„Das Schlimmste steht uns noch bevor“ – Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian zeigte sich ernüchtert, nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron am gestrigen Donnerstag erneut mit Wladimir Putin telefoniert hatte. Putin wolle die vollständige Eroberung und Unterwerfung der Ukraine, hieß es aus dem Elysée.
In einer zweiten Gesprächsrunde zwischen der Ukraine und Russland einigte man sich unterdessen immerhin auf „humanitäre Korridore“, damit Zivilisten die umkämpften Gebiete verlassen können.
Unterdessen eskaliert der Krieg in der Ukraine weiter – und auch die Repressionen nach innen nehmen zu in Russland: Erste unabhängige Medien – der TV-Sender Doshd und der Radiosender Echo Moskwy – stellten nach Website-Blockaden wegen angeblicher „Falschinformationen“ den Betrieb ein. Das Onlinemedium Meduza ist bei vielen in Russland nur noch über VPN erreichbar, Znak stellte die Arbeit ein, es gibt Berichte über Blockaden von Facebook, seit Tagen sind Soziale Medien verlangsamt. Allein für das Wort „Krieg“ im Zusammenhang mit der „Spezialoperation“ in der Ukraine drohen in Russland drakonische Strafen. Landesweit wurden bei Antikriegsaktionen laut OWD-Info bislang mehr als 8000 Menschen festgenommen.
Was kann Putin dazu bewegen, den Krieg zu stoppen? Kann der Druck von innen, der zunehmende Unmut in Gesellschaft und Elite dieses kritische Moment erreichen – mit der Dauer des Kriegs und sich allmählich entfaltender Wirkung von Sanktionen? Wirtschaftswissenschaftler Andrej Nekrassow und Historiker Andrej Subow geben Einschätzungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Und teilen eine gemeinsame Hoffnung:
Was kann Putin dazu bewegen, den Krieg zu stoppen – das fragen Andrej Nekrassow und Andrej Subow / Foto © kremlin.ru unter CC BY SA 4.0
Andrej Nekrassow: „Fast noch mehr von der Realität abgekoppelt als Putin selbst“
Wirtschaftswissenschaftler und Oppositionspolitiker Andrej Nekrassow ist in einem Post auf Facebook wenig optimistisch, was ein Umdenken in Elite oder Gesellschaft angeht. Er argumentiert, dass die russische Armee immer noch bei weitem überlegen sei, und dass die russische Gesellschaft aufgrund der Propaganda größtenteils fest hinter dem Präsidenten stehe. Außerdem habe Putin vor dem Krieg massive Geldreserven angehäuft. Insgesamt sei das russische Regime daher viel besser aufgestellt als etwa das von Kuba oder Venezuela – die schon seit Jahren Sanktionen und Wirtschaftskrisen trotzen. „Wenn man das Tabakdosen-Szenario ausschließt“ [der russische Kaiser Paul wurde angeblich mit einer Tabakdose erschlagen], dann gibt es für Nekrassow „nur schlechte oder ganz schlechte Szenarien“:
Ich sehe völlig unbegründete Euphorie und Siegesgewissheit. Angesichts der taktischen Fehler der russischen Armee, des gescheiterten Blitzkriegs und der westlichen Sanktionen ist die Öffentlichkeit, die sich mit der Ukraine solidarisiert (ob im Westen, in der russischen Opposition oder in der Ukraine selbst), in Illusionen versunken und hat sich fast noch mehr von der Realität abgekoppelt als Putin selbst.
Ich werde versuchen, ein wenig Realismus einzustreuen.
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Wirtschaftssanktionen in den nächsten Jahren in keiner Weise die Stabilität des Putin-Regimes beeinflussen werden: Den Russen wird es schlechter gehen. Die Wirtschaft wird einbrechen. Aber das kümmert Putin nicht. Er hat genug Geld für die Gehälter der Silowiki und für die Waffenproduktion, um ein weiteres Jahrzehnt zu überstehen. Sogar für Ärzte und Lehrer wird etwas übrigbleiben. Für die Regimestabilität reichen jedoch die Silowiki.
Die Sanktionen wirken ausschließlich langfristig. Es geht um Jahre und Jahrzehnte. Mittelfristig haben die Sanktionen keine Auswirkungen auf die Fähigkeit Russlands, eine aggressive Außenpolitik zu betreiben. [...]
So oder so – Selensky wird kapitulieren. Wie diese Kapitulation aussehen wird, spielt keine große Rolle, wichtig ist, dass Putin sie als seinen Sieg darstellen wird und dass das Regime sich dadurch nur stabilisiert. Ich glaube, Putins [wirkliche] Forderungen sind ein neutraler Status sowie die Anerkennung der LNR/DNR und der Krim. Ich würde diesem Szenario 70 bis 80 Prozent geben.
Ich will niemanden zu irgendetwas auffordern, aber wenn Selensky sich ohnehin für die eine oder andere Variante der Kapitulation entscheiden muss, dann besser früher als später. Es würden weniger Menschen sterben. Die Siegesgewissheit der Bevölkerung wird aber nicht zulassen, dies früher zu tun. Eine Kapitulation zu einem Zeitpunkt, an dem die meisten Ukrainer glauben, sie würden gewinnen, würde aus Selensky eine politische Leiche machen. Am Ende kommt es höchstwahrscheinlich zum selben Ergebnis, allerdings mit viel mehr Toten auf beiden Seiten.
[...]
Die Realität hat gezeigt, dass die russische Wirtschaft in den Jahren, in denen sie unter „schrecklichen Sanktionen“ stand, nicht nur nicht zusammengebrochen ist, sondern ihre Reserven um 250 Milliarden [US-Dollar] erhöht, gleichzeitig ihre Auslandsverschuldung um mehr als 250 Milliarden gesenkt hat und so weiter. Den Menschen ging es schlechter, das Wirtschaftswachstum lag bei Null, es gab aber nicht mal annähernd eine Katastrophe, das System wurde nur stabiler. Heute ist eine Katastrophe noch unwahrscheinlicher. Die Konstruktion ist zu stabil. Und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob die Veränderung der äußeren Umstände zwischen 2021 und 2022 bedeutender ist als die zwischen 2013 und 2016.
Andrej Subow: Kleptokratie vs. Putin
Langfristig scheint ein wirtschaftlicher Niedergang Russlands nicht nur für Nekrassow unvermeidbar. Ein Schicksal wie Nordkorea oder Iran mit allumfassender Aggression nach innen und außen stünde Russland bevor, so der Tenor. Historiker Andrej Subow jedoch hält auf Facebook dagegen – die massiven westlichen Sanktionen könnten vielmehr ein Umdenken in der Elite bewirken:
Derzeit herrscht in der [kleptokratischen] Elite Schrecken und Frustration. Der wichtigste Satz in den Büros des Kreml, an der Lubjanka und auf dem Staraja Ploschtschad ist jetzt: „Er hat uns betrogen.“ Denn mit dem russisch-ukrainischen Krieg hat Putin ihr ganzes schönes Leben auf Null gesetzt – ihr Geld und ihre Villen an den besten Orten der Welt sind seinetwegen für sie nun unerreichbar. Und jetzt verlangt er auch noch mehr Loyalität, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass die Komplizenschaft in diesem Krieg viele von ihnen zu Kriegsverbrechern und zu Angeklagten in Den Haag macht. Das war mit Putin so nicht abgemacht. Außerdem würde ihnen das Gespenst des Großen Terrors durch die Köpfe geistern, wenn das nun von der ganzen Welt geächtete Regime seine Aggression fortsetzt, und langfristig auch die Aussicht, zu radioaktiver Asche zu zerfallen. Für die Besitzer von Hochseeyachten, Rolls-Royce- und Lamborghini-Sammlungen, von Meisterwerken der Malerei und gemütlichen Villen in den Weinbergen der Toskana ist das alles keine rosige Perspektive.
Von einem Tag auf den anderen haben diese Leute ihre Loyalität zu Putin aufgekündigt. Warum sollten sie auch alles verlieren, was sie angehäuft haben, und dazu auch noch ihr eigenes Leben? Ohne sie ist Putin aber kein großer Tyrann mehr, sondern nur noch ein alter Mann, der sich in einem Bunker versteckt. Zwar kann er auf den sprichwörtlichen roten Knopf drücken, den Charlie Hebdo so geschickt dargestellt hatte, aber niemand wird seinem Befehl folgen. Die paar Fanatiker zählen nicht – die werden einfach isoliert, genauso wie der Tyrann selbst.
[...]
Hätte Putin den Krieg in der Ukraine in zwei Tagen gewonnen und der Westen keine vernichtenden Sanktionen verhängt, dann hätte er die Loyalität und sogar die mystische Begeisterung der Elite – wie Hitler 1939 bis 41 – und die volle Unterstützung des Volkes. Die Intelligenzija wäre gespalten und isoliert gewesen.
Putin hat den Krieg aber verloren, der Blitzkrieg ist gescheitert, hat sich im März-Schlamm der ukrainischen Schwarzerde festgefahren. Die Sanktionen haben sich wirklich als vernichtend erwiesen, genauso wie es der alte Präsident Biden versprochen hatte.
Putin ist nun ganz allein. So allein ist nicht mal der Iran, wo sich das Ajatollah-Regime durch eine religiöse Volksrevolution gefestigt hat (wie übrigens auch das bolschewistische Regime in Russland 1917–22), oder Nordkorea, wo ein antikolonialer Krieg des Volkes in Despotismus mündete. In beiden Fällen führte die Revolution zu einem vollständigen Wechsel der Eliten. Russland wird seit 30 Jahren von einer langweiligen, ideenlosen Kleptokratie regiert – einer Kleptokratie, die vom Bolschewismus das von ihm zermalmte Volk geerbt hat.
Putin hat die Kleptokratie auf Null gesetzt, er kann nicht mehr ihr Leader sein, er kann sich nirgendwo mehr in der Welt sehen lassen, für die Menschheit ist er der gefährlichste Kriegsverbrecher, der Züge eines Wahnsinnigen trägt. Er wird in den nächsten Tagen verraten. Nicht er, sondern ein neuer Leader wird der Elite ihr schönes Leben zurückzugeben, die Beziehungen zum Westen wiederherstellen, die Freigabe ausländischer Bankkonten und die Aufhebung der Beschlagnahmung ihres Vermögens erwirken. Es sollte jemand sein, der nicht durch die aktuellen Verbrechen befleckt ist und der sie idealerweise lautstark verurteilt. Jemand, der aus ihrer Mitte kommt, mit dem es sich reden lässt.
Uns droht also kein neuer Stalinismus, auch kein iranischer oder nordkoreanischer Weg. Die Massen Russlands bleiben stumm, es wird keine Volksrevolution geben. Aber es wird sehr sehr bald eine Palastrevolution geben: etwa wie bei der Absetzung Chruschtschows 1964 oder beim Tod von Kaiser Paul in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1801 oder wie bei dem merkwürdigen Tod Stalins im März 1953. [...]