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„Die politische Gefahr wiegt schwerer als das christliche Gewissen“

Nach dem Tod von Alexej Nawalny in der Strafkolonie „Polarwolf“ haben die russischen Behörden alles unternommen, damit sich seine Beerdigung nicht in eine große Demonstration der nicht Einverstandenen verwandelt. Zunächst weigerten sich die Behörden, seiner Mutter den Leichnam zu übergeben, und drohten, ihn anonym zu bestatten, wenn sie nicht einer Beerdigung abseits der Öffentlichkeit zustimmt. Dann suchten die Familie und Nawalnys Unterstützer drei Tage lang vergeblich nach einer Kirche und einem Friedhof für die Beisetzung und erhielten nur Absagen. Bis schließlich eine kleine Gemeinde in einem Moskauer Außenbezirk einwilligte. Auch fand sich lange kein Bestattungsunternehmen, das bereit war, den Sarg mit dem Toten auf seinem letzten Weg zu transportieren.

Die Theologin Regina Elsner von der Universität Münster erklärt, wie dieser Umgang mit einem Verstorbenen in der Russisch-Orthodoxen Kirche aufgenommen wird und was die Tradition eigentlich vorsieht. 

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Wer in den vergangenen Wochen in Russland des Toten Alexej Nawalny gedenken wollte, wie hier in Sankt Petersburg, musste mit Festnahmen rechnen. Keine Kirche war bereit, das orthodoxe Totengedenken für den Oppositionsführer abzuhalten / Foto © IMAGO / SOPA Images

dekoder: Warum war es so schwer, eine Kirche für Nawalnys Beisetzung oder für einen Abschiedsritus zu finden? 

Regina Elsner: Das ist so schwer, weil die offizielle Struktur der Russisch-Orthodoxen Kirche inzwischen vollständig Teil des politischen Systems ist und alles vermieden werden soll, was Menschen die Möglichkeit gibt, würdevoll von Alexej Nawalny Abschied zu nehmen. Es gibt mit Sicherheit Gemeinden oder auch Priester, die grundsätzlich dazu bereit wären. Es steht aber auch fest, dass es nicht nur für das Begräbnis, sondern auch schon für Trauerfeiern überhaupt, also für das Totengedenken und das Gebet, keine Erlaubnis gab, das offiziell in Kirchen zu machen. In der Orthodoxie gibt es festgelegte Riten, die nach dem Tod folgen: ein Totengedenken am Tag selbst, ein Totengedenken am dritten und am neunten Tag, und noch einmal eines am 40. Tag nach dem Tod. Es hat aber keine einzige offizielle Trauerfeier in einer Kirche in Russland stattgefunden. Das kann nur bedeuten, dass es ein Verbot gibt, das in den Kirchen abzuhalten. Priester und Gläubige laufen Gefahr, bestraft zu werden, wenn sie sich dabei zeigen.

Ein Priester in Petersburg wollte gleich, nachdem die Nachricht von Nawalnys Tod bekannt wurde, einen Ritus für ihn abhalten. Wer war das? 

Das war Grigori Michnow-Waitenko. Der ist nicht Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche, sondern einer Abspaltung, der Apostolischen Orthodoxen Kirche, die es seit einigen Jahren gibt. Er ist dann selbst verhaftet worden. Auch Menschen, die sich mit ihm versammelt hatten, wurden Überprüfungen unterzogen, einigen wurde mit Haft gedroht. Das ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn Kirchen oder wenn Priester sich bereit erklären, ein Ritual für einen Oppositionellen abzuhalten. 

Welche Voraussetzungen gibt es denn für ein orthodoxes Begräbnis?

Die einzige Voraussetzung, die es für ein kirchliches Begräbnis gibt, ist die Taufe. Andere Bedingungen gibt es nicht. Es muss niemand regelmäßig im Gottesdienst gewesen sein, regelmäßig gebeichtet haben oder sonst irgendetwas. Und jeder Priester wäre eigentlich in der Lage, das Ritual zu feiern. Aber inwieweit er verpflichtet ist, es zu tun, das ist natürlich noch einmal eine andere Frage. Das gebietet zunächst das Gewissen. Und eigentlich gebietet es auch der Glaube, dass jemand, der stirbt, in Würden beerdigt wird. Aber in einer totalitären Situation, wie wir sie in Russland zurzeit haben, heißt das eben nichts. Da wiegt die politische Gefahr schwerer als das christliche Gewissen. 

Was ist es denn für eine Gemeinde, in der schließlich die Aussegnung stattfindet? 

Die Gemeinde liegt weit außerhalb am Rand von Moskau. Der Gemeindepriester ist niemand, der für eine kritische Haltung bekannt wäre, sondern einer, der ganz klar den Krieg unterstützt. Und das gilt mit Sicherheit auch für die weiteren Priester, die es in der Gemeinde gibt. Ich bin mir derzeit noch nicht einmal sicher, ob dieses Begräbnis wirklich stattfinden wird. Denn ich weiß von Leuten, die Gemeindemitglieder kennen, dass nichts angekündigt ist und sie nicht davon ausgehen, dass dieser Priester dies unterstützen wird. Es gibt Berichte, dass Personen, die im Kirchenchor die Liturgie begleiten wollen, unter Druck gesetzt wurden, nicht zu kommen. Wenn man bedenkt, dass das eine Kirche ist, die fest an der Seite des Regimes steht, kann man davon ausgehen, dass es ein sehr unauffälliges, schnelles Begräbnis sein wird. Gleichzeitig muss man wohl damit rechnen, dass dennoch viele Menschen kommen werden und dass es deswegen auch Festnahmen und Provokationen geben wird, vor denen die Gemeinde keinen Schutz bieten wird. 

Wurde die Gemeinde möglicherweise sogar vom Staat ausgewählt, weil sie weit außerhalb liegt und der Friedhof dann auch an einem Ort liegt, wo nicht täglich Menschen hinpilgern werden und Blumen niederlegen? 

Man muss davon ausgehen, dass das definitiv mit Erlaubnis der Kirchenleitung passiert ist. Wir sehen ja, dass sich keine andere Gemeinde bereit erklärt hat. Wenn es ein Verbot gibt, dann ist diese Entscheidung bestimmt Chefsache des Patriarchats. Und die Lage spricht dafür, dass man das erst mal dafür aussucht, um die Leute möglichst nicht in Massen anzuziehen. Es könnte auch passieren, dass man die Leute da hinlockt und am Ende die Beerdigung am anderen Ende der Stadt stattfindet, wo eben keiner mehr so schnell hinkommt.

… So wie bei der Landung Nawalnys auf dem Rückweg aus Berlin. Als die Maschine im letzten Moment an einen anderen Flughafen umgeleitet wurde? 

Ja genau. 

Wie ist denn die Stimmung in der Kirche? Da gibt es ja auch andere, progressivere Kräfte. Wie halten die das eigentlich aus? Denn das ist ja schon ein, muss man sagen, höchst unchristliches Verhalten. 

Der Umgang mit dem toten – ermordeten – Nawalny hat tatsächlich nochmal gläubige Menschen mobilisiert. Als noch nicht klar war, ob der Körper des Verstorbenen herausgegeben wird und seine Mutter erpresst wurde, einem Begräbnis im engsten Familienkreis zuzustimmen, da gab es einen Aufschrei, der für die Verhältnisse der letzten zwei Jahre unter Kriegszensur bemerkenswert war. In einem öffentlichen Appell erinnerten die Unterzeichner an die christlichen Werte Russlands, und mahnten, dass es sich für ein christliches Land gehört, einen Verstorbenen christlich begraben zu können. 

Wer hat den Aufruf gestartet?

Den ersten Brief haben hauptsächlich Menschen unterschrieben, die in Russland leben, darunter auch orthodoxe Geistliche. Inzwischen sind es knapp 5000 öffentliche Unterschriften unter diesen Briefen, viele davon auch aus dem Ausland. Aber die erste Initiative haben russische Gläubige und russische Priester und Geistliche ergriffen. Es gab ein paar Varianten, dieses Unbehagen oder auch den Protest oder den Widerstand dezent auszudrücken: Es gab den Aufruf, Gebetsanliegen für den Verstorbenen oder für den ermordeten Alexej – also ohne Nachnamen – in Kirchen zu schicken. In orthodoxen Kirchen kann man ja Zettel für den Priester abgeben, damit dieser im Gottesdienst für diese Person betet. In den Tagen nach Nawalnys Tod gab es Massen solcher Bitten, für ihn zu beten. Und das, obwohl es Denunziationen gab und Personen überprüft wurden, nachdem sie solche Zettel abgegeben hatten. Es gab Schlangen vor großen Kirchen in Russland zum Gebet, die jeweils von der Polizei beobachtet wurden. Außerdem gab es im Ausland Totengedenken, die online übertragen wurden, an denen haben viele Zuschauer aus Russland teilgenommen. Man sieht also, dass das eine Form ist, Widerstand auszudrücken, ohne wirklich öffentlich gegen den Staat oder gegen diese Regierung aufzutreten. Da hat sich etwas Bahn gebrochen. 

In Moskau gibt es die Gemeinde Kosmas und Damian. Die hat während der Proteste nach Nawalnys Rückkehr Leuten, die vor der Polizei geflüchtet sind, Schutz geboten. Wie ist die Situation dort? 

Kosmas und Damian war lange Zeit eine der bekannten progressiven Gemeinden. Einer ihrer Priestermönche, Giovanni Guaita, ein gebürtiger Italiener, ist aber inzwischen abberufen und nach Spanien versetzt worden. Ein anderer Priester, der eigentlich für eine eher kritische Haltung bekannt war, ist inzwischen auf Linie еingeschwenkt. Ein weiterer Priester, der sehr bekannt war, auch für seine Unterstützung für Nawalny und für die Proteste, Alexej Uminski, ist vor einem Monat entlassen worden und ausgereist. Die großen Figuren, die innerkirchlich ein Gegengewicht hätten darstellen können, wurden in den letzten Monaten auffälligerweise alle aus dem Land getrieben.

Was wissen wir eigentlich über die Bedeutung des Glaubens für Alexej Nawalny? 

Nawalny hat früher von sich gesagt, er sei kein Christ, er hat sich eigentlich atheistisch positioniert. Das hat sich aber spätestens mit der Verhaftung geändert. In den Monaten der Haft hat er in seinen Auftritten vor Gericht immer wieder mit dem Christentum und der Bibel argumentiert. Das ist auch deswegen interessant, weil er dadurch zu so einer Identifikationsfigur für viele wurde, die glaubwürdige christliche Vertreter in Russland vermissen. Dass dann jemand wie er sozusagen das Ethos vertritt – nicht die Kirchlichkeit, mit der man eben nichts zu tun haben will, sondern das Ethos – das macht ihn zu einer Schlüsselfigur in diesen Debatten um die Kirche und um Orthodoxie unter den Bedingungen der Diktatur.

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Patriarch Kirill

Vor elf Jahren, am 27. Januar 2009, wurde Kirill zum Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche gewählt. Als solcher setzte er sich für ein stärkeres soziales Engagement der Kirche und eine bessere Klerikerausbildung ein. Gleichzeitig geriet er aufgrund der Annäherung der Kirche an den Kreml und mehrerer Korruptionsskandale in die Kritik. 

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Russisch-Orthodoxe Kirche

Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint.

Im zaristischen Russland waren staatliche und geistliche Macht stark miteinander verflochten. So wurden der Herrschaftsanspruch und die Legitimität des Zaren direkt von Gott abgeleitet und der neue Zar entsprechend in festlichen Gottesdiensten in sein Amt eingeführt. Administrativ war die Kirche Teil des Staatsapparats, so wurden etwa die Personenstandsakten von der Kirche geführt. Diese Privilegierung der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) – auch gegenüber anderen Religionsgemeinschaften im multireligiösen Zarenreich – ging dabei Hand in Hand mit zahlreichen Eingriffen in innere Angelegenheiten der ROK. Maßgebliche Kreise der ROK begrüßten daher die Abdankung des Zaren im Februar/März 1917 und sahen darin die Chance für eine größere Autonomie ihrer Kirche.

In der Sowjetunion versuchten die kommunistischen Machthaber zunächst, „fortschrittliche“ Geistliche, die teils für Kirchenreformen stritten, teils auch sozialistischen Ideen anhingen, gegen „reaktionäre“ Geistliche auszuspielen, bevor der Terror in den 1930er Jahren gleichermaßen Anhänger dieser sogenannten „Erneuererbewegung“ wie auch der Patriarchatskirche traf. Trotz dieser katastrophalen Erfahrungen riefen unmittelbar nach dem deutschen Überfall die wenigen überlebenden und noch in Freiheit befindlichen kirchlichen Würdenträger zur Verteidigung des – sowjetischen – Vaterlandes auf und initiierten Spendensammlungen.

Im Herbst 1943 revanchierte sich Stalin mit einer Neuausrichtung der staatlichen Kirchenpolitik, wobei auch außenpolitische Überlegungen zur Neugestaltung Europas maßgeblich waren und der ROK, wie auch anderen Religionsgemeinschaften in der Sowjetunion, eine Rolle als außenpolitischer Akteur zugedacht wurde. Dies bedeutete, dass nach den massiven Angriffen und Verfolgungen die ROK nun wiederum zu einem Instrument staatlicher Politik wurde und entsprechend gesteuert werden musste.

So wurde im Herbst 1943 – nach mehrjähriger Vakanz – die Wiederwahl eines Patriarchen forciert und zugleich ein staatlicher „Rat für die Angelegenheiten der Russisch-Orthodoxen Kirche“ eingerichtet, der als Vermittler der staatlichen Kirchenpolitik galt und zugleich eine Steuerungs- und Kontrollfunktion hatte. Anders als etwa in Polen oder der DDR bot die ROK aufgrund dieser spezifischen historischen Prägungen kein schützendes Dach für etwaige oppositionelle oder dissidentische Aktivitäten. Stattdessen bewegten sich christliche Andersdenkende eher in Strukturen jenseits der ROK.

Nach dem Ende der Sowjetunion erfuhr die ROK als Träger (ethnisch-) russischer Identität sowie moralischer Werte großen Zuspruch. Dem taten auch regelmäßig auftretende Skandale wenig Abbruch, die mit der zeitgleich stark wachsenden engen Verflechtung von Staat und Kirche einhergingen. So galt etwa der seit 2009 amtierende Patriarch Kirill (Gundjajew) in den 1990er Jahren als „Tabak-Metropolit“, der mit dem Verkauf zollfrei importierter Zigaretten zu Reichtum kam.1 Außerdem gehört es zum guten Ton, dass führende Politiker des Landes öffentlichkeitswirksam die Kirche aufsuchen und eigene Gottesdienste zur Amtseinführung des Präsidenten gefeiert werden. Die Russisch-Orthodoxe Kirche bietet in dieser Perspektive der Tradition des russischen Zarenreichs erneut eine nützliche Ideologie, die den Staat zusammenhält.

Vor diesem Hintergrund bewerten viele Beobachter die ukrainischen Bemühungen zu einer Loslösung von der ROK auch als eine Bedrohung für das geopolitische Selbstverständnis des Kreml. Denn mit der Einschränkung der geistlichen Deutungshoheit über die Ukraine wird auch der Anspruch des Kreml auf die eigene „Interessensphäre“ in dem Land zunehmend fraglicher.


1.Neue Zürcher Zeitung: Angekratztes Image. Patriarch Kyrill hat ein Problem
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)