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In seiner Nobelpreisrede im Jahr 1987 erinnert sich Joseph Brodsky an die russische Kulturszene der frühen 1950er: „Wir begannen in einer Leere – ja, mehr noch, in erschreckender Verwüstung [...] eher intuitiv als bewusst versuchten wir, [...] die Kontinuität der Kultur wiederherzustellen.“1 Der 1940 geborene Brodsky war eine der herausragendsten Persönlichkeiten einer außergewöhnlich talentierten Generation, die gerade rechtzeitig zur Entstalinisierung erwachsen wurde. Es wurde zu ihrer Aufgabe, die russische Poesie nach dem späten Stalinismus wiederzubeleben, nach „der unfruchtbarsten Zeit in der gesamten Geschichte der modernen russischen Literatur“.2 Mit 15 hatte Brodsky die permanente ideologische Fütterung satt und verließ die Schule; später beschrieb er dies als seine erste „freie Tat“. Dieser unerhörte nonkonformistische Akt erwies sich als ein wichtiger Schritt hin zu intellektueller Unabhängigkeit in einem totalitären Umfeld. Von da an eignete er sich sein gesamtes Wissen als Autodidakt an.
Während der Tauwetter-Periode – einer kurzen Zeit der Entstalinisierung und relativen Liberalisierung – flammte in Russland ein aufrichtiges Interesse an Poesie auf.3 Laut Nadeshda Mandelstam, der Witwe Ossip Mandelstams (1891–1938), eines im Arbeitslager umgekommenen großen Dichters des Silbernen Zeitalters, war die Geburt des Samisdat entscheidend für diese Wiederbelebung. Illegal kopierte Texte schafften Wunder: „Vor unseren Augen entstand der neue Leser – wie es geschah, wissen wir selbst nicht. Das ganze Erziehungssystem war darauf ausgelegt sein Aufkommen zu verhindern. Einige Namen wurden einfach unterdrückt, andere in der Presse und den Parteidekreten denunziert, und es schien undenkbar, dass auch nur ein Mensch die Mauer des Vergessens durchdringen könnte – als sich mit einem Mal alles änderte, dank des Samisdat.“4
Außerhalb des offiziellen Systems fanden sich informelle Gruppen von gleichgesinnten Dichterinnen und Dichtern zusammen. Es wurde zu ihrer Hauptaufgabe, Brücken zur westwärts gerichteten vorrevolutionären Kultur Russlands zu bauen. Polen wurde ihr Fenster nach Europa: Nach 1956 waren die Zensurbestimmungen hier weit weniger streng als in der UdSSR, und so lernten Brodsky und seine Kollegen Polnisch, um Zugang zu der westlichen und anderen verbotenen Literatur zu bekommen. Der Stil und die Themen dieser Gruppen kollidierten mit der offiziell verordneten literarischen Kost, und ihre Lyrik hätte es nie durch die sowjetische Zensur geschafft. Als Dichter außerhalb des offiziellen Systems konnte man indes keinen Lebensunterhalt verdienen. Also jobbte sich Brodsky durch ein Dutzend geistloser Tätigkeiten, und verdiente zusätzlich etwas Geld mit Übersetzungen – zunächst aus dem Polnischen, später auch aus dem Englischen.
Eine andere Art, Brücken zur kosmopolitischen Kultur der vorrevolutionären Zeit zu schlagen, war das „Wodkatrinken mit Genies“.5 Dieser Begriff beschreibt die Praxis, überlebende Dichterinnen und Dichter der vorrevolutionären Generation ausfindig zu machen und Freundschaften mit ihnen zu knüpfen. Die wohl prominentesten literarischen Überlebenden des „Krieges gegen die russische Kultur“ (Isaiah Berlin), den Stalin von den 1930ern bis zu seinem Tode führte, waren Boris Pasternak (1890–1960) und Anna Achmatowa (1889–1966). Sie wurden zu den letzten lebenden Verkörperungen der vorrevolutionären Hochkultur. Brodskys Freundschaft mit Achmatowa an ihrem Lebensabend verschaffte ihm eine Verbindung zur klassischen Sankt Petersburger Lyriktradition und insbesondere zu ihrem akmeistischen Dichterkollegen Ossip Mandelstam. Mandelstam, ein jüdischer Paria im russischen Reich, bestand auf der tiefen europäischen Prägung der russischen Kultur. Brodsky, auch er ein jüdischer Außenseiter im sowjetischen Kontext, berief sich häufig auf Mandelstams Konzept der Weltkultur – in der Hoffnung, Russland könnte den Bann der sowjetischen Selbstisolation brechen.
„Ich bin infiziert mit normalem Klassizismus“: So fasst der 25-jährige Brodsky in der ersten Zeile seines Gedichts An eine gewisse Lyrikerin sein poetisches Credo zusammen. Der Klassizismus war der vorherrschende Stil in der Architektur Sankt Petersburgs. Brodskys Heimatstadt war zu seiner Lebzeit zwar nicht mehr die Hauptstadt eines Reichs, nicht mehr Russlands Fenster nach Europa, sondern eine in Leningrad „umbenannte Stadt“ (A Guide to a Renamed City, 1979) in einem Land, das sich vom Rest der Welt abgeschottet hatte – doch ihre klassizistische Architektur konnte immer noch inspirieren. Für Brodsky war sie das Sinnbild der harmonischen Schule, die im Goldenen und Silbernen Zeitalter der russischen Poesie ihre Blütezeit erlebt hatte, die er fortsetzen wollte. Ein Freund Brodskys, der deutsche Schriftsteller Hans Christoph Buch, sah eine politische Dimension dieses klassizistischen Programms:
„Brodskys Ziel war von Anfang an nicht die Zertrümmerung der Form wie in der westlichen Avantgarde, sondern die Wiederherstellung des Reichtums der überlieferten Kunst und Literatur in einem durchaus klassizistischen Sinn. Das bedeutete zugleich eine Kampfansage gegen den totalitären Staat, dessen lähmendem Zugriff sich die russischen Dichter seiner Generation zu entziehen versuchten – nicht durch politischen Protest, sondern durch ästhetische Verweigerung.“6
Nach dem Vorbild der russischen klassizistischen Dichter des 18. Jahrhunderts verlieh Brodsky der sowjetischen Poesie wieder eine metaphysische Dimension. Doch natürlich waren den Behörden Gedichte mit einer philosophischen Ebene, geschweige denn mit auch nur einer Andeutung von metaphysischen Elementen, ein Dorn im Auge. Der Ton von Brodskys Lyrik stand in erstaunlichem Kontrast zu den Orten, an denen er schrieb. Man kann sich kaum etwas weniger Klassizistisches vorstellen als die Kolchose in dem schlammigen Dorf Norenskaja, „zwischen Sümpfen und Wäldern verloren, nahe dem Polarkreis“7, wo er 1964 als sogenannter „Schmarotzer“ fünf Jahre Zwangsarbeit leisten musste. Die Richterin Saweljewa, die den Vorsitz in dem kafkaesken Prozess führte, erklärte, als Nicht-Mitglied des sowjetischen Schriftstellerverbandes sei Brodsky buchstäblich ein Niemand. „Wer hat gesagt, Sie seien ein Dichter?“, fragte sie, „Wer hat Sie in den Dichterrang erhoben?“ Brodsky entgegnete trotzig: „Niemand. […] Wer hat mich denn in den Menschenrang erhoben?“8 Seine geistreicher Konter hinderte die Richterin natürlich nicht daran, ihren Stempel unter den Schuldspruch zu setzen.
Brodskys Verbannung hatte den Zweck, seinem Schaffen ein Ende zu setzen. Stattdessen wurde sie zu einem Wendepunkt in seiner dichterischen Entwicklung. In Norenskaja brachte Brodsky sich selbst Englisch bei und entdeckte die Dichtung von Auden. Er übersetzte auch den englischen Metaphysiker des 17. Jahrhunderts John Donne und schrieb Gedichte in Anlehnung an Robert Frost. Frosts stoische Begegnungen mit der ungezähmten amerikanischen Natur inspirierten Brodsky, als er sich in der russischen Arktis den Urgewalten stellen musste.
Brodskys Lyrik hat oft etwas von einem Tagebuch. Überraschenderweise spricht der arktische Sträfling Brodsky mit der gleichen zurückhaltenden Stimme wie der venezianische Tourist Brodsky. Seine seltene Gabe der distanzierten, leidenschaftslosen Beobachtung steht über den persönlichen Umständen, so dass auch die Lesenden sich unabhängig von ihren Umständen mit seinem Wunsch identifizieren können, die Trostlosigkeit zu überwinden und das Unbelebte zu beleben:
Ja, hier herrscht Er im Überfluss. Er kocht
am Samstag Linsen, und die Flammen beugen
sich schläfrig über Ihm, dem Holz und Docht.
Da zwinkert er mir zu als Augenzeugen.
(„Gott lebt nicht ‚in den Ecken‘ auf dem Lande…“, 1964, Nachdichtung hier und weiter, falls nicht anders genannt von Alexandra Berlina)
(«В деревне Бог живет не по углам…», 1964)
Die Verfolgung Brodskys ging weitgehend nach hinten los. Das Gerichtsverfahren machte ihn im Westen zur nächsten internationalen cause célèbre nach der Affäre um Pasternaks Schiwago im Jahr 1958. Im November 1965 kehrte Brodsky nach Leningrad zurück. Während er für offizielle Kreise natürlich ein Paria blieb und die Geheimpolizei ihn bewachte, wurde er zu einem Star des Leningrader literarischen Untergrunds. Junge Leute suchten seine Gedichte im Samisdat und strömten zu seinen inoffiziellen Lesungen. Ebenso besuchten Westler, die es in die UdSSR schafften, seine „anderthalb Zimmer“ (In a Room and a Half, 1986) in einer Gemeinschaftswohnung.9 1967 lernte ihn George Kline kennen, ein amerikanischer Professor für russische Philosophie, der fortan seine Gedichte ins Englische übertrug. 1970 gelang es Kline, von Auden ein Vorwort für eine Sammlung dieser Übersetzungen zu erhalten.10 Dies war ein symbolischer Moment für die gesamte russische poetische Tradition: Die jahrzehntelange künstliche Isolation von internationalen kulturellen Entwicklungen wurde durchbrochen.
Brodsky lernte weiterhin Englisch. Die englischsprachige Poesie, insbesondere Donne und die metaphysischen Dichter des 17. Jahrhunderts, prägten seine russische Poetik: seine Prosodie, seinen Stil und seine Themen.11 Der englische Einfluss wurde auch zu einer Quelle der Innovation, die ihm half, das abgestandene sowjetische poetische Idiom wiederzubeleben.12 Im Gegenzug hoffte Brodsky bereits damals, dass die englischen Übersetzungen seiner Lyrik einen Einfluss auf britische und amerikanische Dichtung ausüben könnten. Der Westen nahm einen immer größeren Raum auf Brodskys mentaler Landkarte ein. Ein amerikanisches Akademikerehepaar, Carl und Ellendea Proffer, half, ein Bändchen von ihm am Eisernen Vorhang vorbeizuschmuggeln, und es wurde in den USA veröffentlicht.13 Obwohl er nicht vorhatte, Russland zu verlassen, wollte Brodsky doch reisen, die Welt sehen, die großen Städte Europas erleben: London, Paris, Venedig, Rom ... All seine Versuche, von den sowjetischen Behörden ein Ausreisevisum zu erhalten, erwiesen sich jedoch als erfolglos, wie er 1969 in dem Gedicht Das Ende einer schönen Epoche sardonisch zusammenfasste:
(„Das Ende einer schönen Epoche“, 1969)
(«Конец прекрасной эпохи», 1969)
Am 4. Juni 1972 war Brodsky dann gezwungen, seine Heimat von einem Tag auf den anderen für immer zu verlassen. Ein Flugzeug brachte ihn nach Wien, während seine schon alten Eltern, seine ehemalige Lebensgefährtin und ihr gemeinsamer Sohn, seine Freunde und seine Leserschaft in der Sowjetunion blieben. Bald darauf besuchte er in Begleitung von Auden das Poetry International Festival in London. Das britische Publikum bereitete ihm einen großen Empfang. Auden selbst wurde in den letzten Monaten seines Lebens zu einem Freund, und auch andere bedeutende englischsprachige Dichter wie Spender und Lowell hießen ihn willkommen. Sein Traum, das anglophone Publikum zu beeindrucken, war in Erfüllung gegangen, aber der Erfolg war bittersüß. Es tat Brodsky weh, dass ihm in der Heimat nie ein solches Publikum erlaubt gewesen war. Und er befürchtete, dass seine Muse die Verpflanzung nicht überleben würde – dass er anfangen könnte, das lebendige Russisch zu verlernen, wenn er es nicht an jeder Straßenecke hörte; dass er aufhören würde, ein Dichter zu sein.
Zu diesem Thema erhielt Brodsky aber bald nach seiner Niederlassung in Amerika einen beruhigenden Brief von einem Dichterkollegen im Exil, Czesław Miłosz. Dieser schrieb, die Vorstellung, „dass das Leben eines Schriftstellers endet, wenn er seine Heimat verlässt“14 sei ein slawischer Mythos. Und tatsächlich entwickelte Brodsky bald eine psychologische Strategie gegen seine Angst: Er wollte sich selbst und andere überzeugen, dass seine erzwungene Emigration nichts Wesentliches in seinem Leben verändert hatte und auch nichts hätte verändern können – dass sein amerikanisches Leben im Grunde nahtlos sein Leben in Leningrad fortsetzte.15
Poesie war für Brodsky schon immer ein Dialog mit seinen Vorgängerinnen und Vorgängern. Aber um sich als Dichter in einem neuen Land zurechtzufinden, musste er auch Zeitgenossen für sich gewinnen. Sein Ruf eilte ihm Voraus: Achmatowa und später Auden bürgten für sein Talent und erzählten der Welt, wie Brodsky verfolgt und später ins Exil getrieben wurde. Doch er konnte sich nicht allein auf Politik und seinen literarischen Ruf verlassen; er wollte in der neuen sprachlichen Umgebung als Dichter überleben. Fünf Jahre nach seiner Verbannung aus der Sowjetunion machte er sich daran, „auf Englisch zu schreiben – Essays, Übersetzungen, gelegentlich auch mal ein Gedicht“ (To Please a Shadow). Englische Übertragungen seiner Werke wurden für Brodskys dichterische Karriere in Amerika lebenswichtig. Er beauftragte verschiedene Übersetzer, und einige bedeutende englischsprachige Dichter boten Hilfe an. Aber Brodsky war sehr wählerisch. Er wollte vor allem, dass Metrum und Reim des Originals erhalten bleiben. Als sich sein Englisch verbesserte, begann er, die Nachdichtungen zu überarbeiten und wurde schließlich zum Selbstübersetzer.16
Brodskys Auftrag in Amerika war anders als der von Vladimir Nabokov, einem anderen zweisprachigen Schriftsteller aus seiner Heimatstadt, mit dem er immer wieder verglichen wird. Man könnte sagen, dass Brodsky es schwerer hatte. Nabokov war aus dem nationalsozialistischen Berlin nach Frankreich und weiter nach Amerika geflohen und hatte sich dem Englischen zugewandt, der Sprache seiner mehrsprachigen russischen Aristokratenkindheit. Brodsky hingegen versuchte, in Amerika als russischer Dichter zu überleben, während er gleichzeitig mit englischsprachigen Essays und Übersetzungen ins Englische in sprachliches Neuland vorstieß. Doch sowohl Nabokov als auch Brodsky gelang, was früheren Generationen von russischen Emigranten nicht gelungen war: „sich die Länder des Exils, wenn auch widerwillig, zu eigen zu machen, sie durch das poetische Wort in Besitz zu nehmen“, wie Miłosz es formuliert.17
1987 wurde Brodsky mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet; 1991 wählte ihn die Library of Congress zum Poet Laureate Amerikas. Er war der erste Dichter mit ausländischem Akzent, dem diese Ehre zuteil wurde: Seine obsessive Liebe zur englischen Sprache machte jeden Mangel wett. Brodsky zeichnete sich auch als Essayist aus. Die Hälfte seiner Essays sind inspirierende Close Readings seiner Lieblingsdichter, als deren Summe er sich bezeichnete18 – Mandelstam, Zwetajewa, Frost, Achmatowa, Auden, Hardy und Rilke. Die andere Hälfte beschäftigt sich mit seiner sowjetischen Kindheit. Brodsky gelingt es, in ihnen Erfahrungen zu artikulieren, für die seinen Landsleuten oft die Worte fehlten.
Brodsky glaubte innig, dass Sprache und Poesie sowohl versklaven als auch befreien können: Literatur biete zwar keine Garantie der Freiheit, aber doch einen Impfstoff gegen Unfreiheit. Er hatte das Trauma des 20. Jahrhunderts und die Versklavung einer ganzen Nation durch die Sprache der Ideologie miterlebt. Es lag ihm unendlich viel an intellektueller und geistiger Freiheit, und er hoffte, dass auch sein Werk eine Rolle bei der Befreiung des Geistes spielen könnte. Daher auch seine Nobelvorlesung und sein „unbescheidener Vorschlag“, Gedichtbände in Hotelzimmern zu verteilen.19 Als Autodidakt lernte er sowohl aus Büchern als auch von den Großen, die er kannte – zum Beispiel von Achmatowa, deren Hauptwerkzeug des politischen Widerstands die Erinnerung war.20 Die Erinnerung an Menschen, deren Leben von der Staatsmaschinerie ausgelöscht wurde, sowie die vielen Gedichte, die sie auswendig kannte, halfen ihr, als Dichterin und Mensch Würde zu bewahren. Für sie gehörte die Bewahrung der poetischen Tropen – Metrum und Reim – zum Bollwerk gegen den Zerfall der Zivilisation, der poetischen Tradition, des historischen und künstlerischen Gedächtnisses. Brodsky war ihr Schüler gewesen; sein Ehrgeiz galt nicht sich selbst, sondern der Sprache, der er diente. Und es gelang ihm, was sonst niemandem gelang – seine Dichterfigur in ihrer Gesamtheit in eine andere Sprache und Kultur zu übersetzen. Mit seinem Charisma, seinem Genie und seiner Überzeugungskraft wurde er schließlich im Englischen wie im Russischen zu einem Teil der Sprache:
(„Bei dem Wort ‚Zukunft‘ entrinnen der russischen Sprache ...“, 1975)
(«И при слове ‚грядущее‘…», 1975)
Brodskys Rückkehr nach Russland war ein Triumph – auch wenn nur seine Worte zurückkehrten, nicht er selbst. Die meisten seiner russischen Werke und Übersetzungen aus dem Englischen erschienen schon zu Lebzeiten in seinem Heimatland. Zu dem Erstaunen vieler weigerte sich Brodsky nach dem Zerfall des Sowjetimperiums aber, auch nur für einen kurzen Besuch zurückzukehren, trotz unzähliger nahezu flehentlicher Bitten. Wenn man ihm das aber vorwirft, vergisst man, dass nach seinem Exil in der Sowjetunion sogar sein Name tabu war. Die russischen Freunde, die inoffizielle Sammlungen seiner Gedichte zusammenstellten, waren Verfolgung und Schikanen ausgesetzt.21 Die New Yorker Schriftstellerin Susan Sontag, die mit Brodsky befreundet war, fand seine Weigerung, zurückzukehren, „symbolisch für das, was er war.“22 Zudem waren „diejenigen, die [ihn] mehr geliebt hatten als sich selbst, nicht mehr am Leben“23 – seine Eltern, die er jahrelang verzweifelt und erfolglos wiederzusehen versuchte. Er durfte nicht einmal ihren Beerdigungen beiwohnen. Wozu also zurückkehren, wenn sie nicht an seinem Triumph teilhaben konnten?
Am 28. Januar 1996 starb Brodsky an einem Herzinfarkt in seiner New Yorker Wohnung. Er war erst 55. Sein Leichnam wurde in Venedig beigesetzt, einer von ihm innig geliebten Stadt. In Russland wurde er indes zu einer Dichterfigur von nahezu puschkingroßer, mythischer Statur. Brodsky mag oft beklagt haben, dass wegen des Puschkin-Kults gleichbedeutende Lyriker seiner Zeit wie Baratynski und Wjasemski in Vergessenheit gerieten, aber die hohe Stellung eines Dichters in Russland als solche hätte er nie in Frage gestellt. In seinem 1976 als Hommage an Dante geschriebenen Gedicht Dezember in Florenz prophezeite Brodsky, dass er in Wortgestalt nach Russland zurückkehren würde. Man mag einen Dichter aus seiner Stadt verbannen, aber die Sprache der Daheimgebliebenen werde am Ende von dem im Exil geprägt:
(„Dezember in Florenz“, 1976, Nachdichtung von Isolde Baumgärtner)
(«Декабрь во Флоренции», 1976)
Ob Brodsky die Sprache geprägt hat, die heute in Russland auf der Straße gesprochen wird, ist schwer zu sagen. Aber wer auch immer heute Gedichte auf Russisch schreibt, muss gegen Brodskys Meisterschaft im dichterischen Handwerk, seine Vielseitigkeit, seine intellektuelle Kraft und seine Weltoffenheit ankommen – muss sich erst einmal ein Stück Existenz im Schatten Brodskys erobern.