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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Lew Tolstoi

Während einer Vorlesung über russische Literatur „ging Vladimir Nabokov, ohne ein Wort zu sagen, über das Podium zur rechten Wand und schaltete die drei Deckenlampen aus. Dann zog er schweigend die Rollos der großen Fenster im Hörsaal hinunter und lief zurück zu den Lichtschaltern“, erinnerte sich ein Student: „,Am Firmament der russischen Literatur‘, verkündete Nabokov, ,ist das hier Puschkin!‘ Er schaltete die Lampe in der linken Ecke unseres Planetariums wieder an. ,Das hier ist Gogol!‘ Die Lampe in der Mitte leuchtete auf. ,Das ist Tschechow!‘ Die Lampe rechts erleuchtete. Dann löste Nabokov das Rollo, das mit einem lauten Knall in die Höhe schnellte. Ein breiter, heller Sonnenstrahl brach in den Hörsaal, Nabokovs Stimme donnerte los: ,Und das, das ist Tolstoi!‘“1

 

Mit Licht, Glück und ethischer Bestimmtheit wandte sich Lew Tolstoi in seinen Werken gegen das Motiv des Leids – und somit gegen seine Epoche. Denn die russische Literatur des 19. Jahrhunderts war vom Motiv der Leiderfahrung durchzogen. Dostojewski etwa enthüllte die Fragmentiertheit des menschlichen Bewusstseins mit seinen tiefen und dunklen Schichten und führte seine Protagonisten durch die Erfahrung der Sünde und des Leidens zur Wahrheit. Bei Tolstoi dagegen ist der Mensch in erster Linie ein ungeteiltes und glückliches Wesen, und „das menschliche Leben, soweit wir es kennen, ist eine Welle, die völlig in Glanz und Freude gehüllt ist“2. Als eine Art Gegenentwurf zu Dostojewski tritt bei Tolstoi ein intensives moralisches Empfinden an die Stelle der Sünde. Auch Tolstois eigenes Leben war das Produkt eines solchen Empfindens.

Leben und Wirken

Lew Tolstoi wurde am 28. August (9. September) 1828 auf dem Familiengut Jasnaja Poljana geboren, etwa 200 Kilometer entfernt von Moskau. Er gehörte dem Adelsgeschlecht der Grafen von Tolstoi an und wuchs in einer aristokratischen, von literarischem Schaffen weit entfernten Umgebung auf.

Er studierte Östliche Philologie und Rechtswissenschaften an der Universität Kasan, leistete seinen Wehrdienst, war in den Jahren 1854 und 1855 während des Krimkriegs an der Verteidigung von Sewastopol beteiligt, wurde mit dem Tapferkeitsorden der heiligen Anna ausgezeichnet und bewegte sich fern jeglicher literarischer Kreise.

So kam es völlig unerwartet, als Anfang der 1850er Jahre im Journal Sowremennik die Erstschrift eines bislang unbekannten Autors erschien, der sich hinter dem Kürzel L. N. verbarg. Es war der erste Teil von Tolstois biografischer Trilogie Kindheit, Knabenjahre, Jugendzeit. Sie begründete den Ruhm Tolstois.

Bereits zu Lebzeiten ein anerkannter Klassiker der russischen Literatur – Lew Tolstoi

Der Protagonist der Trilogie, Nikolenka Irtenjew, der drei Stadien des Erwachsenwerdens durchläuft, gleicht dem Autor. Allerdings nicht im biografischen Sinne, sondern der psychologischen Erfahrung nach. Diese steht über viele Jahre im Mittelpunkt von Tolstois Werken: in seinen drei großen Romanen Woina i Mir (dt. Krieg und Frieden, 1865–1869), Anna Karenina (1875–1877) und Woskressenije (dt. Auferstehung, 1899), in einer Vielzahl von Erzählungen, Dramen, publizistischen Essays und religionsphilosophischen Traktaten. Immer beschäftigt sich Tolstoi mit dem Finden der Wahrheit, die im Menschen verborgen und nur dadurch zu erkennen ist, dass man das Wesen des Menschen in seinem konkreten Sein ergründet.

Tolstois Anthropologie

„Der Mensch ist Alles und ein Teil von Allem“ – das ist die Kernthese der tolstoischen Anthropologie. Den Sinn seines Romans Krieg und Frieden sieht der Autor darin, die Menschen „dazu zu bringen, das Leben in all seinen unzähligen und unerschöpflichen Erscheinungen zu lieben“. Anna Karenina verkörpert laut Tolstoi das Leben „mit all der unausdrückbaren Kompliziertheit von allem Lebendigen“.

Der zweite Grundpfeiler in Tolstois Anthropologie ist das intensive moralische Empfinden. Alles im Leben wird als gut oder schlecht wahrgenommen. Dabei ergeben sich grundlegende Probleme, die es zu klären gilt: Was genau ist das Gute und das Schlechte? Was ist charakteristisch nur für mich und was ist charakteristisch für den Menschen allgemein? Was sind die Grenzen der Selbsterkenntnis? Das sind die Fragen, die sich Konstantin Lewin in Anna Karenina stellt, aber auch andere Protagonisten, die als „tolstoische Menschen“ bezeichnet werden.

Weltanschauliche Sinnkrise

Tolstoi selbst dachte über all diese Fragen sein ganzes Leben lang nach. All das findet sich in den Tagebüchern wieder, die er von der frühen Jugend an bis zu seinem Tod führte. Ende der 1870er, Anfang der 1880er Jahre durchlebte Tolstoi eine tiefe weltanschauliche Sinnkrise. In einer Reihe von religionsphilosophischen Werken suchte er nach theoretischen Begründungen für seine neuen Sichtweisen zu den Themen Religion, Moral, Kunst, Politik und Zivilisation. In dieser Zeit begann er, sich nicht mehr in erster Linie als Künstler zu begreifen, sondern als Religionsphilosoph. In seinen Traktaten erklärt Tolstoi, dass er zwar der Verkündigung Jesu glaube, nicht jedoch der Institution Kirche, in der der Glaube durch Ritualismus ersetzt würde. Das führte zu seinem Ausschluss aus der Kirche, der bis heute nicht aufgehoben wurde.

Schriftsteller, Moralist und Philosoph

Während der Schriftsteller Tolstoi bereits zu Lebzeiten ein anerkannter Klassiker der russischen Literatur war, erfuhr der Religionsphilosoph starken Gegenwind. Seine späten Werke, vor allem die religionsphilosophischen Traktate und der Roman Woskressenije mit ausführlichen Zitaten aus dem Neuen Testament, wurden massiv kritisiert. Tolstoi sah sich mit Vorwürfen des Moralismus und Utopismus konfrontiert. Es gab heftige Kritik an seiner religiösen Lehre sowie an der um Tolstoi in den 1880er Jahren gegründeten Bewegung Tolstowstwo. Unter anderem solche Philosophen wie Iwan Iljin oder Nikolaj Berdjajew traten damit hervor.

In seinen Tagebüchern bemerkte Tolstoi, dass er zunehmend darunter gelitten habe, nicht im Einklang mit seinen Überzeugungen gelebt zu haben. Der berühmte Literaturkritiker Viktor Schklowski vertrat die These, Tolstoi sei „Gewissen und Spiegel“ seiner Epoche zugleich gewesen. In seinen Werken habe er schließlich auch die eigenen Laster verteufelt.

 

Porträt von Lew Tolstoi, Datum der Aufnahme unbekannt / Foto © Fine Art Images/Heritage Images/imago-images

Ein großer Teil der Rezeption sieht in Tolstois Verzweiflung darüber, den eigenen moralischen Ansprüchen nicht zu genügen, den Grund für sein tragisches Ende. In der Nacht auf den 28. Oktober (10. November) verließ Tolstoi unbemerkt Jasnaja Poljana. Wenige Tage später bekam er eine Lungenentzündung, die ihn zwang, seine Reise an der Bahnstation Astapowo zu unterbrechen. Nach einer Woche schweren Leidens starb er am 7. (20.) November im Haus des Leiters der Bahnstation.


1.zit. nach: Boyd, Brian (1991): Vladimir Nabokov: The American Years, Princeton, S. 221-222
2.Tagebucheintrag vom 27. Mai (8. Juni) 1884: Tolstoj, Lev (1952): Polnoe sobranie sočinenii, Moskau, Bd. 49, S. 98
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)