Etwa 500 Schüler und Studenten aus ganz Russland sitzen auf bunten Sitzkissen im Halbkreis. Sie sind Teilnehmer des exklusiven Coaching-Programms Neue Horizonte, mit dem sich die staatsnahe Stiftung Snanije (dt. Wissen) an die russische Elite von morgen wendet. Der Mann in der Mitte, dem alle gebannt zuhören, erzählt von den 10 Prinzipien einer effektiven Führungskraft.1
Dass es dabei dem Namen nach nicht um einen effektiven Manager geht, ist wahrscheinlich kein Zufall – denn dieser Begriff ist im russischen Politjargon sehr mehrdeutig: Manche verbinden ihn (galgenhumorig) mit Stalin oder Berija, andere assoziieren damit den Vortragenden selbst, Sergej Kirijenko. Der Erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration hat zudem noch ganz andere Spitznamen: Kinderüberraschung etwa, oder Vizekönig von Donbass.
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Unumstritten sind diese Zuschreibungen nicht. Der Vortrag verdeutlicht aber, dass Kirijenko ein sehr guter Redner ist: Er spricht zielgruppengerecht, interagiert mit dem Publikum und holt es immer wieder mit aktuellen Beispielen aus dem Donbas ab. Es ist ein Heimspiel für Kirijenko, denn er ist der zivile Statthalter der 2022 annektierten ukrainischen Gebiete. Zudem ist Kirijenko neben Alexej Gromow für die (Des-)Informationsagenda sowie die Medien- beziehungsweise Propagandapolitik Russlands zuständig. In seiner Eigenschaft als Erster stellvertretender Leiter der Präsidialadministration steuert er die Innenpolitik Russlands. Mit dem Aufbau von Kaderschmieden, Initiativen und gelenkter Zivilgesellschaft richtet sich seine Politik vor allem an die jüngeren Menschen. Die Grundzüge patriotischer Erziehung, die Kirijenko in sein Management-Coaching einflicht, wirken anders als die aggressive Kriegspropaganda in den Staatsmedien. Ruhig und heiter vermittelt er seine Inhalte: Hart in der Sache, sanft im Ton. Hier formt er mit Begeisterung die nächste Generation der Verwaltungselite. Womöglich erweckt dies in ihm Erinnerungen an den Komsomol, die Jugendorganisation der kommunistischen Partei, wo auch seine Karriere einst begann.
Der Komsomolze
1962 in Suchumi geboren, wuchs Sergej Kirijenko in Sotschi auf. Anschließend ging er zum Studium nach Nishni Nowgorod. Dort leitete sein Vater an der Technischen Universität für Wassertransport den Lehrstuhl für wissenschaftlichen Kommunismus – und war so direkt für die Indoktrination der Studierenden zuständig.2 1984 absolvierte Kirijenko das Institut als Schiffbauingenieur, trat in den Komsomol ein und beendete anschließend seinen Militärdienst in der ukrainischen Stadt Mykolajiw (Nikolajew).3 1986 nach Nishni Nowgorod zurückgekehrt, leitete Kirijenko als Meister eine Arbeiterbrigade in den traditionsreichen Schiffsbauwerken Krasnoje Sormowo. Dort beteiligte er sich an der Fertigung von Atom-U-Booten.
Sein Aufstieg ist auch Thema des besagten Vortrags: Immer wieder betont Kirijenko die Wichtigkeit des effizienten Lernens. In einer sich stetig wandelnden Welt sei die Fähigkeit, sich schnell umzuorientieren, für den Wettbewerbsvorteil entscheidend. Er erzählt von seiner Ingenieursarbeit in Krasnoje Sormowo, bei der er seine Parteikarriere verfolgte und sich schnell als Komsomol-Sekretär etablierte – zunächst nur für die Schiffsbauwerke, dann für das ganze Stadtgebiet Gorki.
Der Komsomol bot während der Perestroika ambitionierten jungen Menschen nicht nur Aufstiegschancen in der Parteihierarchie und Verwaltung. Er war zugleich eine Art Schule des Unternehmertums, wo die späteren Oligarchen, wie etwa Michail Chodorkowski, ihre ersten Gehversuche in der Marktwirtschaft machten.4 Auch Kirijenko eröffnete Ende der 1980er Jahre zusammen mit anderen Komsomolzen eine Import-Export-Firma mit dem klangvollen Namen Aktienkonzern der Jugend (AMK – akzionerny molodeshny konzern). Auch in dieser Position mauserte er sich schnell zum Generaldirektor. Gleichzeitig startete er seine politische Karriere: Mutmaßlich mit Hilfe seines Vaters, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwei PR-Agenturen in Nishni Nowgorod eröffnet hatte, wurde er 1990 als Abgeordneter in den Landtag von Gorki gewählt. Parallel dazu ließ er sich an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst (RANCHiGS) zum Finanzwirt ausbilden. 1993 wurde er Vorstand der Bank Garantija: Die größte Bank der Stadt führte unter anderem die Rentenkonten der Regionalverwaltung. Faktisch stand ihr damals Boris Nemzow vor, jüngster Gouverneur Russlands. Für Kirijenko erwies sich diese Bekanntschaft fortan als größter Karriereantrieb.
Der Premierminister
Nemzow genoss überregionale Popularität als charismatischer liberaler Reformer und potentieller Nachfolger für das Präsidialamt. Noch bevor er 1997 von Boris Jelzin in die Zentralregierung auf den Posten des Ersten Vize-Ministerpräsidenten mit Schwerpunkt Energiewirtschaft berufen wurde, ernannte Nemzow seinen Vertrauten Kirijenko zum Direktor des staatlichen Energiekonzerns Norsi-Oil in Nishni Nowgorod. Schon bald folgte Kirijenko Nemzow nach Moskau; zuerst als sein Stellvertreter, wenige Monate später als Energieminister. Doch viel Zeit, sich in seine neue Rolle einzugewöhnen, hatte er nicht. Innerhalb eines Jahres überflügelte Kirijenko seinen Förderer, als Jelzin ihn im März 1998 zum Premierminister ernannte. Mit 35 Jahren war er der jüngste Regierungschef in der russischen Geschichte. Seitdem haftet ihm der Spitzname „Kinderüberraschung“ an. Er blieb nur fünf Monate im Amt.
War Kirijenko ein Bauernopfer, das den Default abfedern sollte? Die Geschichte scheint dafür zu sprechen: Die Währungskrise in Asien 1997 hatte auch in Russland eine Kapitalflucht ausgelöst. Internationale Anleger entschieden sich dazu, ihr Geld lieber in stabilere Ökonomien zu investieren. Der russische Staat war gezwungen, die Zinsen für Staatsanleihen zu erhöhen, um die so entstandenen Löcher im Haushalt zu stopfen. Dadurch verschlechterten sich die Bedingungen für Umschuldung. Gleichzeitig verringerte ein Preiseinbruch auf den internationalen Rohstoffmärkten, insbesondere bei Öl und Gas, die Staatseinnahmen. Hinzu kam, dass der Rubel überbewertet und sein Wechselkurs fest war, was wirtschaftliche Akteure zum Verkauf der russischen Währung animierte. Trotz massiven Einsatzes von Währungsreserven zur Stützung des Rubels konnte die Situation nicht unter Kontrolle gebracht werden. Am 17. August 1998 war Kirijenko gezwungen, den Staatsbankrott zu erklären, den Rubel freizugeben und damit seine Abwertung einzuleiten.
In der Folge verloren viele Sparer ihr Geld, Präsident Jelzin entzog dem jungen Premierminister das Vertrauen. Viele Menschen in Russland verbinden den Default als existenzbedrohende Erfahrung seither mit Kirijenkos Namen. Heute gilt der Staatsbankrott als eine von „Liberalen“ verschuldete Katastrophe der wilden 1990er Jahre.
Der Technokrat
Kirijenkos Amtszeit als Ministerpräsident war zwar kurz, aber bewegt. Besonders eine Personalentscheidung Jelzins, deren Verkündung Kirijenko oblag, sollte sich als besonders folgenreich erweisen: Rund ein Monat, bevor er den Hut nehmen musste, verkündete er, dass Jelzin seinen Ersten stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration, Wladimir Putin, nun zum Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB ernannt hat. Knapp ein Jahr später, im August 1999, war Putin bereits Premierminister. In dieser Eigenschaft traf er im Dezember 1999 erneut mit Sergej Kirijenko zusammen, der bei Putin nun für die von ihm mitbegründete Union der rechten Kräfte (SPS) werben wollte. Heute kann man dieses Treffen als Geburtsstunde der sogenannten Systemopposition im postsowjetischen Russland betrachten: Gemeint sind Parteien, die vom Kreml geschaffen wurden, um zum Schein die Rolle der Opposition zu spielen. Offizielles Ziel der SPS war eine Neuaufstellung der liberalen Kräfte in der russischen Politik. Kirijenko stand persönlich für einen dezidiert pro-europäischen Kurs der SPS. Bei den Wahlen zur Staatsduma 1999 erreichte die SPS fast neun Prozent der Stimmen und zog ins Parlament ein. Kirijenko wurde Fraktionsvorsitzender. Bei den gleichzeitig stattfindenden Bürgermeisterwahlen in Moskau unterlag er jedoch mit 11,3 Prozent deutlich dem Amtsinhaber Juri Lushkow.
Kurz nachdem Putin zum Jahreswechsel 2000 das Präsidentenamt übernommen hatte, holte er Kirijenko in die Präsidialadministration. Die Arbeit am Abbau der Gewaltenteilung begann, Putin rezentralisierte Russland und beschnitt die Kompetenzen der Föderationssubjekte. Schon im Mai führte er per Dekret damals sieben Föderationskreise ein. Kirijenko wurde zu Putins bevollmächtigtem Vertreter für den Föderationskreis Wolga. Damit beendete er seine politische Karriere und begann eine neue als hochgestellter Beamter der Präsidialverwaltung.
An seiner alten Wirkungsstätte Nishni Nowgorod konnte Kirijenko auf ein dichtes Netz an Bekanntschaften zurückgreifen, die ihm eine effektive Steuerung der Regionalpolitik im Sinne des Kreml ermöglichten. Besonders beeindruckend für Putin erwies sich dabei wohl der beharrliche Ansatz Kirijenkos im Umgang mit den eigenwilligen Regionaleliten von Tatarstan und Baschkirien, die er trotz Widerstände in die Machtvertikale integrieren konnte.5
Mit solchen Erfolgen empfahl sich Kirijenko für einen höheren Posten im Staatsapparat. Im November 2005 wurde er schließlich zum Leiter der Föderalen Agentur für Atomenergie. Er gestaltete die Behörde in die Staatsholding Rosatom um und verwandelte sie innerhalb von knapp elf Jahren zu einem globalen Player im Aufbau von Energieinfrastruktur. In dieser Zeit knüpfte Kirijenko auch enge Beziehungen zu dem Bankier Juri Kowaltschuk, der als „Putins Brieftasche“ bekannt ist.
Der Polittechnologe
Doch nach knapp elf Jahren an der Spitze von Rosatom war Kirijenko den Beobachtern eine weitere Überraschung schuldig. 2016 ernannte Putin ihn zum Еrsten stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration mit dem Aufgabenschwerpunkt Innenpolitik.6 Laut Einschätzung des Journalisten Andrej Perzew haben Kirijenkos Vorgänger auf diesem Posten, Wladislaw Surkow und Wjatscheslaw Wolodin, immerhin mit dem russischen Elektorat zusammengearbeitet, um die Unterstützung für den Regierungskurs und Putin persönlich zu mobilisieren – wenn auch in höchst manipulativer Manier. Kirijenko hingegen ging direkt zur Inszenierung (zivil)gesellschaftlicher Unterstützung über, zur Herstellung von Akklamation, die exklusiv die Erwartungshaltung Putins bedienen sollte.7
Die unmittelbar anstehende Parlamentswahl 2016 wurde zur Bewährungsprobe für Kirijenko. Dabei musste zum ersten Mal auch die annektierte Halbinsel Krim in die Wahl der Staatsduma „integriert“ werden. Im Endergebnis sicherte Kirijenko mit 54,2 Prozent ein überragendes Ergebnis für Einiges Russland, indem er unter anderem Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst zu Propagandaveranstaltungen delegierte und ihnen durch engmaschige Kontrolle die richtige Wahlentscheidung diktierte.8 Die auf diese Weise entwickelten Instrumente der Masseninszenierung, die letztlich auf Zwangswahlen hinausliefen, verfeinerte Kirijenko anschließend bei der Präsidentschaftswahl 2018 und bei der Abstimmung zur Verfassungsänderung 2020. Das eine sicherte Putins Wiederwahl mit 76,69 Prozent, das andere bescherte ihm die Aussicht auf weitere 16 Jahre an der Macht.
Inszenierungen, Manipulation der öffentlichen Meinung und Einsatz der sogenannten Adminressource gelten als übliche Technologien von Spin Dictatorships.9 Für diese Instrumente des Machterhalts sind im Kreml vor allem zwei Bürokraten zuständig: Kirijenko und sein gleichrangiger Kollege Alexej Gromow. Gromow verantwortet unter anderem die Überwachung und Propaganda in analogen Medien, Kirijenko entwirft und lenkt als oberster Polittechnologe und Eventmanager die Imitationen zivilgesellschaftlicher Institutionen, treibt die Professionalisierung der Verwaltungsabläufe voran und steuert die russische Internet-Politik. Zusammen entscheiden die beiden über die sogenannten metoditschki – Leitfäden, die die mediale Berichterstattung vorgeben.
Dieses polittechnologische Handwerkszeug nutzt und entwickelt Kirijenko schon so lang wie auch seine Verbindungen zu den Methodologen. Um dieses Netzwerk der bereits in sowjetischer Zeit entstandenen Schule um Georgi Schtschedrowitski, in deren Umfeld die für Putins aggressiven Expansionskurs grundlegende Ideologie der „Russischen Welt“ entstanden ist, macht er kein Geheimnis.10 Die Netzwerke der Methodologen umspannen immer noch den engsten Kreis der Putin-Vertrauten.11
Der Okkupant
Anders als die sowjetischen Dissidenten setzten die Methodologen darauf, den Parteiapparat und vor allem seine Jugendorganisation Komsomol zu infiltrieren, um die sowjetische Verwaltung und Marktwirtschaft zu reformieren. Die spielerische Aufmachung von Management-Coachings galt als eines der effektivsten Ansätze der Methodologen, auch Kirijenko soll die Methoden weiterentwickelt haben. Vor allem die Steuerung der Bewegung der Ehrenamtlichen und Trainings für die Verwaltungselite erwiesen sich wohl als nützlich, als Kirijenko die Aufgabe zufiel, die besetzten ostukrainischen Gebiete in die Russische Föderation zu „integrieren“.12
Für den Einsatz in der Ostukraine bereitet Kirijenko im Mai 2022 auch seine Zuhörer vor. In Allgegenwart des zu einem Z stilisierten Logos der Stiftung Wissen (russ. Znanie), spricht er über die sogenannte militärische Spezialoperation: Kirijenko interagiert zielgruppengerecht, schaut in die Gesichter der zukünftigen Verwaltungselite, die er aufgebaut hat und auf die er sich schon morgen stützen kann – es ist sein persönlicher Komsomol.
Kirijenko betont immer wieder: Der Donbass erhält materielle Hilfe von russischen Regionen. Aber die russischen Regionen erhalten auch etwas vom Donbass: Die Region lehrt Patriotismus, Willen zur Selbstbestimmung und Glauben.
Glaube – das ist die Krönung seiner 10 Prinzipien des effektiven Managements. Er beendet seine Ausführungen mit einem anschaulichen Beispiel: Wenn man Mäuse in einen halb gefüllten Wassereimer hineinwirft, dann halten sie sich etwa 15 Minuten über Wasser, bevor sie erschöpfen und ertrinken. Wenn man sie kurz vor dem sicheren Tod aus dem Wasser herausnimmt, sie etwas zu sich kommen lässt und später erneut hineinwirft, halten sie 60 Stunden durch – weil sie hoffen und glauben. „Nun stellt euch vor, was die Kraft des Glaubens mit Menschen ausrichten kann“, sagt Kirijenko und schaut die jungen Menschen auf den bunten Sitzkissen an. Schon bald werden auch sie in den Krieg hineingeworfen.
Stand: 05.12.2024