Der ungeschriebene russische Gesellschaftsvertrag scheint sich zu wandeln: Statt materieller Sicherheit bietet der Staat seinen Bürgern nun zunehmend eine Art seelischen oder moralischen Bonus. Eine durchaus zweischneidige Art der Kapitalanlage, meint Maxim Trudoljubow von den Vedomosti.
Wenn das Geld ausgeht, müssen die Herrschenden, wer auch immer es sei, von einer großzügigen Sozialpolitik übergehen zu einem reichen spirituellen Leben. Statt Brot zu verteilen, nährt man selbstlosen Patriotismus. Statt Freiheiten zu gewähren, zieht man die Zügel straff.
Die Grundlage des ungeschriebenen Vertrags mit dem Kreml war lange Zeit eine ganz und gar materielle: Der Anstieg des Realeinkommens gewährleistete das Einverständnis mit der generellen Linie der Chefetage. Aber in irgendeinem Moment – möglicherweise wegen des Maidans, möglicherweise wegen des Abfalls des Ölpreises – hörte diese Grundlage auf, materiell zu sein. Zwischen den Bewertungen der Wirtschaftslage des Landes und den Popularitätsratings des Kreml besteht insofern kein Zusammenhang.
Plötzlich war der Wohlstand, der stets das zentrale Thema der Verhandlungen mit der Staatsmacht war, nicht länger materiell sondern symbolisch. Und sogar der wichtigste russische Indikator, den man längst in den Medien anstelle von Börsenindizes und Wechselkursen veröffentlichen müsste – das Beliebtheits-Rating des Präsidenten – spiegelt heute nicht mehr den Sättigungsgrad des Konsumhungers wider, sondern die Verbesserung des symbolischen oder moralischen Selbstgefühls eines bedeutenden Teils der Bevölkerung.
Es muss viele geben, die zum Glauben ans Symbolische bekehrt wurden – über die gewaltige Zahl sprechen all jene, die Stimmen auszählen und in der Gesellschaft Meinungen zu dem ein oder anderen Thema erfragen (ob man das, was die Menschen im heutigen Russland auf die Fragen in Interviews antworten, als frei geäußerte Meinungen ansehen kann, soll bitte jeder selbst entscheiden).
Der neue Wohlstand hat wohl kaum direkt etwas zu tun mit der subjektiven Befriedigung im Leben – mit dem, was der Einfachheit halber in verschiedenen internationalen Indizes Glück genannt wird. Das ist ein modischer Kennwert, der seinerzeit sogar das Bruttosozialprodukt ersetzen oder ergänzen sollte. Das Glücksniveau in der Russischen Föderation ist in den Putin-Jahren gestiegen, bleibt aber niedrig. Der Index Happy Planet beispielsweise versucht zu messen, in welchem Maße ein Staat dazu in der Lage ist, seinen Bürgern ein langes, stabiles und gesundes (auch in ökologischer Hinsicht) Leben zu ermöglichen. Russland steht in diesem Index auf Platz 122 von 151. Im World Happiness Report, der die subjektiv empfundene Lebensqualität erfasst, belegt Russland Platz 64 von 158. Und wenn man den ganz und gar [staats-]loyalen Sozialen Optimismus betrachtet, der von dem russischen Meinungsforschungzentrum WZIOM erhoben wird, so zeigt sich, dass dieser sinkt: Im August 2014 betrug der Index der Lebenszufriedenheit der Russen 77 Punkte, im August 2015 lag er bei 56 Punkten.
Im Grunde handelt es sich hierbei weder um Zufriedenheit mit dem Leben, noch um Freude über seine hohe Qualität, Dauer oder seine allgemeinen Annehmlichkeiten. Vermutlich ähnelt der russische symbolische Wohlstand einem moralischen Wohlbefinden, das üblicherweise darin besteht, dass man bei einem Streit auf Seiten der Guten ist oder in einem Kampf mit dem Bösen und der Dunkelheit auf Seiten des Guten und des Lichts. Ein tiefes Gefühl der eigenen Richtigkeit, vor dem Hintergrund der Unrichtigkeit aller anderen; die Freude, Teil von etwas Großem und Starkem zu sein; die Befriedigung, es „dem Westen gezeigt zu haben“. Möglicherweise gesellt sich hier auch ein Gefühl von Geborgenheit hinzu – ein Leben hinter Festungsmauern. Dieses Gefühl von Geborgenheit findet übrigens keine faktische Entsprechung, da jeder durch Zufall den Spezialkräften im Namen eben jener Sicherheit zum Opfer fallen kann, doch darum geht es jetzt nicht. Es geht darum, dass die Menschen umgesiedelt sind: aus Russland in eine magische Welt der Symbole.
Und noch etwas. Es mag eine Festung sein, aber es ist kein Zufluchtsort. Flüchtende aufzunehmen oder solche, die ein besseres Leben suchen, will und kann Russland nicht. Menschen aus anderen Ländern, einschließlich der Syrer oder Ukrainer (an deren Wunsch, ihr Land zu verlassen, Russland heute unmittelbaren Anteil hat), die aufrichtig in Russland leben und arbeiten wollen, haben es extrem schwer, hier unterzukommen. Das Verhältnis zu Migranten in der russischen Festung ist offen feindselig, aber auch das ist offensichtlich Teil des moralischen Wohlbefindens und des symbolischen Wohlstands, der für die Gesellschaft so unabdingbar ist.