Die westlichen Wirtschaftssanktionen wurden von Russland mit Einfuhrverboten für verschiedene Lebensmittel aus europäischer Produktion beantwortet. Produkte, die über unklare Kanäle dennoch ins Land kommen, werden derzeit in großangelegten Aktionen öffentlich vernichtet. Das Internetjournal Spektr wirft einen Blick darauf, wie diese Maßnahmen begründet werden und wie verschiedene Bevölkerungsgruppen sie aufnehmen.
Ende Juli unterschrieb der russische Präsident Wladimir Putin einen Erlass, wonach landwirtschaftliche Erzeugnisse, Käse und andere Nahrungsmittel, deren Einfuhr im Zusammenhang mit den Wirtschaftssanktionen verboten wurde, vernichtet werden müssen. Das am 6. August in Kraft getretene Dokument soll für mindestens ein Jahr gelten. Nach der Unterzeichnung des Erlasses scherzte man in den sozialen Netzwerken ein paar Tage lang über das Aussehen des beleibten Chefs der russischen Zollbehörde, Andrej Beljaninow, mit dem Hinweis, dass sich wohl kein zweiter mit der Vernichtung von Nahrungsmitteln so auskenne wie er. Die russische Regierung nahm das Ganze jedoch sehr ernst und organisierte am vergangenen Donnerstag eine regelrechte Schau-Exekution sanktionierter Lebensmittel.
In einigen Regionen begann man mit der Umsetzung des Erlasses schon, bevor er tatsächlich in Kraft trat. So wurden zum Beispiel in Samara bereits am 4. August 114 Tonnen Schweinefleisch vernichtet, die nach den Worten der Sprecherin der russischen Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Rosselchosnadsor Julia Melano schon im April „bei den Inspektoren Zweifel hervorgerufen hatten und beschlagnahmt worden waren“. Sie ließ verlauten, dass es sich dabei um in Europa hergestellte und mit falschen brasilianischen Zertifikaten nach Russland importierte Produkte handele.
Aber ernsthaft gegen die geschmuggelten Lebensmittel vorzugehen, begann man erst zwei Tage später. Die News-Spalte der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde flimmerte nur so vor Meldungen über immer mehr Lebensmittel mit gefälschten Zertifikaten. 1 ½ Tonnen Schweinefleisch, 9 Tonnen Möhren, 28 Tonnen Tomaten und Äpfel, 73 Tonnen Nektarinen (in Wirklichkeit noch viel mehr, das war nur eine der beschlagnahmten Partien) – all das muss dem neuen Erlass des Präsidenten zufolge vernichtet werden.
Es blieb aber am Donnerstag nicht bei Beschlagnahmungen. Die Pressestelle der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde veröffentlichte ein Video und eine Fotoreportage über die Vernichtung von Käse in der Region Belgorod, den man schon Ende Juli beschlagnahmt hatte. Mit einem Traktor wurden rund 9 Tonnen Käse in einer Mülldeponie zermalmt.
In St. Petersburg verbrannte man Käse in einem Spezialofen. Bislang zwar nur eine kleine Partie, aber in der nächsten Zeit sollen in Pulkowo rund 20 Tonnen Käse verbrannt werden. Über 4 ½ Tonnen Gemüse wurden in einer Mülldeponie in der Region Brjansk vernichtet.
Selbstverständlich blieben die Nutzer der sozialen Netzwerke bei solch entschlossenen, krassen Maßnahmen gegenüber ausländischen Lebensmitteln nicht gleichgültig und begannen, Witze zu reißen: Es entstanden Fotomontagen, Plakate, die Boris Jelzins Stab vor den Wahlen von 1996 veröffentlicht hatte, wurden wieder hervorgeholt, man schlug ähnliche Maßnahmen für den russischen Fußball vor oder veröffentlichte einfach Nachrichten, bei denen man angesichts der aktuellen Lage im Land nicht gleich wusste, ob sie echt waren oder ein Fake. Man witzelte auch über die Sache mit dem Lastwagenfahrer, der, als er von den neuen Gesetzen erfahren hatte, mit 1 ½ Tonnen Tomaten nach Weißrussland floh.
Viele nahmen die Vernichtung der Lebensmittel jedoch sehr ernst. Sie fassten sie als Beleidigung für Russland auf, wo man sich an Kriegs- und Hungerjahre anderer Zeiten erinnert und einen respektvollen Umgang mit Essen gewohnt ist. Auf der Website change.org findet sich bereits eine Petition, in der Bürger die Regierung dazu aufrufen, die Lebensmittel nicht zu vernichten, sondern an Bedürftige weiterzugeben. Der Aufruf erhielt beinahe 300.000 Stimmen und wurde sogar im Kreml zur Kenntnis genommen. Putins Sprecher Dimitri Peskow, der zunächst verkündet hatte, die Umsetzung des neuen Gesetzes sei unumgänglich, hat bereits versprochen, die Petition zumindest in Augenschein zu nehmen. Er gab auch zu, dass der Prozess der Vernichtung von Lebensmitteln „nicht sehr angenehm aussieht“, betonte aber, dass es in der gegebenen Situation einfach keinen anderen Ausweg gebe.
Gemäß Putins Erlass über die Prüfung gesellschaftlicher Initiativen berücksichtigt die russische Regierung Petitionen im Grunde nur, wenn sie auf einer Website namens Rossiskaja obschtschestwennaja iniziatiwa (Russische gesellschaftliche Initiative) publiziert werden. Ein ähnlicher Aufruf dort erhielt bisher erst gut 3000 Stimmen (und mehr als 130 dagegen), was ungefähr 96.000 weniger sind, als nötig wären, damit die Petition auf föderaler Ebene geprüft wird.
Der russische Landwirtschaftsminister Alexander Tkatschow (von dem die Idee der Nahrungsmittelvernichtung stammt) ließ verlauten, sein Amt halte sich in der Angelegenheit der Vernichtung sanktionierter Erzeugnisse an die weltweit übliche Praxis. Seinen Worten nach muss Schmuggelware vernichtet werden, um so mehr, da sie größtenteils von recht zweifelhafter Qualität sei. „Wir dürfen die Gesundheit unserer Bürger nicht aufs Spiel setzen“, ergänzte Tkatschow. Im Übrigen ist für den Minister nicht nur das Wohlbefinden der Bevölkerung Anlass zur Sorge. Eine Verteilung der Lebensmittel an Bedürftige würde Alexander Tkatschow zufolge auch mit vermehrter Korruption und der Überschreitung von Dienstbefugnissen einhergehen. Dieselbe Meinung vertritt auch der Chef der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Sergej Dankwert.
Doch nicht alle führenden Politiker teilen die Auffassung, dass die Vernichtung der Lebensmittel unumgänglich ist. Der Leader der Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganow zum Beispiel bezeichnete solche Maßnahmen als barbarisch. „Auf unserem Planeten leben sieben Milliarden Menschen, von denen sich jeden Tag zwei Milliarden hungrig zu Bett legen. Es gibt viele Organisationen, die bereit wären, diese Lebensmittel Armen zukommen zu lassen“, erklärte der Politiker. Auch die Vertreter des Gerechten Russlands unterstützen die Idee einer Umverteilung des Essens. Der Leader der Liberal-Demokratischen Partei Russlands Wladimir Shirinowski wiederum bezeichnete die Zerstörung der Lebensmittel als „Kampf gegen Kakerlaken“. „Wir vernichten sie, und sie kommen wieder. Und wir vernichten sie wieder. Genau wie beim Kampf gegen den Diebstahl und gegen den Schmuggel“, sagte er.
Der russischen Regierung geht es natürlich nicht um das Schicksal der Lebensmittel als solche. Sogar für nichtzertifizierte Ware hätte man schließlich viel vernünftigere Verwendungsmöglichkeiten finden können als die Verbrennung in Öfen unter dem Blitzlichtgewitter der Kameras und die demonstrative Zerstampfung im Schmutz. Und felsenfeste Beweise dafür, dass diese ganzen Nahrungsmittel tatsächlich unter Umgehung der Einfuhrverbote aus der verhassten EU oder aus den USA kamen, gibt es bisher auch nicht. Schmuggel mit billigen, minderwertigen Lebensmitteln gab es letzten Endes schon immer. Jedoch braucht es gerade jetzt eben jene Kameras, muss die russische Regierung gerade jetzt – nicht einmal der ganzen Welt, sondern in erster Linie den eigenen Bürgern – zeigen, dass sie selbstsicher ist und dass das Land bestens ohne die täglichen paar hundert Tonnen „feindlicher“ Nahrungsmittel auskommt.
„Ich bezweifle, dass der Vorschlag, die sanktionierten Lebensmittel zu verteilen, durchkommt – das wäre irgendwie nicht cool und zu menschenfreundlich dafür, wie die Dinge derzeit stehen“, sagt der Redakteur der Zeitschrift Kommersant-Dengi, Juri Lwow. Angesichts der um ein weiteres Jahr verlängerten Sanktionen geht es genau darum, Coolness und Unabhängigkeit zu demonstrieren. Und die Blockadeopfer, die Hunger gelitten haben, werden es geduldig ertragen. Selbst die Aktivisten, die sich mit und ohne Grund hinter ihren kriegs- und blockadeerfahrenen Großvätern verstecken und in der Soße aus Siegesfeiern zum 70-jährigen Jubiläum des Kriegsendes bereit sind, so ziemlich alles zu verbieten, sind in den letzten Wochen irgendwie verstummt.
Allerdings vermitteln die Ereignisse bisher weder Selbstsicherheit noch Stolz. Die demonstrative Vernichtung von Lebensmitteln ruft nur Unverständnis und Abscheu gegenüber all denen hervor, die das angezettelt haben. Und es erinnert auch schmerzlich an die berühmte Episode Das Begräbnis des Essens aus der humoristischen Sendung Oba-na! von 1990, in der – zu Zeiten allgemeiner Lebensmittelknappheit – Fleisch, Brot und anderen Nahrungsmitteln ein Staatsbegräbnis ausgerichtet wird. Damals scherzten die Autoren: „Das Essen ist tot, es lebe der Hunger!“ Aber jetzt ist das irgendwie nicht mehr lustig.