„Sind das Gottlose?“, unterbrach Wladimir Putin letzte Woche einen Teilnehmer des Medienforums in Sotschi. Der hatte den Präsidenten eigentlich um einen Kommentar zu den Protesten in Jekaterinburg bitten wollen. Nein, entgegnete er und wurde wieder von Putin unterbrochen. Zuvor hatte der junge Mann die Geschehnisse in der Stadt geschildert: Seit Anfang vergangener Woche protestieren dort hunderte Menschen gegen die Bebauung eines Parks. Da dieser laut Plan der Behörden einer Kirche weichen muss, ist das Vorhaben brisant.
Eine polarisierende Debatte ist deshalb in Russland entbrannt: Еinerseits stellten sich viele russische Prominente demonstrativ auf die Seite der Protestierenden, andererseits gingen einige andere Prominente mitsamt achttausend Menschen zu einer Prozession für den Kirchenbau, wie die Jekaterinburger Eparchie berichtet.
Das ganze Land debattiert, während sich die Jekaterinburger weiter gegen die Bebauung der Grünfläche stemmen. Einige von ihnen haben letzte Woche den Bauzaun eingerissen; es gab Zusammenstöße mit Gegendemonstranten und OMON-Kräften. Diese verhafteten über 40 Protestierende, manche wurden mit administrativer Haft von bis zehn Tagen bestraft.
Wladimir Putin jedenfalls schlug auf dem Medienforum vor, eine Umfrage in Jekaterinburg durchzuführen. Diese soll in den nächsten Tagen stattfinden. Für den Vorschlag erntete der Präsident Kritik, unter anderem vom Soziologen Grigori Judin. Dieser vergleicht die Umfrage mit dem Krim-Referendum, das Ergebnis steht für den Meinungsforscher fest: Die Befragten, so Judin, werden laut offiziellen Angaben für den Kirchenbau votieren.
Auf Republic argumentiert der Journalist Michail Schewtschuk, dass der Protest in Jekaterinburg nicht einfach ein lokaler, sondern ein systemischer Konflikt ist. Und der richtet sich nicht nur gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche.
Zum 300-jährigen Stadtjubiläum soll im Zentrum von Jekaterinburg eine große Kirche errichtet werden: die Kathedrale der Heiligen Jekaterina. Doch Aktivisten wollen den Plan vereiteln und protestieren gegen den Bau.
Zwei ähnliche Fälle gab es vor nicht allzu langer Zeit auch in Sankt Petersburg: den in den Medien viel diskutierten Streit um die Übergabe der Isaakskathedrale an die Russisch-Orthodoxe Kirche und den jenseits der Stadtgrenzen weniger bekannten Versuch, eine Kirche im Malinowka-Park zu bauen. Die Argumente im zweiten Fall sind in etwa dieselben wie die der Baugegner in Jekaterinburg: Für die Stadtbewohner ist eine Grünanlage wichtiger als eine Kathedrale. Für die Regionen sind diese Situationen mittlerweile durchaus normal – sie alle passen in dasselbe Muster: Derzeit wehren sich gegen den geplanten Bau von Kirchen in Grünanlagen Einwohner von Nishni Nowgorod, Krasnojarsk, Tscheljabinsk und vielen weiteren Städten.
Für Stadtbewohner ist eine Grünanlage wichtiger als eine Kathedrale
Die Konflikte gehen unterschiedlich aus. So ist in Wolgograd, allen Protesten und Petitionen zum Trotz, der Bau der Alexander-Newski-Kathedrale bereits im Gang, während sich die Stadtregierung in Rostow am Don nach Protesten der Anwohner dafür entschieden hat, die Baugenehmigung für eine Kirche im Park Elektroapparat zurückzuziehen. Seit sich die Museumsschützer der Isaakskathedrale in Petersburg durchgesetzt haben, häufen sich die Fälle, in denen Baugenehmigungen zurückgezogen oder zumindest Lösungen qua Dialog befördert werden. Der Ablauf der Konflikte hat sich aber kaum verändert: Auf die erste Empörungswelle folgt eine kategorische Ablehnung der Kirche und/oder der Regierung, die die Wut der Bürger erst richtig entfacht.
Unpolitische Bürger treten in offenen Konflikt
Vor den Massenprotesten gegen die Mülldeponien – zunächst in der Oblast Moskau und nun auch in der Oblast Archangelsk – war ausgerechnet der Widerstand gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche, mit sehr wenigen Ausnahmen, das einzige Thema, bei dem man sich sicher sein konnte, dass es zu einer heftigen Reaktion kommt. Unpolitische Bürger treten hier in einen offenen Konflikt mit der Regierung, bis hin zu Rangeleien mit der Polizei.
Solche Reaktionen sind erstaunlich. Denn die Regierung gibt eigentlich klar zu verstehen, auf wessen Seite sie steht, wenn sie Gesetze gegen die Verletzung religiöser Gefühle verabschiedet und die Abspaltung der ukrainischen Kirche verurteilt. Dennoch sorgen die antiklerikalen Proteste bei der föderalen oder der regionalen Regierung nur in den äußersten Fällen für Unmut. Womöglich weil die Demonstranten selbst auf die Grenzen ihrer Aktion verweisen und keinen Anspruch auf eine direkte politische Einflussnahme erheben. Es mag aber auch daran liegen, dass die Abgeordneten die Ansprüche der Kirche insgeheim als ungerecht anerkennen.
Die Kirchenbau-Kontroversen werden besonders hart ausgefochten, doch geht es bei dem Konflikt nicht nur um materielle Baufragen. Bei der Isaakskathedrale ging es weder um Bau noch um Abriss. Die Menschen, die sich so vehement dagegen wehrten, dass die Kirche mit ihrer Ideologie in einen „weltlichen“ Bereich eindringt, haben oft nichts daran auszusetzen, wenn die weltliche Regierung Ähnliches tut.
Pflichtfach Orthodoxe Kultur versus militärisch-patriotische Erziehung
So stieß der Versuch, „die Grundlagen der orthodoxen Kultur“ als ein Pflichtfach an Schulen einzuführen, seinerzeit auf enormen Widerstand. Bei Elternabenden wurde hitzig debattiert, die Menschen gingen auf die Straße. Schließlich musste das Bildungsministerium zurückrudern und es zu einem Wahlfach erklären (was dann von den wenigsten Eltern gewählt wurde). Wohingegen eine Ausweitung der militärisch-patriotischen Erziehung in der Regel ohne bemerkenswerte Gegenwehr passiert, obwohl sie ebenso gut als eine ideologische Expansion betrachtet werden könnte.
Gleichzeitig unterstützen selbst die radikalsten Oppositionellen keine Aktionen gegen die Kirche. Über die langen Schlangen vor Reliquien fällt zwar mal ein ironischer Kommentar, aber es wird sich niemand finden, der eine Entweihung der Reliquien öffentlich guthieße. Auch während des Skandals um Pussy Riot entrüsteten sich zwar einige Menschen über die unverhältnismäßig harte Strafe, aber kaum einer hätte sich getraut, die Aktion öffentlich zu befürworten. Und selbst bei der Gründung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche teilen die meisten Russen die Position des Kreml und des Patriarchen.
Die Bevölkerung sieht die weltliche Machtvertikale (mit den bekannten Einschränkungen) als durchaus legitim an. Wohingegen sie der Kirche, die der Regierung neuerdings immer nähersteht, diese Legitimität verweigert wie nie zuvor. Der Kreml erweist sich für die Russisch-Orthodoxe Kirche als ein toxischer Verbündeter. Trotz der scheinbar uneingeschränkten Unterstützung zieht er sich sofort zurück, wenn ihm Gefahr droht, und wälzt jeglichen Unmut auf die Kirche ab, wie im Fall der Isaakskathedrale.
Der Kreml: toxischer Verbündeter der Russisch-Orthodoxen Kirche
Im Endeffekt betrachten die Menschen die Kirche genauso wie schon zur Jahrhundertwende: als einen aufdringlichen ideologischen Vertreter des Regimes. Sie wird geduldet, wenn sie sich an die vorgegebenen Grenzen hält, bekommt aber keine Machtbefugnisse wie der Staat, geschweige denn Unterstützung. Obendrein tritt die Kirche in Jekaterinburg als ein Vertreter des großen Kapitals auf, zu dem der Großteil der Bevölkerung ein, milde gesagt, ambivalentes Verhältnis hat.
Die Ursachen dafür liegen wahrscheinlich im historischen Gedächtnis begründet. Erstens war die Kirche bis 1917 der weltlichen Macht unterstellt, verwaltet wurde sie von Beauftragten der Synode; so gesehen lässt sich der Protest loyaler Bürger gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche auch als ein unbewusster Versuch verstehen, der zentralen Regierung dabei zu helfen, die Eigenmächtigkeit ihrer Untertanen im Zaum zu halten. Zweitens definiert sich das Regime als Nachfolgestaat der Sowjetunion, und zur Grundausstattung der konservativen postsowjetischen Werte gehört neben der Ablehnung des Westens, dem Paternalismus, dem Militärkult und ein paar weiteren regierungsstützenden Eigenschaften, auch die anerzogene Abneigung gegen die Kirche und das Großkapital.
Greifen diese beiden seine Rechte an, empfindet der Durchschnittsrusse das als eine Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags, welche umso schwerer wiegt, da er das Recht auf solche Angriffe nur dem Staat zuerkennt. Mit dem Ausmaß, das von der Regierung als zulässig eingestuft wurde, hat sich die Gesellschaft längst abgefunden. Aber ein weiterer Ausbau der Position der Kirche und des Kapitals geht den Russen bislang noch zu weit.