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Verschleppung, Elektroschocks und versuchte „Umerziehung“

„Domoi! Ab nach Hause!“, rufen die Menschen im Stadtzentrum von Cherson. Mit ukrainischen Flaggen laufen sie auf einen russischen Militär-LKW zu, der sich im Rückwärtsgang von der Menschenmenge entfernt. Die Bilder von den Protesten gegen die russische Besatzung der südukrainischen Stadt Cherson gingen im März 2022 um die Welt. Wenig später folgten erste Berichte über Verschleppungen: „Ich bin in Cherson auf einer friedlichen Protestaktion gewesen. Mein Vater wird seit Montag, den 21. März 2022, vermisst; er ist zu einer Kundgebung gegangen und nicht zurückgekehrt.“

Russland hat zahlreiche ukrainische Zivilisten gefangen genommen und auf die Krim verschleppt. Auf Meduza berichten ehemalige Häftlinge, wie sie dort im Gefängnis misshandelt wurden.

Achtung: Der Text enthält drastische Darstellungen von Folter und Gewalt.

Source Meduza

Am Morgen des 9. Mai 2022 hörte Alexander Tarassow, Gefangener des Untersuchungsgefängnisses SISO Nr. 1 in Simferopol, hinter der Tür seiner Zelle die Speznas-Leute des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN brüllen: „Antreten! Kopf runter, rauskommen! Zackig, hab ich gesagt!“

Die fünf Zelleninsassen senkten mit einstudierter Bewegung die Köpfe und verschränkten die Hände auf dem Rücken. Von da an sah Tarassow nur den Boden, die eigenen Füße und die Stiefel der Speznasowzy. Tief heruntergebeugt in der Stellung „Delfin“ kam er aus der Zelle und stellte sich mit dem Gesicht an die Wand. „Breiter! Die Beine breiter auseinander, hab ich gesagt!“ Einer der FSIN-Männer schlug Alexander so lange auf die Waden, bis der Häftling praktisch im Spagat stand.

Mit der Stirn an die Wand gepresst dachte Tarassow nur an seine zu reißen drohenden Sehnen und hörte, was die Einsatzleute jetzt von ihm wollten: „Welcher Feiertag ist heute? Hm? War dein Opa im Krieg? Antworte!“

Egal, wie die Antwort lautete – jeder Häftling bekam einen Schlag mit dem Elektroschocker: „Eure Großväter würden sich im Grabe umdrehen, ihr Faschisten!“

Sie traktierten ihn mit dem Elektroschocker und befahlen ihm, ‚Den Pobedy‘ zu singen

Wenige Stunden später kam die Speznas zur nächsten Kontrolle. Diesmal gingen die mit Elektroschockern bewaffneten Einsatzleute gleich in die Zelle. In der Tür stand der Hundeführer. Sein Hund zerrte an der Leine, wollte sich auf die Häftlinge stürzen und bellte heiser, erinnert sich Tarassow.

Einen von Tarassows Zellengenossen, Sergej Derewenski, nannten die Speznasowzy „Kämpfer des Rechten Sektors“. „Sie traktierten ihn mit dem Elektroschocker und befahlen ihm, [das Sowjetlied] Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) zu singen“, erzählt Tarassow. „Sie verpassten ihm einen Tritt direkt in die Magengrube: ‚Los, sing!‘“

Tarassow sah nicht hoch. „Das bringen sie dir schnell bei“, erläutert er dem Korrespondenten von Meduza die Ordnung im Simferopoler Untersuchungsgefängnis Nr. 1. „Die kleinste Augenbewegung, und du hast den Elektroschocker am Schädelknochen. Also schaute ich auf meine Füße. Und hörte zu.“

„Dieser Tag des Sieges riecht nach Schießpulver …“, begann Derewenski mit fremder, ganz anderer Stimme – zitternd, gebrochen – zu singen. Den Einsatzkräften gefiel ganz offenbar, was sie hörten, denn sie sagten immer wieder: „Weiter!“ und machten weiter mit dem Elektroschocker, wenn Sergej sich verhaspelte.

Der Stromschlag geht durch jede einzelne Muskelfaser und explodiert dann

„Der Stromschlag geht gefühlt durch jede einzelne Muskelfaser und explodiert dann“, beschreibt Tarassow das Gefühl der Elektroschockbehandlung. „Danach krampfen sich die Muskeln weiter zusammen … Und in diesem Zustand sang er: ‚Mit Tränen in den Augen …‘“

Bei diesen Klängen kamen weitere Gefängniswärter dazu. Der Hundeführer sah dem Auftritt weiterhin von der Tür aus zu; sein Diensthund war jetzt ruhig. „Ich betete, dass das an mir bitte vorübergeht“, erinnert sich Tarassow. „Wir waren zu fünft in der Dreierzelle, und wir hatten alle Angst, dass wir auch singen müssen.“

Als die Speznasowzy weg waren und die Häftlinge wieder aufschauen konnten, sah Tarassow, dass Derewenski ganz blass war. „Wir alle hatten schweigend mit ihm gelitten. Hatten ihn aber nicht beschützen können. Wir waren beschämt, dass wir nichts dagegen ausrichten konnten“, sagt Tarassow. „Du wirst gequält, musst aber deine Schutzreflexe unterdrücken. Weil jeder Widerstand es nur schlimmer macht.“

Vor seiner Verhaftung organisierte Tarassow Demonstrationen gegen die russische Okkupation in Cherson

Vor seiner Verhaftung im März 2022 organisierte Tarassow Demonstrationen gegen die russische Okkupation in Cherson. Seine Zellengenossen waren ukrainische Aktivisten und Freiwillige, die der ukrainischen Armee geholfen hatten und in den Gebieten festgenommen wurden, die Russland zu Beginn des Krieges erobert hatte. Den Aufsehern zu widersprechen wagte niemand mehr: Jeder in dieser Zelle hatte bis Mai 2022 bereits Folter erfahren. Nikita Tschebotar aus Hola Prystan hatten sie aus dem Luftgewehr in die Beine geschossen – und ihn dann gezwungen, sich eigenhändig die Bleikugeln aus dem Fleisch zu pulen. Alexander Geraschtschenko aus Cherson wurde mit Stromschlägen gefoltert. Sergej Zigipa aus Nowa Kachowka wurde aus dem Gefängnis ins FSB-Gebäude nach Simferopol gebracht und stranguliert.

Tarassow selbst war nach seiner Verhaftung im Keller der Stadtverwaltung von Cherson gefoltert worden (in der sich zu dem Zeitpunkt bereits die russischen Truppen eingerichtet hatten). Man klebte ihm Elektroden an die Ohrläppchen, ließ den Strom laufen und verlangte von ihm, die Namen der anderen Organisatoren der Proteste zu nennen. Tarassow zufolge nannten die FSB-Leute diese Methode „Anruf an Selensky“.

„Dann hielt mir der FSBler eine Pistole an die Schläfe und sagte: ‚Ich glaub, du erzählst Mist.‘ Und entsicherte die Waffe“, berichtet Tarassow. „Ich wusste echt nicht, ob er abdrückt oder nicht.“

Dann hielt mir der FSBler eine Pistole an die Schläfe: ‚Ich glaub, du erzählst Mist.‘ Und entsicherte die Waffe

Tarassow gibt zu, dass er bei den „Kontrollen“ im Simferopoler Untersuchungsgefängnis am liebsten aufbegehrt und zugeschlagen hätte. „Ich weiß noch, wie wir da sitzen, und einer [ein Mithäftling] nimmt einen Löffel und fängt an, ein Loch in die Wand zu kratzen. Sagt: ‚Guck mal, wir könnten echt einen Tunnel buddeln!‘ Ich sag zu ihm: ‚Und dann?‘ Da waren immer mindestens drei von der Speznas und der Typ mit seinem Hund plus zwei Wachen. Der ganze Block war vergittert. Und wir kannten nicht mal den Weg da raus.“

Im Simferopoler Untersuchungsgefängnis Nr. 1 kann man sich leicht verirren: Es befindet sich in einer richtigen Gefängnisfestung aus dem 19. Jahrhundert. Tarassow erinnert sich: „Es ist wie ein mittelalterliches Verlies: Du wirst durch endlose verschlungene Gänge geführt, eine Gittertür nach der anderen wird aufgeschlossen … Und dazu hast du einen Sack über dem Kopf.“

Die in der Ukraine festgenommenen zivilen Geiseln – so nennen Menschenrechtler die ukrainischen Staatsbürger, die von den Russen ohne Anklage oder Kriegsgefangenenstatus in Untersuchungshaft gehalten werden – waren in einem Sonderblock untergebracht und komplett von allen anderen Häftlingen isoliert.

„Im SISO gingen Gerüchte um, wir wären irgendwie besonders gefährlich“, erinnert sich Tarassow. „In Wahrheit wurde das gemacht, damit keinerlei Informationen über uns nach außen drangen. Einmal gingen wir an Insassen vorbei, die Küchendienst hatten, da rief der Gefängniswärter: ‚Wegdrehen, Gesicht an die Wand!‘“

Die Zahl der ukrainischen Staatsbürger, die von den Russen festgehalten werden, ohne offiziell als Kriegsgefangene oder als Angeklagte zu gelten, ist unbekannt.


„Russland ist die Fackel der Zivilisation und die Rettung der Menschheit. Was macht ihr hier den Dicken?“

Die Gefangenen im Simferopoler SISO erinnern sich gut an das Surren des Elektroschockers – und wie es nach dessen Einsatz roch.

„Wenn denen irgendwas nicht passt – Stromschlag. Sie haben aus uns verängstigte Tiere gemacht“, sagt Alexander Tarassow. „Sie haben uns dazu gebracht, dass wir bei den routinemäßigen Kontrollen horchten, ob wir hinter der Wand den Elektroschocker hörten. Allein von dem Geräusch bekam ich Muskelkrämpfe.“

Die Speznas-Leute wussten genau, welche Wirkung das Summen des Elektroschockers auf die Häftlinge hatte – und spazierten ausgiebig ohne echten Grund mit den eingeschalteten Geräten durch die Korridore. „Sie machten sich einen Spaß draus und ließen die Dinger im Takt surren: pam-pam-pa-pa-pam“, erinnert sich Tarassow. „Sie wussten, dass uns dieses Geräusch in die Eingeweide fährt. Dass wir Bauchkrämpfe davon bekommen und es uns gegen die Schläfen haut.“

Sie zwingen dich in den Spagat und sagen dabei: ‚Russland ist die Fackel der Zivilisation‘

„Sie haben uns einfach dafür gehasst, dass wir ihre Truppen [zu Beginn der Invasion] nicht mit Brot und Salz empfangen haben“, sagt Tarassow. „Sie schlagen dir gegen die Waden, zwingen dich in den Spagat und sagen dabei: ‚Russland ist die Fackel der Zivilisation und die Rettung der Menschheit. Was macht ihr hier den Dicken?‘“

Nach Aussage von Meduzas Gesprächspartnern war der ukrainische Widerstand gegen den russischen Einmarsch ein echter Schock für das Personal des Simferopoler SISO Nr. 1. Und so versuchten sie, die Häftlinge „umzuerziehen“. Behaupteten ihnen gegenüber, dass die russischen Truppen bereits Odessa und Poltawa eingenommen hätten.

Die Häftlinge hatten keine Verbindung zur Außenwelt. „Uns erreichten nur spärliche Informationen; manchmal konnten wir das Radio hören, das für die anderen Gefangenen angemacht wurde“, erzählt Tarassow. „Und im Mai [2022] mussten wir uns alle die Sendung Wojennaja taina [Kriegsgeheimnis] angucken, in der Russland versprach, bald das Regierungsviertel [in Kyjiw] einzunehmen. Da konnten wir dann selbst unsere Schlüsse ziehen: Wenn Selensky eine Videobotschaft auf dem Chreschtschatyk aufnimmt, was bedeutet das? Alles in Sicherheit.“


„Sie fragten uns aus, ob wir irgendwas über den Beschuss von Wohnhäusern und dem Theater in Mariupol wissen“

Im Oktober 2022 wurde der gesamte „ukrainische“ Spezialblock des Untersuchungsgefängnisses Nr. 1, darunter auch Alexander Tarassow, in das neu eröffnete Untersuchungsgefängnis Nr. 2 verlegt, das sich ebenfalls dort befindet. Der neue Gefängnisbau, der ausschließlich für verschleppte Ukrainer bestimmt war, wurde derart eilig in Betrieb genommen, dass nicht einmal die Bauarbeiten abgeschlossen waren, erfährt Meduza von drei ehemaligen Insassen. Dass die Inhaftierten dorthin verlegt wurden, konnte man auch aus den ukrainischen Medien erfahren.

Die Scheiben der neuen Plastikfenster wurden vor dem Eintreffen der Ukrainer komplett zugetüncht. „Damit wir weder den Hof sehen noch die Tageszeit erkennen“, sagt Tarassow. „Wir mussten uns daran gewöhnen, nicht zu wissen, ob es Vor- oder Nachmittag ist.“

In den Zellen des SISO Nr. 2 brennt rund um die Uhr Licht

In den Zellen des SISO Nr. 2 brennt rund um die Uhr Licht. Aus den Lautsprechern ertönen regelmäßig die Gefängnisordnung und die russische Hymne – so laut, dass der drei Kilometer entfernt wohnende russische Anwalt Emil Kurbedinow, der den ukrainischen Geiseln zu helfen versucht, sie häufig von seinem Fenster aus hört. Von sechs Uhr morgens bis zur Nachtruhe ist es den Häftlingen verboten, auf ihren Pritschen zu sitzen oder zu liegen.

„Damit ist es ihnen auch verboten, das Namaz [das muslimische Gebet] durchzuführen“, sagt uns Amide, die Frau des Krimtataren Ekrem Krosch, der vor kurzem in das SISO Nr. 2 überführt wurde. „Er darf nicht beten, weil er stehen muss.“

Die Häftlinge würden maximal isoliert gehalten, damit sie weder einander noch die Gefängniswärter wiedererkennen, erklärt Tarassow. „Eine kurze Zeitlang konnten wir über die Lüftungsschächte kommunizieren“, erinnert sich ein anderer ehemaliger Häftling. „Wir hatten sogar eine Art Chat – einen Buschfunk zwischen den Zellen. Doch einer [der Häftlinge] namens Sascha, der im ‚Chat‘ die ukrainische Hymne gesungen hat, kam in den Karzer. Und Nikita, der im ‚Chat‘ zu Silvester Olivier-Salat forderte, hätten sie fast die Beine gebrochen.“

Wir schicken dich nach Luhansk, da gibt es noch die Todesstrafe, da erschießen sie dich

„[Die FSB-Leute] beginnen [die Verhöre] direkt mit Drohungen sexueller Art. Oder sagen: ‚Wir schicken dich nach Luhansk, da gibt es noch die Todesstrafe, da erschießen sie dich‘“, erinnert sich ein weiterer Ex-Häftling, Maxim. Er sah gleich, dass die Einsatzkräfte nicht älter waren als er, und nahm ihre Drohungen nicht ernst. „Die waren um die 25, wie ich“, sagt Maxim. „Die guckten in mein Handy und lachten mich aus, weil ich Kryptowährung zu teuer gekauft hatte. Das Fenster zum Innenhof war geöffnet, und mitten im Verhör sagten sie: ‚Wenn du aus dem Fenster schreist: ‚Schnauze, ihr Schwuchteln!‘, dann lassen wir dich frei!‘“

Maxim wurde nicht nur vom FSB verhört, sondern auch von einem Mitarbeiter des Ermittlungskomitees. „Er erzählte, er sei [angeblich] in der Ukraine geboren, in Irpin, aber er liebe Russland“, erinnert sich der Ex-Häftling an das Gespräch. „Er sagte, seine Schwester sei [seit dem Maidan] ein Topfkopf und deswegen für die Ukraine.“

Dann kamen Silowiki aus Moskau ins SISO und brachten einen ganzen Stapel Protokolle mit, erzählt Maxim. Sie fragten, was er über die „Verbrechen der ukrainischen Armee in Mariupol“ wisse. Ähnliche Fragen stellten sie auch Tarassow. „Sie wollten von uns Aussagen erpressen für ein Strafverfahren, dass die Ukraine gegen die Regeln der Kriegsführung verstoßen habe“, ist sich Tarassow sicher. „Sie fragten uns aus, ob wir irgendwas über den Beschuss von Wohnhäusern und dem Theater in Mariupol wissen.“

Das erste Strafverfahren wegen „Anwendung verbotener Mittel und Methoden der Kriegsführung“ hatte das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation schon im Mai 2014 gegen die Ukraine eröffnet – während des Kriegs im Donbass und kurz nach der Annexion der Krim. Im Frühjahr 2022 erfuhr dann die ganze Welt von der Ermordung von Zivilisten in Butscha durch die Russen. Zu dieser Zeit sprach Meduza mit einer dem Ermittlungskomitee nahestehenden Quelle: Nach den „Berichten der Chochly über Kriegsverbrechen in den Vororten [von Kyjiw]“ hätten die russischen Ermittler und Fahnder in den okkupierten Gebieten „sofort losgedonnert und die Aufklärung von Kriegsverbrechen des ‚Rechten Sektors‘ der ganzen letzten acht Jahre verlangt“. 

„Das Ermittlungskomitee ist extrem daran interessiert, sein politisches Gewicht beizubehalten – genau deswegen seien in den okkupierten Gebieten temporäre Zweigstellen eingerichtet worden“, erfährt Meduza von einem russischen Juristen, der mit den zivilen Geiseln aus der Ukraine arbeitet. „Militärermittler aus dem ganzen Land wurden dahin abkommandiert und haben intensiv gearbeitet: an Hunderten von Fällen, Tausenden Geschichten, Bastrykin redet ständig öffentlich davon.“


„Ein paar Stromschläge – und der Spanier kann Russisch“

Ende März 2022 wurden Alexander Tarassow und Sergej Zigipa mitten in der Nacht von Aufsehern geweckt. Mitarbeiter des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN kamen in die Zelle und stellten ihnen eine seltsame Frage: Ob einer von ihnen Spanisch könne? „Serjoga kann Portugiesisch“, erzählt Alexander. „Sie baten ihn, mitzukommen und einen Spanier zu beruhigen, der gerade aus Cherson gebracht worden war.“

Die neue zivile Geisel war Mario García Calatayud, ein Rentner aus Spanien, der seit 2014 in der Ukraine lebt. „Sergej sagte ihm damals natürlich, dass alles in Ordnung käme“, erinnert sich Tarassow. „Aber Mario hatte einen Schock: Er begriff nicht, wo er da gelandet war und wer all diese Leute in Uniform waren, die ihn anschrien. Er sah aus wie ein gehetztes Tier.“

Der Spanier wurde ständig mit dem Elektroschocker traktiert – weil er die Kommandos der Aufseher nicht verstand

Mario Calatayud, der trotz mehrerer Jahre in der Ukraine weder Ukrainisch noch Russisch sprach, wurde ständig mit dem Elektroschocker traktiert – weil er die Kommandos der Aufseher nicht verstand. „Er musste alle diese Posen lernen: Antreten, zum Ausgang, Kopf runter. Ich hab aus der Zelle gehört, wie sich der Aufseher und der Speznas-Mann amüsierten: ‚Ein paar Stromschläge – und der Spanier kann Russisch‘“, erinnert sich Tarassow.

Seinen 75. Geburtstag erlebte Mario Calatayud im SISO Nr. 2 – und nicht in bester Verfassung. Anatoli Fursow, der Rechtsvertreter des Spaniers, erklärte Meduza, dass Calatayud Probleme mit dem Herzen habe, ihm aber in der Haft die Medikamente weggenommen worden seien. „Er rief immer auf Spanisch nach einem Arzt“, erinnert sich Tarassow, der in der Nebenzelle saß. „Aber der Arzt kam manchmal erst nach einer Woche. Dann roch es im ganzen Flur nach Corvalol.“

Irgendwann lernte Calatayud doch noch ein paar Wörter Russisch: „choroscho“ (dt. gut), „spassibo“ (dt. danke), „normalno“ (dt. etwa okay, gut). Für die seltenen Gelegenheiten zum Duschen bedankte er sich bei den Aufsehern aber immer noch auf Spanisch: „Perfecto, señor comandante!“

Und Mario dann: No soy fascista! No faschism Mario! Das hat er immer wiederholt

Nicht einmal für die Verhöre fanden sie für Calatayud einen Dolmetscher – und zwar weder im SISO noch in der lokalen Verwaltung des FSB, wohin die Geiseln gelegentlich gebracht wurden. „Als wir [in das Gebäude] hineingeführt wurden, sagte einer vom FSB schon in der Tür, dass Mario ein Faschist sei“, erinnert sich Maxim, der zusammen mit dem Spanier zum Ermittler gefahren wurde. „Und Mario dann: No soy fascista! No faschism Mario! Das hat er immer wiederholt.“

In der Zelle war Calatayud der Sauberkeitsfanatiker: Er wischte die Regale und die Fenstersprossen, bevor sich da überhaupt Staub angesammelt haben konnte. Sein Zellengenosse Jewgeni Jamkowoi glaubt, dass Calatayud den Aufsehern „seine Fügsamkeit demonstrieren“ wollte: „Im SISO schlugen sie richtig zu. Ich hab seine Narben vom Dynamo [das heißt die Spuren von der Folter mit Strom] gesehen. Und einmal hat sich ein Diensthund in seinem Bein verbissen: Das Blut spritzte, und er konnte sich nicht mehr zurückhalten und schlug dem Hund mit der Faust auf den Kopf. Das zahlte ihm der Hundeführer sofort heim.“

Bevor Calatayud in Simferopol inhaftiert wurde, hatte er sich den russischen Silowiki gegenüber ziemlich kühn verhalten. „Sogar in der Zelle [in Cherson], als er gerade erst von einer Demo weg verhaftet worden war, brachte er es fertig, ‚Slawa Ukrajini!‘ zu rufen – und seine Morgengymnastik zu machen“, erzählt seine Frau, die 39-jährige Chersonerin Tatjana Marina. „Die hiesigen Aufseher schlackerten nur so mit den Ohren, wenn Mario sie unverblümt ‚puta madre‘ nannte – was soviel heißt wie Hurensöhne.“

Marina erklärt, dass Calatayud 2014 in die Ukraine gezogen sei, um humanitäre Hilfsgüter in Kinderheime zu liefern, die sich im Osten des Landes nahe der Front befanden. „Er nannte Putin ‚señor de la guerra‘; die Ungerechtigkeit machte ihn ganz kirre. Er hatte in der Stadtverwaltung von Valencia gearbeitet, war aber schon in Rente – und kam, um zu tun, was in seiner Macht stand“, erzählt Tatjana Marina. 

Die Hilfsgütertransporte unter Beschuss bis direkt an die Front haben Mario waghalsiger gemacht, meint seine Frau: „Er hat immer gesagt: ‚sangre española brava‘ [spanisches Blut ist tapfer]! In den ersten Tagen der Okkupation von Cherson benahm er sich wie ein Irrer. Jedes Mal, wenn er die Kette russischer Soldaten rund um unser Verwaltungsgebäude sah, formte er mit den Fingern Pistolen – wie ein Kind – und drohte ihnen [auf Spanisch]: ‚Ich knall dich ab, Besatzer!‘ Ich bekam schweißnasse Hände vor Angst.“

Tatjana fragt sich, wie Mario im SISO überlebt: „Er ist doch so freiheitsliebend. Wie kann man einen, der so gern frei atmet, einfangen und in einen Käfig sperren?“


„Kriegsgefangene kann Russland sie nicht nennen“

Die meisten Gefangenen im SISO in Simferopol haben keinerlei gesetzlichen Status (etwa als Verdächtigte); ihre Inhaftierung entbehrt somit jeglicher Rechtsgrundlage. Gegen manche Zivilgeiseln wird dann doch ein Strafverfahren eingeleitet, unter anderem wegen „internationalen Terrorismus“ oder „versuchter Terroranschläge“. Konkret wurde mindestens sieben aus der Oblast Cherson entführten Personen eine Mitgliedschaft im [krimtatarischen, in Russland als „terroristisch“ eingestuften – dek] Noman-Çelebicihan-Bataillon zur Last gelegt.

In den Antworten auf Anwaltsanfragen zu den Haftgründen der Ukrainer erscheint auch so etwas wie „Überprüfung durch den FSB“. „Sie [die Gefangenen] müssen sich einfach einer so genannten ‚Überprüfung von Personen, die Widerstand gegen die militärische Spezialoperation ausüben‘, unterziehen. In jeder Antwort einer lokalen FSB-Zweigstelle wird diese ‚Überprüfung‘ erwähnt“, gibt ein von Meduza befragter Anwalt an.  

Die Geiseln sind „Gefangene aufgrund von Widerstand gegen die militärische Spezialoperation“

Russland unterscheidet bei den Gefangenen nicht zwischen Zivilisten und Militär: Für die russischen Behörden gelten sie offiziell alle als „Gefangene aufgrund von Widerstand gegen die militärische Spezialoperation“. „Unter diesem Begriff werden alle zusammengefasst“, sagt Anwalt Dimitri Sachwatow Meduza gegenüber. „Kriegsgefangene kann die Russische Föderation sie nicht nennen, weil das ja bedeuten würde, dass das ein Krieg ist.“

Im Russischen Strafgesetzbuch gibt es allerdings keinen Paragrafen, der die Formulierung „Widerstand gegen eine Spezialoperation“ enthält. Anwälte werden zu den Geiseln schlichtweg nicht durchgelassen: Die meisten Informationen darüber, wer in diesen Haftanstalten sitzt und was dort geschieht, bekommen die Juristen von Ukrainern, denen es gelungen ist, aus diesen russischen Gefängnissen herauszukommen. Zu zivilen Geiseln aus der Ukraine erhalten auch ihre Angehörigen keinen Zugang, während Krimbewohner mit russischen Pässen, zum Beispiel Krimtataren, immerhin Besuch empfangen können. 

Alexander Tarassow wurde am 14. Februar 2023 aus dem SISO Nr. 2 entlassen und lebt jetzt in Deutschland. Noch immer hat der Chersoner aber weder durchschaut, warum er entlassen wurde, noch mit welcher Begründung er fast ein Jahr lang ohne Anklage eingesperrt war. Bei seinen Verhören fragte er die Ermittler manchmal, warum er ohne Gerichtsbeschluss in Haft sei. „Irgendwann haben sie einen ‚Erlass des russischen Präsidenten über die Isolierung von Personen, die Widerstand gegen die militärische Spezialoperation ausüben‘ erwähnt. Und hinzugefügt: ‚Na, es ist Krieg, du weißt ja.‘ Als ich rauskam, habe ich nichts darüber im Netz gefunden.“

Bisher gebe es keine verlässlichen Hinweise auf die Existenz einer „Geheimverfügung“, meint Roman Kisseljow, ein russischer Menschenrechtsverteidiger, der Ukrainern dabei hilft, ihre Angehörigen in der Russischen Föderation zu finden. (Auch Meduza konnte keine solchen Hinweise finden). „Doch ich nehme an, dass solche Dokumente mit der Zeit auftauchen werden“, überlegt Kisseljow. „Ursprünglich hat einfach niemand [in der Regierung] damit gerechnet, dass der Krieg so lange dauern und ein solches Problem [mit zivilen Geiseln] überhaupt entstehen wird. Aber als sie dann doch so viele Gefangene beisammen hatten, kratzten sie sich die Köpfe und überlegten, wie sie es anstellen können, den Menschen ohne Gerichtsverfahren die Freiheit zu entziehen.“ 


„Ukrainer gibt es hier massenhaft. Einfach massenhaft“

Ukrainische Geiseln werden nicht nur auf der Krim, sondern auch in anderen Regionen der Russischen Föderation festgehalten, wie Meduza von russischen Anwälten und Menschenrechtlern weiß. Während auf der Krim der FSB mit ihnen „befasst ist“, ist es in anderen Gegenden die dem Verteidigungsministerium unterstellte Militärpolizei GUWP. 

Dass sich das russische Verteidigungsministerium und der FSB die Zuständigkeit für ukrainische Geiseln teilen, ist kein Widerspruch, wie Andrej Soldatow, Experte für die russischen Geheimdienste, Meduza erklärt. Ihm zufolge wird die Militärpolizei von der Spionageabwehr DWKR überwacht, die wiederum eine Unterabteilung des FSB sei. Dass für die ukrainischen Geiseln die Spionageabwehr zuständig ist, bestätigte Meduza gegenüber auch ein Gesprächspartner aus dem FSB. Ein Büro für Spionageabwehr gibt es in jeder Armeeeinheit, erklärt Soldatow, und wenn eine Truppe an die Front geschickt wird, dann müssen auch die Mitarbeiter des Nachrichtendienstes mit in die Kampfzone, wo sie „in temporäre Einsatzgruppen aufgeteilt“ werden.  

Irina Badanowa schätzt die Zahl der zivilen Geiseln auf über 3000

So funktionierte die Spionageabwehr in der Ukraine zu Beginn des Krieges, sagt Soldatow. „Die ‚Filtration‘ [der Ukrainer], die Bearbeitung der Einwohner, all das ist alles ihre Aufgabe“, meint der Experte. „Um die Sicherheit der russischen Truppen zu gewährleisten, müssen die Informanten der ukrainischen Streitkräfte ausfindig gemacht und drangsaliert werden. Und natürlich müssen sie ihre Agentennetze ausbauen. Das mit Filtrationslagern zu machen ist einfach und effektiv – eine in Tschetschenien erprobte Methode. Man saugt wie mit dem Staubsauger tausende junge Ukrainer ein, wirbt ein paar von ihnen an, und dann lässt man alle wieder laufen.“

Die Arbeit mit Ukrainern, die in den besetzten Gebieten entführt und in russische Gefängnisse gesteckt wurden, ist die „natürliche Fortsetzung“ der militärischen Spionageabwehrmission, die sie an der Front verfolgen, meint Soldatow.

Wie viele ukrainische Staatsbürger aktuell in diesen russischen Gefängnissen sitzen, ist unbekannt. Irina Badanowa von der Abteilung für die Suche und Befreiung von Kriegsgefangenen beim Generalstab der ukrainischen Streitkräfte schätzt die Zahl der zivilen Geiseln auf über 3000. Dutzende von ihnen sind, wie sie betont, unter den Haftbedingungen umgekommen.

„Ukrainer gibt es hier massenhaft“, pflichtet Badanowa ein russischer Anwalt bei. „Einfach massenhaft.“

Vom russischen Verteidigungsministerium, dem FSB, der FSIN, der Presseabteilung des Kreml und der prorussischen Verwaltung der Krim kamen keine Antworten auf die Fragen von Meduza. 

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Das russische Strafvollzugssystem

„Unser freundliches Konzentrationslager“ – so nennt Alexej Nawalny sein derzeitiges Zuhause, die Pokrowskaja-Kolonie. Mitte März 2021 wurde der Oppositionspolitiker in diese sogenannte Besserungsarbeitskolonie mit allgemeinem Regime (IK-2) verlegt. Die Kolonie liegt in der Oblast Wladimir, rund 100 Kilometer östlich von Moskau und ist die in Russland am häufigsten anzutreffende Art der Justizvollzugsanstalt. Mit einem Gefängnis westlichen Typs ist sie kaum vergleichbar – wie sich auch das gesamte russische Strafvollzugssystem grundlegend vom westlichen unterscheidet.

Noch nie gab es in russischen Gefängnissen so wenige Insassen: Rund 480.000 Menschen haben im März 2021 ihre Haftstrafe verbüßt. Im Jahr 2000 waren es noch etwa doppelt so viele, nach den USA war Russland das Land mit den meisten Gefangenen pro 100.000 Einwohner. 

Hinter dem System des Strafvollzugs steht in Russland der Föderale Strafvollzugsdienst FSIN (federalnaja slushba ispolnenija nakasani). Die Behörde begründet den massiven Rückgang der Insassenzahlen mit der zunehmenden Anwendung von Strafen ohne Freiheitsentzug: Hausarrest gehört etwa dazu oder Verbüßung der Strafe zu Hause bei regelmäßiger Meldung in der zuständigen strafrechtlichen Exekutivinspektion. Der FSIN führt außerdem auch eine allgemeine „Liberalisierung“ der Strafvollzugspolitik an1: Das, was früher mit einer Haft bestraft wurde, wird heute vermehrt mit Geldstrafen geahndet; vor allem die Anzahl der Freiheitsstrafen im Wirtschaftsstrafrecht ist dadurch zurückgegangen.2

Dies sowie der allgemeine Rückgang der Kriminalität haben dazu geführt, dass die russischen Strafvollzugsanstalten heute nur zu etwa 73 Prozent ausgelastet sind, der gesamteuropäische Durchschnitt liegt dagegen bei rund 90 Prozent.3

„Folterkolonien“

Eine gesunkene Auslastung der ehemals notorisch überfüllten Gefängnisse müsste sich eigentlich in besseren Haftbedingungen widerspiegeln. Doch Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese nach wie vor als menschenunwürdig.
Wegen massiver Korruption in russischen Haftanstalten können sich manche Häftlinge zwar tatsächlich besondere Privilegien von der Gefängnisleitung erkaufen, wie sie beispielsweise Olga Romanowa, Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja, beschreibt. Insgesamt sei das russische Gefängniswesen laut Romanowa aber systematisch darauf ausgerichtet, Menschen zu brechen.4 

Auch Oleg Senzow gab nach seiner Freilassung aus rund fünfjähriger Haft einen traurigen Einblick in die russische Gefängniswelt: Diese sei nur dazu geschaffen, um die Gefangenen zu entmenschlichen, so der ukrainische Regisseur. In manchen Anstalten herrschen laut Senzow menschenunwürdige Verhältnisse: Erniedrigungen und Folter seitens der Justizmitarbeiter oder Mitinsassen gehörten dort faktisch zum System. 
Ähnliches wurde bereits mehrmals aus der Anstalt berichtet, in der Nawalny einsitzt. Als berüchtigte „Folterkolonie“ sorgte die IK-2 vor allem zu der Zeit für Schlagzeilen in unabhängigen Medien, als deren Abteilung für interne Verbrechensbekämpfung und Kriminalprävention noch von Roman Saakjan geleitet wurde. Dieser wechselte im Januar 2020 seinen Arbeitsplatz und wurde Leiter der Strafkolonie IK-6 in Melechowo, ebenfalls in der Oblast Wladimir. Was er laut einem im März 2021 veröffentlichten Bericht des Insassen Iwan Fomin offenbar aus der IK-2 mitgebracht hatte, war für viele erschütternd: Systematische Folter und sexuelle Gewalt gehören in der IK-6 laut Fomin zur Tagesordnung, außerdem berichtete er über einen Mord an einem Mitinsassen, den der Gefängnisleiter Saakjan wohl abgesegnet hatte.

Das Ziel – Bestrafung statt Resozialisierung?

Oft heißt es: Während man im Westen auf Resozialisierung setze, sei das wichtigste Vollzugsziel in Russland die Bestrafung. Dabei ist die Resozialisierung der Verurteilten offiziell auch die Hauptaufgabe der russischen Strafvollzugsanstalten. Doch die Praxis ist vielschichtig und widersprüchlich.

Obwohl der Gesetzgeber vorsieht, dass die Häftlinge ihre Strafe in der Nähe ihres Wohnortes verbüßen sollen, um so ihre Resozialisierung zu erleichtern, verbringen sie die Strafe oftmals sehr weit weg von ihrem Zuhause und ihren Angehörigen. Auf diese Weise wird das Besuchsrecht de facto eingeschränkt. 

Bis heute gibt es kein einheitliches staatliches Resozialisierungsprogramm oder auch nur eine klare Vorstellung von staatlichen Resozialisierungsmaßnahmen. Die Resozialisierung wird vor allem von NGOs wie Rus Sidjaschtschaja übernommen. Diese erhalten nicht nur wenig bis keine staatliche Unterstützung, sondern werden zu allem Überdruss auch noch mit unzähligen bürokratischen Hürden konfrontiert.5 So wurde Rus Sidjaschtschaja aufgrund einer finanziellen Zuwendung der EU – es ging um den Aufbau juristischer Beratungszentren in einzelnen Regionen – zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt.

Die Arbeit von NGOs wird zusätzlich von der weit verbreiteten Praxis der sogenannten Etappierung erschwert: eine Verlegungs- und Transport-Routine, die laut Rus Sidjaschtschaja keiner besonderen Logik und Logistik folgt.6 Der FSIN hält alle Informationen über die Verlegung von Häftlingen und deren späteren Haftort geheim, weswegen weder die Häftlinge noch deren nahe Verwandte oder Anwälte vor Beginn der Etappierung über das endgültige Ziel informiert werden. Die Strafgefangenen werden damit praktisch von der Außenwelt abgeschnitten, teilweise bis zu einem Monat oder länger. Während der Überführung befinden sich die Häftlinge in überfüllten Spezialwaggons und Gefangenentransportern – sogenannten Stolypin-Waggons –, teils unter grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen: Bis zu 16 Menschen können laut Gesetz auf einer Fläche von dreieinhalb Quadratmetern zusammengepfercht werden, Bettwäsche und Matratzen werden nur selten zur Verfügung gestellt.

An Zwischenstationen werden die Häftlinge in Transitbereichen in Untersuchungshaftanstalten (SISO) untergebracht, wo sie manchmal wochenlang bleiben, bis sie wieder etappiert werden. Auf jeder Etappe dieses Transports findet in den Transitgefängnissen eine oftmals erniedrigende körperliche Untersuchung statt. Hinzu kommt, dass vermögende Häftlinge – die sogenannten kabantschiki – nicht selten systematisch auf Reisen geschickt werden, um sie auf jeder Etappe finanziell zu schröpfen. Der FSIN, so heißt es manchmal in diesem Zusammenhang sarkastisch, sei eben ein Konzern – ein gewinnorientiertes Unternehmen.

Archipel FSIN

Seit der Gulag-Epoche bleibt der Strafvollzug in Russland ein Staat im Staate: isoliert, unbarmherzig, entmenschlicht.7 Geschaffen wurde das System vor rund 100 Jahren, nur ein Mal wurde es seitdem laut Olga Romanowa reformiert – 1953, unter Lawrenti Berija.8 

Die Insassen werden in diesem System nicht als Menschen, sondern vielmehr als Arbeitsressource betrachtet. Wie der Gulag ist auch der FSIN ein geschlossenes System, das fast alle Daten über seine Wirtschaftstätigkeit geheim hält. Die wenigen vorhandenen Informationen stammen von Menschenrechtlern, die vor allem im europäischen Teil Russlands arbeiten.

Das Wirtschaftssystem umfasst unzählige Agrarbetriebe, Bauunternehmen und Fabriken. Die Insassen fertigen eine breite Palette von Produkten an. Im Jahr 2018 verfügte der FSIN mit umgerechnet 3,5 Milliarden Euro über das europaweit größte Gefängnisbudget. Zugleich hat Russland mit 2,40 Euro die niedrigsten täglichen Ausgaben pro Person9 – im europäischen Durchschnitt sind es 68,30 Euro pro Häftling und Tag. Laut Waleri Maximenko, stellvertretender Direktor des FSIN, wurden die Verpflegungskosten von 24 Milliarden Rubel im Jahr 2012 auf 15 Milliarden Rubel im Jahr 2017 gekürzt.10 Damit kostet die Verpflegung pro Insasse und Tag rund 72 Rubel (damals umgerechnet etwa 1 Euro) – ein Betrag, der laut Maximenko die notwendige Menge an Kalorien deckt. Ein Grund für die geringen Verpflegungskosten besteht wohl darin, dass der FSIN nur einen Teil der Lebensmittel zukauft, der Großteil wird von den Kolonien in eigenen Nebenbetrieben selbst produziert. Grundsätzlich wird pro Häftling damit sogar weniger ausgegeben, denn de facto finanzieren sich die Gefangenen selbst, nicht selten verdient die Gefängnisleitung sogar an ihnen. 

Dies geschieht einerseits direkt, etwa dadurch, dass vom Arbeitslohn der Insassen Versorgungsleistungen der Strafkolonie abgezogen werden: In einem besonders krassen Fall bekam ein Insasse der IK-13 in Nishni Tagil laut Lohnabrechnung vom Juli 2015 1,99 Rubel (damals umgerechnet 0,03 Euro).11 Andererseits verdienen Gefängnismitarbeiter auch an kriminellen Machenschaften der Insassen: So wurde im Juli 2020 beispielsweise im landesweit bekannten Moskauer Untersuchungsgefängnis Matrosenruhe ein Call Center entdeckt, aus dem Betrugsanrufe getätigt wurden. Die Kosten der beschlagnahmten technischen Anlagen wurden dabei auf sieben Millionen Rubel beziffert (damals rund 82.000 Euro).12 Die bei der Razzia verhafteten FSIN-Mitarbeiter bilden womöglich nur die Spitze des Eisbergs: Olga Romanowa etwa ist überzeugt, dass die Verbindungen des FSIN zur organisierten Kriminalität mittlerweile schon zum System gehören.13 

Arten von Justizvollzugsanstalten

„Die Zone“, sona, so heißt in Russland dieser spezifische Ort der Haft mit seinem streng hierarchischen System und seinen Erniedrigungen. Insgesamt gibt es allerdings acht unterschiedliche Arten von Justizvollzugsanstalten, und nur rund 1300 (von insgesamt 480.000) Menschen sitzen in Gefängnissen ein. Die Gefängnisse sind nur für besonders schwere Verbrechen wie Terrorismus, Flugzeugentführungen oder etwa Geiselnahme vorgesehen. Genauso wie in sogenannten Spezialkolonien herrschen hier die strengsten Haftbedingungen. 

Am anderen Ende der Skala steht die sogenannte Ansiedlungsstrafkolonie, kolonija posselenije – so etwas wie offener Vollzug. In den Ansiedlungsstrafkolonien befinden sich 2021 rund 30.000 Menschen. 

Ersttäter verbüßen ihre Strafe häufig in den sogenannten Strafkolonien (isprawitelnaja kolonija) mit allgemeinem Regime. Die Unterschiede von diesen zu sogenannten Besserungsarbeitskolonien mit strengem Regime sind nicht allzu groß, sie betreffen vor allem die Anzahl der Besuche und Postpakete sowie der Höhe der Geldsummen, die die Insassen empfangen oder ausgeben dürfen. Es gibt insgesamt 670 Straf- und Besserungsarbeitskolonien in Russland, sie beherbergen rund 80 Prozent aller Häftlinge.

Die 209 Untersuchungshaftanstalten Russlands (SISO) dienen in erster Linie der Unterbringung von Beschuldigten. Rund 100.000 Menschen sitzen hier derzeit ein. 

Außerdem gibt es in Russland 18 Erziehungskolonien (wospitatelnaja kolonija), wo derzeit etwa 1000 Jugendliche ihre Strafen verbüßen. 

Frauen können zur Haft nur in Erziehungskolonien und Medizinischen Justizvollzugsanstalten (letschebnoje ispravitelnoje utschreshdenije) oder in Besserungsarbeitskolonien mit allgemeinem Regime und in einer Ansiedlungsstrafkolonie verurteilt werden. Im Februar 2021 waren rund 40.000 Frauen in Haft, den Frauenstrafkolonien sind 13 Kinderheime angeschlossen, in denen 330 Kinder leben.14

Selbstverwaltung und Disziplinierung 

Die Besonderheit des russischen Strafvollzugs ist: In den Straf- und Besserungskolonien gibt es keine Zellen. Die Häftlinge sind meistens in schlafsaalartigen Baracken mit Stockbetten untergebracht. Die Insassen werden in Gruppen eingeteilt, die gemeinsam leben. In diesen Gemeinschaftsunterkünften können sie sich frei bewegen und miteinander kommunizieren.

Das System der Gemeinschaftsunterkünfte wirkt sich auch auf die Organisation der Selbstverwaltung von Insassen aus. So gibt es formale Verwaltungspositionen, die von Insassen bekleidet werden, etwa die sogenannten sawchosy oder dnewalnyje. Diese agieren ähnlich wie Verwaltungsangestellte und genießen gegenüber einfachen Insassen bestimmte Privilegien.

Daneben gibt es Zonen, in denen die sogenannten Diebe im Gesetz (wory w sakone) einsitzen. Diese kriminellen Autoritäten etablieren nicht selten auch eine von den Justizbeamten unabhängige Selbstverwaltung von unten. Die Diebesgesetze der Berufskriminellen gelten für alle Insassen, die Justizbeamten lassen das traditionell zu und greifen dabei nur in den allerseltensten Fällen ein.

Die Informationsbeschaffung und Kontrolle durch die Justizwache erfolgt nicht selten über einzelne Häftlinge selbst, die als Augen und Ohren der Beamten agieren. Die Kontrolle gründet dabei auf einem Netz von Spitzeln und sehr harten Strafen – selbst für geringfügige Vergehen. Weil eben jeder jeden beobachtet, gelingt es auch einer sehr geringen Zahl an Beamten eine große Anzahl von Insassen zu überwachen.

Alexej Nawalny wurde in der Besserungskolonie IK-2 jedenfalls im sogenannten Sektor mit erhöhten Kontrollmaßnahmen A untergebracht, mit fünf weiteren Häftlingen. Da der Oppositionspolitiker als fluchtgefährdet eingestuft ist, wird er nachts zur Kontrolle einmal pro Stunde geweckt. Er darf weder Besuche noch Postsendungen empfangen. Da den Häftlingen das Gefühl vermittelt werden soll, dass sie stets unter Zeitdruck stünden, hat Nawalny für das Verfassen von Briefen an nahe Angehörige pro Woche lediglich 15 Minuten Zeit. Im März 2021 beklagte er in einem Brief, dass ihm auch eine angemessene ärztliche Behandlung seiner Rückenschmerzen verwehrt würde. Ende März trat er aus Protest gegen die schlechte medizinische Versorgung und gegen Folter durch Schlafentzug in den Hungerstreik.


1.Vedomosti: Čislo zaključennych v Rossii vpervye stalo men’še 0,5 mln. 
2.Oreškin, M.I./Suturin, M.A. (2019): K voprosu o liberalizacii ugolovnoj otvetstvennosti za prestuplenija v sfere ėkonomičeskoj dejatel’nosti, in: Ugolovnaja justicija 13/2019, S. 48–51 
3.Rossijskaja Gazeta: Tjurma uže ne mnogoljudna 
4.Romanova, Ol'ga (2016): Butyrka: Tjuremnaja tetrad', S. 6 
5.Obščestvennaja palata Rossijskoj Federacii: Neobchodim federal’nyj zakon, napravlennyj na resocializaciju byvšich zaključennych 
6.currenttime.tv: Čto takoe "ėtap" v Rossii i v kakich uslovijach po nemu povezut Naval'nogo: Ob''jasnjaet Ol'ga Romanova 
7.Die Ausführungen basieren auf einer Recherche des Magazins Secretmag: Archipelag FSIN: Kak ustroena ėkonomika tjuremnoj sistemy Rossii 
8.currenttime.tv: Čto takoe "ėtap" v Rossii i v kakich uslovijach po nemu povezut Naval'nogo: Ob''jasnjaet Ol'ga Romanova 
9.rbc.ru: Sovet Evropy podsčital traty Rossii na zaključennogo v den’ 
10.Echo Moskvy: V kruge sveta 
11.Secretmag: Archipelag FSIN: Kak ustroena ėkonomika tjuremnoj sistemy Rossii 
12.securitylab.ru: V SIZO "Matrosskaja tišina" obnaružen podpol'nyj koll centr 
13.republic.ru: Naši tjur'my stali bol'šim podrazdeleniem FSB 
14.Federal’naja služba ispolnenija nakazanij: Kratkaja charakteristika ugolovno-ispolnotel’noj sistemy Rossijskoj Federacii 
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