele erhielten statt einer Lagerhaft nur Arrest mit Zwangsarbeit oder sogar nur Hausarrest, viele Anklagepunkte konnten abgewendet werden!“, sagt er unter der Bedingung, anonym zu bleiben.  

„Es war nicht leicht, aber wir fanden einen Anwalt für unsere Mutter, die für einen Kommentar in den sozialen Netzwerken angeklagt war. Wir erwarteten nicht viel von ihm, und er erfüllte unsere „Nichterwartungen“. Aber wir sind froh, dass Mutter einen relativ unabhängigen Verteidiger hatte, der am Prozess teilnahm, uns zu juristischen Feinheiten beriet und uns Informationen über ihren Zustand überbrachte“, berichten die Angehörigen der Angeklagten, die letztlich zu einem Jahr Straflager verurteilt wurde. 

Ein Anwalt kann eine riesige moralische Stütze für einen Menschen sein, der dem System sonst ganz allein gegenüberstünde. Er leistet Hilfe, die hier und jetzt gebraucht wird. „Dem Gefangenen, der sich in unmenschlichen Bedingungen befindet, zuhören, helfen, Rat geben“, zählt Kolessowa-Gudilina auf. „Manch einer sagt: Wozu einen Anwalt bezahlen, man bekommt ja doch Hausarrest nach Artikel 342? Aber man weiß ja nicht, ob sie nicht noch etwas finden. Manchmal belasten sich die Menschen vor Schreck selbst noch zusätzlich. Damit das nicht passiert, braucht man qualifizierte juristische Hilfe. Ja, die Rechtsanwaltskammer liegt in Trümmern, aber einzelne Anwälte gibt es noch, die Hilfe leisten.“ Ihr anonymer Kollege verweist zudem darauf, dass es – wenngleich selten – vorkommt, dass Verfahren eingestellt werden. Darüber wird aber nicht laut gesprochen, da es sich ansonsten schnell wieder ändern könnte. 

„Schutz vor Maßlosigkeit“ 

Außer Zweifel steht für die Juristen: Haben Ermittlungsbehörde und Staatsanwalt schon einen Plan bezüglich des Festgenommenen, dann hilft auch kein Anwalt, vor allem bei öffentlichkeitswirksamen Fällen. 

„Aber der Anwalt kann vor Maßlosigkeit schützen und eine mildere Strafe erstreiten“, sagt ein belarussischer Anwalt und führt als Beispiel Personen an, die für die Teilnahme an einer der Minsker Großdemonstrationen auf Grundlage des Artikels 342 (Landfriedensbruch) bestraft wurden. „Das Verkehrsunternehmen Minsktrans forderte eine Entschädigungszahlung in Höhe von mehreren Millionen Rubeln. Die Richter erhoben auf dieser Grundlage bei jedem Verurteilten Geldstrafen, ohne zu beachten, wie viel von der Gesamtsumme bereits bezahlt wurde. Ich kenne Beispiele, wo Anwälte Dokumente vorlegen konnten, die belegten, dass die Gesamtsumme längst von zuvor Verurteilten beglichen worden war. Ohne Anwalt hätte man also nicht nur eine Haftstrafe, sondern auch noch eine maßlose Geldstrafe bekommen.“ 

Die Repressionen gegen die Anwälte wirken sich nicht nur auf die politischen Gefangenen aus. „Die Einschüchterung hat sich auf alle Fälle ausgeweitet, die staatlichen Organe haben verstanden, dass sie grünes Licht haben“, konstatiert Maria Kolessowa-Gudilina. Verteidiger, die noch in Belarus sind, bestätigten gegenüber dekoder, dass seit 2020 für das Regime insgesamt und die Silowiki insbesondere alles „viel einfacher“ geworden sei: Was auch immer wir brauchen – kriegen wir. Gerichtsprozesse sind nur eine Formalität. 

Es gibt aber auch eine andere Ansicht. 

„Bei den nichtpolitischen Fällen war die Rechtsprechung auch vorher schon bedingt abhängig“, erzählt ein anderer anonym bleibender belarussischer Anwalt. „Es gab da aus meiner Sicht sehr seltsame Fälle, wo jemand, der bereits zum fünften Mal wegen Diebstahls angeklagt wird, einfach frei aus dem Gerichtssaal spaziert. Das ist das Wesen des belarussischen Gerichtssystems, so war es vor 2020, und so ist es auch jetzt noch.“ Allerdings stimmt der Anwalt zu, dass früher ein gerechtes Urteil möglich war, wenn der politische Apparat kein besonderes Interesse an einem Fall hatte. Betrachtet man Fälle nach 2020, bei denen ein solches Interesse vorlag, so wurden sie zwar nicht gesondert behandelt, aber man erkennt sehr deutlich die „Annahme der Rechtmäßigkeit staatlicher Interessen“. 

„Wenn jemand auf dem Balkon eine rote Unterhose zwischen zwei weiße Socken gehängt hat, dann geht er auf jeden Fall ins Gefängnis“, fasst unser Gesprächspartner zusammen.  

Aus der Kanzlei in die Backstube 

Wie viele Anwälte genau Belarus verlassen haben, ist nicht bekannt, aber laut Kolessowa-Gudilina sind es definitiv mehr als 100. Oft sind es hochqualifizierte Fachleute, die im Durchschnitt 13,5 Jahre Berufspraxis haben. 

„Die juristische Ausbildung ist sehr kompliziert und spezifisch. In Belarus und den EU-Staaten unterscheiden sich die Rechtssysteme stark“, berichtet einer der Verteidiger, der Belarus nach dem Entzug der Zulassung verlassen hat. Das belarussische Jurastudium wird in der Regel nicht anerkannt, man muss entweder neu studieren oder den Abschluss anerkennen lassen. Das ist teuer, langwierig und kompliziert. Die Psyche spielt dabei eine wichtige Rolle: Mit einem Mal die über Jahrzehnte hinweg erarbeitete berufliche Reputation zu verlieren und sich in einem Zustand wiederzufinden, als wäre man wieder 18 – das ist sehr schwer. Einige der Anwälte verdienen ihren Lebensunterhalt im Ausland in Arbeiterberufen.  

„Ich weiß, dass einige Anwälte bei Lieferdiensten arbeiten, in Bäckereien oder in Geschäften“, bestätigt Kolessowa-Gudilina. „Es gibt keine schlechte Arbeit, aber das sind unsere Köpfe, alle Leute, die im Ausland sind, sollten sie nutzen können.“ 

Ein Jurist, der Belarus verlassen hat, erzählt dekoder unter der Bedingung der Anonymität, dass einige seiner Kollegen sich mit dem polnischen Migrationsrecht beschäftigt haben und jetzt den nach Polen eingewanderten Belarussen bei Fragen zu Migration und Familie beraten. 

„Ich hoffe, in Belarus wird die Rechtshoheit wiederhergestellt“  

Die in Vilnius registrierte belarussische Organisation Anwälte der Menschenrechte befasst sich mit der Lösung des Hauptproblems, der Frage des Berufszugangs im Aufnahmeland für Juristen, die zur Emigration aus Belarus gezwungen wurden.  

„Es ist das erste Beispiel für Selbstorganisation unabhängiger Rechtsanwälte“, sagt Maria Kolessowa-Gudilina, die die Vorsitzende der Organisation war, bis sie den Posten im Oktober 2024 aufgab. „Es gibt ein Leben nach dem Zulassungsentzug in Belarus, es gibt Möglichkeiten, weiterhin zu praktizieren. Unsere Anwälte wurden aus dem Beruf verbannt, weil sie sich den Machthabern nicht unterwerfen wollten, jetzt helfen sie ihren Mandanten vom Ausland aus.“ 

Ich hoffe, dass die Rechtshoheit in Belarus wiederhergestellt wird und ich wieder als Anwalt arbeiten kann 

Eine wichtige Kategorie von Fällen, mit denen die Anwälte im Ausland befasst sind, betreffen die Rechte von Belarussen im Land und im Exil. Die Anwälte können die Rechte ihrer Landsleute insbesondere vor internationalen Strukturen vertreten. Einige Mitglieder der Vereinigung bereiten auch die notwendigen Dokumente für ein zukünftiges Ermittlungsverfahren gegen das Lukaschenko-Regime vor. Dank der Bemühungen der Organisation und der Zusammenarbeit mit den litauischen Kollegen können die Belarussen seit März 2024 im Anwaltsverzeichnis Litauens als ausländische Verteidiger, „Anwälte aus Drittstaaten“, geführt werden, diese Möglichkeit gibt es nicht in vielen Staaten. 

Als ihre wichtigste Mission nennen die Anwälte der Menschenrechte die Wiedererrichtung der Rechtsanwaltskammer im zukünftigen Belarus. „Ich arbeite in Westeuropa in einem Bereich, der dem Rechtswesen nahesteht, verdiene wenig, aber zum Leben ist es genug“, erzählt ein Anwalt, dem die Lizenz entzogen wurde. Er betont, dass das Problem für ihn nicht so sehr das Geld sei. „Ich kann nicht das tun, was ich am liebsten tue: Seinerzeit bin ich aus Liebe zum Fach Rechtsanwalt in Belarus geworden. Ich verstehe das jetzt als temporären Lebensabschnitt und hoffe, dass die Rechtshoheit in Belarus wiederhergestellt wird und ich wieder als Anwalt arbeiten kann.“ 

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Die belarussische Diaspora: Erneuerte Solidarität

Die politische Krise, die mit den Protesten vom Sommer 2020 begann, hat zu einer neuen Welle der Massenmigration aus Belarus beigetragen und die  Politisierung der belarusischen Diaspora gefördert. Den vorliegenden Daten zufolge haben innerhalb des ersten Jahres seit den Ereignissen schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Menschen das Land verlassen. Bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von insgesamt rund 4,3 Millionen Menschen ist dies eine sehr hohe Zahl. Zugleich ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Angesichts der anhaltenden Repressionen im Land planen oder erwägen weiterhin viele Menschen die Ausreise. Auch im Zuge des Krieges in der Ukraine sind viele Belarusen wieder auf der Flucht, denn viele hatten in Kiew oder anderen ukrainischen Städten neu angefangen. 
Die neuen Migranten treffen auf eine Diaspora, die aus einer langen Geschichte mehrerer Auswanderungswellen hervorgegangen und in zahlreichen Ländern organisiert und politisch aktiv ist. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja gibt der Demokratiebewegung im Ausland ein neues, international bekanntes Gesicht mit politischem Gewicht.

Bereits die Wahlkampagne im Frühjahr 2020 in Belarus, in der Kandidaten nicht zugelassen, verhaftet oder ins Exil getrieben wurden, und die friedlichen Massenproteste nach der gefälschten Präsidentenwahl  gaben der Diaspora bemerkenswerten Aufschwung: Bestehende Auslandsorganisationen (unter anderem in den USA, Schweden, Großbritannien und Polen) wurden so gestärkt und neue Organisationen (unter anderem in Italien, Deutschland und der Tschechischen Republik sowie in den USA) registriert. 

Diese neue Solidarität lässt sich an der hohen Beteiligung der belarusischen Diaspora an kontinuierlichen politischen Aktivitäten ablesen, mit denen auf Ungerechtigkeiten in Belarus aufmerksam gemacht wird. Daran zeigt sich auch, dass die außerhalb des Landes organisierte belarusische Demokratiebewegung eine wichtige Rolle spielt. Für Aljaxsandr Lukaschenka erschwert das ein neuerliches Lavieren zwischen dem Westen und Russland. Das ist mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine allerdings mehr denn je in den Bereich des Undenkbaren gerückt, da Lukaschenka der russischen Führung gewährt, Belarus  als Aufmarschgebiet für russische Truppen zu nutzen. In einer Zeit, in der die Opposition im Land selbst zunehmend unterdrückt wird, dient die Diaspora dabei als Stimme von außen, um demokratische Veränderungen einzufordern.

Vor der politischen Krise von 2020

Die Geschichte der Auswanderung aus der Region des heutigen Belarus beginnt zur Zeit des Großfürstentums Litauen: Damals studierten Hunderte junger Belarusen an Universitäten in West- und Mitteleuropa. Emigranten wie Francysk Skaryna, Ilja Kapijewitsch und andere berühmte Persönlichkeiten der belarusischen Kultur haben im Ausland prägend gewirkt. 

Die Massenauswanderung setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Zu dieser Zeit wurden Migranten nicht als Belarusen erfasst, weil die zaristische Regierung diese Nationalitätsbezeichnung offiziell nicht zuließ und es ablehnte, das ethnografisch belarusische Gebiet unter eine einheitliche Verwaltung zu stellen. Obwohl die Zahlenangaben schwanken, liegen sie überwiegend in derselben Größenordnung: Zwischen 1860 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs verließen etwa 1,5 Millionen Belarusen ihre Heimat. Die meisten gingen nach Sibirien, der Rest wanderte in Richtung Westen aus – nach Europa und in die USA. Diese Migrationswelle hatte einen vorwiegend wirtschaftlichen, teils aber auch politischen Hintergrund. Belarusische Juden wanderten in den 1850er Jahren aufgrund religiöser Verfolgung durch die Obrigkeiten aus.

Die Entstehung der belarusischen Diaspora

Die zweite Welle der belarusischen Emigration wurde durch den Ersten Weltkrieg und die revolutionären Ereignisse von 1917 ausgelöst. In den folgenden Jahren gab es in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) über zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Belarus, mehr als 100.000 Menschen gingen in andere Länder. Mit der Proklamation der Belarusischen Volksrepublik (BNR) 1918 und der Gründung der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) im Jahr 1919 erhielt das erwachende Nationalbewusstsein einen Schub. Die Belarusen sahen sich zunehmend als eigenständige Gruppe. 

Die Politisierung der belarusischen Diaspora begann in den 1920er Jahren in den USA: Zu dieser Zeit nahm die Führung der Rada BNR Kontakt zu neu gegründeten belarusischen Organisationen in New York, New Jersey, Chicago, Michigan und Pennsylvania auf und begann, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Archivdokumente zeigen, dass die kommunistischen Führungen in Moskau und Minsk sogar Versuche unternahmen, belarusische Emigranten über die Schaffung pseudo-nationaler belarusischer Organisationen für die kommunistische Bewegung zu mobilisieren – um die Weltrevolution voranzutreiben. In seinem Buch Belarusians in the United States liefert Vitaut Kipel mit Gershan Duo-Bogen ein Beispiel eines kommunistischen Agenten, der daran beteiligt war, die kommunistische Bewegung auf der anderen Seite des Ozeans zu aktivieren.

Belarusen engagieren sich von den USA aus für nationale Selbstbestimmung

Der Zweite Weltkrieg führte zur dritten Auswanderungswelle. Bei Kriegsende zählte die belarusische Diaspora in Europa etwa eine Million Menschen, von denen es viele weiter in die USA zog. Die politischen Emigranten der 1950er Jahre und ihre Nachkommen bildeten die Basis der modernen belarusischen Diaspora. Diese nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA eingewanderten Belarusen waren nationalbewusst. Sie setzten sich bei der US-Regierung mit Nachdruck dafür ein, den belarusischen Staat als nationale und ethnische Einheit mit dem Recht auf Freiheit und nationale Selbstbestimmung anzuerkennen. So hielten beispielsweise belarusische Priester laut Protokoll des US-Kongresses in den 1960er bis 1980er Jahren fast an jedem Jahrestag der Proklamation der BNR Eröffnungsgebete für den Kongress ab. Zum 50. Jahrestag der BNR-Gründung im Jahr 1968 verzeichnet das Protokoll 23 Redebeiträge im US-Kongress, die die Unabhängigkeit von Belarus unterstützten.

Von 1960 bis 1989 war kaum Auswanderung möglich

In den 1960er bis und 1980er Jahren wuchs die belarusische Diaspora nicht nennenswert an, weil die Emigration aus der Sowjetunion rechtlich nicht möglich war. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der massiven Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Republik Belarus sowie den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 erhöhte sich die Zahl der Ausreisen wieder deutlich. Im Jahr 1989 erlaubte die Sowjetrepublik dem Innenministerium zufolge 14.700 Menschen auszureisen. 1990 lag diese Zahl bei 34.100 Menschen und war damit mehr als doppelt so hoch. 

Feierlichkeiten der kanadischen Diaspora zum 50. Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik / Foto © Rada BNR

Nachdem Aljaxandr Lukaschenka im Jahr 1994 an die Macht gekommen war, schwand die anfängliche Hoffnung der belarusischen Diaspora auf eine demokratische Zukunft. An ihre Stelle traten politische Aktivitäten, die von dem Gedanken geleitet waren, Belarus als unabhängigen demokratischen Staat zu erneuern. Die neuen belarusischen Migranten konnten sich im Laufe der Zeit mit der älteren organisierten Diaspora in den USA, Kanada, Europa und anderen demokratischen Ländern auf gemeinsame Positionen verständigen. So wurde in den USA nach erheblichem Engagement der belarusischen Diaspora der Belarus Democracy Act von 2004 verabschiedet – ein US-Bundesgesetz, das erlaubte, politische Organisationen, NGOs und unabhängige Medien zu unterstützen, die sich für die Förderung von Demokratie und Menschenrechte in Belarus einsetzen. Diese Bewilligung wurde in den Jahren 2006, 2011 und 2020 erneuert.

Neue Migrationswelle nach den Repressionen in Belarus

Seit der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2019 emigrierten jährlich schätzungsweise zwischen 10.000 und 20.000 Menschen aus Belarus. Das brutale Vorgehen gegen die Opposition nach den größten Protesten in der Geschichte des unabhängigen Belarus 2020/2021 löste dagegen eine beispiellose Migrationswelle aus. Im ersten Jahr nach August 2020 haben etwa 100.000 bis 150.000 Menschen Belarus verlassen. Viele gingen nach Lettland, Estland und noch weiter weg. 

Nicht eingerechnet sind diejenigen, die nach Russland oder in die Ukraine übersiedelten, weil es kein Visum braucht, um in diese Länder zu reisen. Mit präzisen Zahlen ist es dort daher schwierig. Trotzdem lässt sich die Vorstellung einer Größenordnung bekommen: Laut den Zahlen, die der Staatliche Migrationsdienst der Ukraine herausgibt, stiegen die befristeten Aufenthaltsgenehmigungen für belarusische Staatsbürger dort beispielsweise um 39 Prozent (von 2175 im Jahr 2019 auf 3042 im Jahr 2021). Im Oktober 2020 unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky zudem ein Dekret, das es Unternehmern und hochqualifizierten Fachkräften mit belarusischer Staatsangehörigkeit sowie deren Familienangehörigen erleichtert, eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine zu erhalten. Infolgedessen sind seit der Protestwelle nach der Präsidentschaftswahl bis zu 1500 belarusische IT-Spezialisten aus politischen Gründen in die Ukraine emigriert. 

Doch die meisten Belarusen gingen nach Polen. Laut Eurostat sind dort zwischen August 2020 und November 2021 knapp 2000 Asylanträge von belarusischen Staatsbürgern eingegangen – mehr als in jedem anderen EU-Land. Das ist ein eindrucksvoller Zuwachs, denn zwischen  Anfang 2019 und  September 2020 hatten Belarusen in Polen nur 165 Asylanträge gestellt. Nach Angaben des polnischen Außenministeriums hat das Nachbarland im Zeitraum von Juni 2020 bis Ende Juli 2021 zudem 178.711 Visa an Personen aus Belarus erteilt, darunter mehr als 20.000 „Poland.Business Harbour“-Visa, etwa für Programmierer und Unternehmer im IT-Bereich.

Das EU-Land mit der zweithöchsten Zahl von Asylanträgen aus Belarus ist Litauen: Dort beantragten 235 belarusische Bürger Asyl – von Anfang 2019 bis zum Beginn der Proteste waren es dagegen nur 35. Nach den Zahlen der litauischen Migrationsbehörde hat das Land von September 2020 bis November 2021 zudem 26.200 nationale Visa an belarusische Bürger ausgestellt. 

Die Politisierung der Diaspora nach den Protesten in Belarus

Nach dem Ausbruch der Krise hat sich die belarusische Diaspora innerhalb weniger Monate weltweit zu einer ernstzunehmenden Kraft mit politischem Einfluss entwickelt. Ihre Aktivitäten sind jetzt eng mit neuen politischen Kräften verknüpft, etwa dem Koordinationsrat von Belarus, dem Büro der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja und dem NAM (Nationales Antikrisen-Management).

Der Koordinationsrat von Belarus wurde im August 2020 von Zichanouskaja im litauischen Exil ins Leben gerufen, um auf eine friedliche Machtübergabe hinzuarbeiten und die Krise im Land zu überwinden. Er versteht sich als das ausschließliche Repräsentativorgan der demokratischen belarusischen Gesellschaft. Die Arbeitsgruppen des Rats befassen sich unter anderem damit, Bildungsinitiativen zu entwickeln, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und über Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen zu informieren, die ihren Arbeitsplatz verloren haben.

Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja ist eine separate Einrichtung. Es besteht aus ihr selbst, acht Beratern für nationale und internationale Angelegenheiten sowie Kommunikationsmitarbeitern.

Die von Pawel Latuschka im Oktober 2020 gegründete Organisation NAM (Nationales Antikrisen-Management) in Warschau arbeitet mit dem Koordinationsrat und Zichanouskajas Büro zusammen. Zudem gibt es zahlreiche Initiativen, darunter ByPol, das von ehemaligen Sicherheitskräften gegründet wurde, und BySol für Sportler, ein Projekt von Sportfunktionären und Athleten.

Die belarusische Diaspora hat viele Anstrengungen unternommen, um sich weltweit zu vernetzen und sich in das Ringen um ein künftiges Belarus einzubringen. Ein Beispiel dafür ist die neu gegründete Organisation Association of Belarusians in America (ABA), die Repräsentanten belarusischer Communitys aus 25 Städten in 18 US-Staaten verbindet. Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja organisierte im September 2021 eine Konferenz der Belarusen der Welt in Vilnius und brachte Vertreter belarusischer Communitys aus über 27 Ländern und 40 Organisationen zusammen. 

Durch die Repressionen sind die Proteste 2021 abgeebbt. Infolge der brutalen Unterdrückung durch die belarusische Regierung und mit der Rückendeckung durch Russland bestand kaum noch Aussicht, etwas zu erreichen. Gleichwohl ist zu erwarten, dass die neu erstarkte und vereinte Diaspora sowie die organisierten demokratischen Kräfte von außen weiter und stärker als vor dem Krisenjahr 2020 eine demokratische Zukunft für Belarus einfordern und denjenigen helfen werden, die unter den Repressionen des Lukaschenka-Regimes leiden. 

ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)