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Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Anton Tschechow

Tschechow (1860–1904) ist ein Phonograph, der „mir meine  Stimme und meine Worte vorführt“. „Mit Tschechow hat Russland sich lieben gelernt.“ „Alles ist ein Tschechow-Plagiat.“ Die erste Aussage stammt von einem berühmten Lyriker des Symbolismus, die zweite von einem nicht minder berühmten, bissig-paradoxen  Kritiker, die dritte von einem völlig unbekannten Reporter einer Provinzzeitung im frühen 20. Jahrhundert. 
Trotz Unterschieden in Erziehung, Bildung, politischen Überzeugungen und Lebensentwürfen nehmen die meisten Menschen den Autor der Möwe als jemand eigenen wahr, als einen von uns. Forschungen zu Tschechows Reputation bemerken ein Paradox: Er ist der einzige russische Klassiker, der allgemeine Anerkennung erreichte, ungeachtet der Meinung professioneller Kritiker, die ihn eindeutig unterschätzten, – ausschließlich dank der Liebe der Leser aus der Intelligenzija
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich ein Tschechow-Kult entwickelt, der allerdings mit den meisten Fan-Kulten nichts gemein hatte: Was man an Tschechow verehrte, war seine Zurückhaltung und fehlende Arroganz, seine Ausgeglichenheit im Umgang mit Menschen, seine innere Integrität und natürlich seine Nächstenliebe – die Reise zu den Zwangsarbeitern der Insel Sachalin, sein Einsatz in der ländlichen Semstwo und als Arzt in Melichowo, und später die Behandlung von Tuberkulosekranken in Jalta.
Doch auf eine derartige Ikone lässt sich Tschechow nicht reduzieren: Er veränderte sich im Lauf seines Lebens genauso, wie seine Werke sich veränderten. 

РУССКАЯ ВЕРСИЯ

Der Großteil der russischen Schriftsteller vor Tschechow waren Adelige, für die die Hochkultur – Literatur und Theater sowie Fremdsprachenkenntnisse – von klein auf mühelos zugänglich war. Tschechows Vorfahren waren im Unterschied dazu leibeigene Bauern, sein Vater hatte einen kleinen Laden in Taganrog. 

Schon als Kind musste Anton von früh bis spät im väterlichen Geschäft für „Tee, Zucker, Kaffee und andere Kolonialwaren“ helfen und danach noch zu Proben des Kirchenchors gehen. Der Vater war geradezu ein Fan des Kirchengesangs, und alle seine Kinder mussten diese Begeisterung teilen. Später erinnerte sich Tschechow: „Wenn ich manchmal mit meinen beiden Brüdern in der Kirche stand und Da isprawitsja oder auch Archangelski glas sang, sahen uns alle ganz gerührt an und beneideten meine Eltern, während wir uns wie kleine Sklaven fühlten.“ Bei all seinem Despotismus wollte Pawel Jegorowitsch jedoch für seine Kinder nur Gutes und schaffte es, im Unterschied zu den meisten Kaufleuten in Taganrog, ihnen Zugang zu Bildung zu ermöglichen. 

Antoscha Tschechonte

Der Beginn von Tschechows Schaffen birgt ein Paradox: Bis 1886 entstanden etwa zwei Drittel seines zukünftigen Gesamtwerks. Gleichzeitig existierte in der russischen Literatur damals kein Schriftsteller namens Anton Tschechow. Es gab einen Menschen ohne Milz, einen Bruder meines Bruders, es gab Ruwer, Schraubenmutter Nr. 6 und Schraubenmutter Nr. 9, eine Brennnessel, Makar Baldastow, einen Arzt ohne Patienten und so weiter – insgesamt rund 50 Pseudonyme, das bekannteste davon war Antoscha Tschechonte.    

Heute sind rund ein Dutzend Erzählungen von Tschechow relativ weit verbreitet, doch insgesamt hat er über 500 geschrieben. Außerdem gelang es ihm noch, eines der anspruchsvollsten und arbeitsintensivsten Universitätsstudien zu absolvieren: Medizin. Zusätzlich schrieb er Gerichtsreportagen und Auftragsarbeiten, rezensierte Theateraufführungen und führte die humoristische Kolumne Splitter des Moskauer Lebens. Damals ahnte kein Mensch, dass dieser Spaßvogel-Journalist ein umfangreiches Bühnenstück in fünf Akten in der Schublade liegen hatte, das, so die Absicht des Autors, das moderne Theater revolutionieren sollte. Im 20. Jahrhundert wird dieses Drama unter verschiedenen Titeln (Die Vaterlosen, Platonow, Stück ohne Namen) auf den Bühnen der Welt gespielt werden, und die Wissenschaft wird darin mit Staunen wahrlich innovative Züge entdecken, die bereits auf Die Möwe und den Kirschgarten hindeuten und Tschechow zum ersten russischen Bühnenautor der Moderne machen. 

Die Steppe – zweites Debüt

Anton Tschechow / Gemälde von Ossip Braz, 1898Mitte der 1880er Jahre entfernt sich Tschechow allmählich von der Boulevardpresse und beginnt, für seriöse Zeitungen und Zeitschriften zu arbeiten. Seine Erzählungen erscheinen nun regelmäßig in einer der wichtigsten russischen Zeitungen – Nowoje Wremja. Im März 1888 wird die Erzählung Die Steppe gedruckt. Obwohl Tschechow bereits sechs Erzählbände gefüllt hatte, nannte er diese Erzählung sein Debüt. Heute zählt Die Steppe längst zu den Klassikern und gilt als selbstverständlich und nichts Besonderes. Doch die Zeitgenossen erstaunte die Schlichtheit der Geschichte und, wie es damals schien, das Fehlen jeglicher Handlung. 
Eine Geschichte über die Fahrt eines neunjährigen Jungen namens Jegoruschka von einer Provinzstadt in die andere hätte bislang in der Literatur einfach nicht als Grundlage für ein bedeutendes Werk dienen können. Außerdem nahmen in den Augen der Zeitgenossen Naturschilderungen überproportional viel Raum in der Erzählung ein. Der betagte Schriftsteller Dimitri Grigorowitsch, der Tschechows Talent schätzte, schrieb ihm: „Ich habe Ihre Steppe gelesen und möchte nur eines sagen: Der Rahmen ist zu groß für das Bild, die Größe der Leinwand entspricht nicht dem Sujet.“  

Für Tschechow war die Beschreibung der Steppe jedoch nicht der Rahmen, sondern der hauptsächliche Inhalt der Erzählung. Bis heute gilt Die Steppe als sein heiterstes Werk, das deutlich zum Ausdruck bringt, dass die Natur für Tschechow das Ideal darstellt – sie folgt ihren eigenen Gesetzen von Schönheit, Harmonie und vor allem Freiheit. Gerade in dieser Befreiung von Handlungskonventionen, von gewohnten Charakterisierungen der Figuren, von üblichen Dialogformen liegt die Innovationskraft von Tschechows Prosa, die später auch in seine Dramen einfloss. 

Insel Sachalin

Ende der 1880er, Anfang der 1890er beginnt die Blüte im Können Tschechows: Er galt nun nicht mehr als junges Talent, sondern als etablierter Meister. Reihenweise erschienen Sammelbände mit seinen Erzählungen, für einen davon – In der Dämmerung – wurde er mit dem renommierten Puschkin-Preis ausgezeichnet. Mit Erfolg wurde auch Tschechows Drama Iwanow aufgenommen – zuerst auf der Bühne eines privaten Moskauer Theaters, dann im zaristischen Alexandrinski-Theater in Petersburg. 

Auf dem Höhepunkt seiner belletristischen und dramaturgischen Erfolge reiste Tschechow auf die Insel Sachalin, die die Regierung zu einem Ort der Zwangsarbeit und Verbannung gemacht hatte. Sogar Verwandte und Freunde waren überrascht von dieser Entscheidung. Doch Tschechow war schon lange der Meinung, dass sich ein gewisser Stillstand in sein Leben geschlichen habe und er sich „Feuer unterm Hintern“ machen müsse. Außerdem spürte er, dass er als Schriftsteller neue Themen und Einblick ins russische Leben brauchte. 

Von Anfang an war ihm klar, dass die Reise nach Sachalin eine ununterbrochene sechsmonatige Arbeit bedeuten würde – physisch und geistig. Und so kam es auch. Tschechow bahnte sich einen Weg durch ganz Sibirien, 4000 Werst davon auf Pferden  durch den Frühjahrsschlamm. Auf Sachalin führte er innerhalb von drei Monaten eine Volkszählung aller Inselbewohner durch. Ergebnis dieser Reise war Tschechows umfangreichstes Buch: Die Insel Sachalin (1895). Kein literarisches Werk, sondern ein dokumentarisches Buch – ein Genre, im 20. Jahrhundert „Zeugnis“ genannt. Was Tschechow auf Sachalin gesehen hatte, hinterließ einen emotionalen Eindruck, den keine Kunst und keine schöngeistige Literatur zu erzeugen vermochte. Daher galt für den Aufbau dieses Buchs nur ein einziges Strukturprinzip: seine gesamte Erfahrung auf Sachalin bis auf den Grund auszuschöpfen, alles abzubilden, was er dort gesehen hatte, von den Leitern der Zwangsarbeiter bis hin zu den schrecklichsten Gefängnissen. 

Leben mit dem Volk

Bald nach seiner Rückkehr von Sachalin kaufte Tschechow ein kleines Landgut in Melichowo, 70 Werst von Moskau entfernt. Dort lebte die Familie Tschechow sechs Jahre lang in einem eingeschossigen Holzhaus. Fast von Beginn seines Dorflebens an übte Tschechow wieder seinen Arztberuf aus. Anlass dazu war eine Choleraepidemie, die sich in Richtung der zentralen Gouvernements ausbreitete. Als Landarzt war er für ein Gebiet mit 26 Dörfern mit einer Gesamtfläche von 250 Quadratkilometern zuständig. Außerdem leistete er den Bauern Hilfe während der Hungersnot. 

Die Medizin ließ seinen Bekanntenkreis enorm anwachsen – in zwei Jahren behandelte er in der Region Melichowo über 1500 Kranke. Außerdem beteiligte sich Tschechow an allen Semstwo-Angelegenheiten – am Bau von Schulen, Krankenhäusern, Bibliotheken, Straßen, Brücken, Postämtern et cetera.    

Das Leben mit dem Volk bewahrte Tschechow vor den damals weit verbreiteten Illusionen der Narodniki: über den besonderen Weg Russlands und den besonderen Charakter von Volksseele und Volksglauben. Die Erzählung Die Bauern (1897) baut auf der Darstellung von vollkommener Verelendung und Niedergang auf, auf der Aussichtslosigkeit des dörflichen Lebens. In der Folge setzte Tschechow das Thema Bauern fort und verwies auf den Graben zwischen Intelligenzija und Volk (Das neue Landhaus, 1899) und auf die Ungleichheit im Dorf (In der Schlucht, 1900). Obwohl ihm das ganze Elend des bäuerlichen Lebens bewusst war, war Tschechow nie ein Anhänger der Revolution. Seine Hoffnungen setzte er in technischen Fortschritt, schrittweise politische Reformen und Aufklärung.

Jalta

1898 musste der schwerkranke Tschechow nach Jalta übersiedeln. Diese Stadt mochte er nicht, es zog ihn nach Moskau, ins Ausland, hinein ins reiche kulturelle Leben. Doch seine Krankheit – er litt an Tuberkulose – zwang ihn, fern seiner Freunde zu bleiben, fern seiner Frau, der Schauspielerin Olga Knipper, und fern des Moskauer Künstlertheaters – dem war es gelungen, das in Petersburg gescheiterte Stück Die Möwe wiederaufzunehmen und jenes Potenzial der tschechowschen Dramatik freizulegen, das in der Folge die ganze Welt eroberte.  

In seinen Jahren in Jalta arbeitete Tschechow wenig – aufgrund seiner Krankheit schaffte er nicht mehr als ein paar Zeilen am Tag. Auch die vielen Gäste hielten ihn ab, die permanent und scharenweise den berühmten Schriftsteller besuchten, um ihn um Rat zu fragen, sich über seine Bücher auszutauschen oder einfach ihre Eitelkeit zu pflegen. Trotzdem gehört fast alles, was in Jalta entstand, zu den großen Werken der russischen und der Weltliteratur: die Erzählungen Jonytsch, Herzchen, Der Bischof und Die Braut und die Theaterstücke Drei Schwestern und Der Kirschgarten. Direkt mit Jalta zu tun hatte nur eine Erzählung: die berühmte Dame mit dem Hündchen. Das Ende dieser einfachen Geschichte klingt mäßig optimistisch: Den Helden scheint, dass alles wirklich Schwere und Schwierige in ihrem Leben erst beginnt. Tschechows eigenes Leben endete bald danach im Alter von 44 Jahren in dem deutschen Kurort Badenweiler, doch sein Ruhm stand tatsächlich erst am Anfang. 
 
Bereits in den 1920er Jahren wurden Tschechows Dramen auf der ganzen Welt aufgeführt; jede Inszenierung forderte Regisseure wie Schauspieler dazu heraus, ein Meisterstück zu schaffen. Kaum ein großer Regisseur, der sich nicht irgendwann einmal an Tschechows Dramaturgie versucht hätte. Das Theater entdeckte die erstaunliche Biegsamkeit von Tschechows Texten, die geradezu gegensätzlich gelesen und inszeniert und an jede persönliche Situation oder historische Epoche „angepasst“ werden können. Allmählich fand er auch als Prosa-Autor Anerkennung, seine späten Erzählungen wurden als Meisterwerke der Kurzprosa in den Kanon aufgenommen. Heute ist Tschechow unbestritten ein Klassiker und ein Schriftsteller, bei dem  Menschen aus den verschiedensten Kulturen etwas finden, was sie angeht. 


POSTSKRIPTUM ZUR TSCHECHOW-REZEPTION IN DEUTSCHLAND

Die Tschechow-Rezeption in Deutschland ist zunächst, im Grunde bis zu seinem 100. Geburtstag im Jahr 1960, von vorwiegend stilentstellenden Übersetzungen geprägt. Im Jahr 1966 erschien dann die Dissertation von Klaus Bednarz Theatralische Aspekte der Dramenübersetzung. Dargestellt am Beispiel der deutschen Übertragungen und Bühnenbearbeitungen der Dramen Anton Cechovs. Diese bildete die Grundlage für einen Neuansatz der Rezeption Tschechows im deutschen Sprachraum, die mit einer Neuübersetzung seines Werkes einhergehen musste.
Tschechow selbst fordert, Sprache möge einfach und ausdrucksstark sein und man möge kurz schreiben. Ferner fordert er Reinheit und Sinnschärfe der Sprache sowie Musikalität und Wohlklang. Eine ähnliche Strenge findet man in der Struktur seiner Werke. All das fand sich in den teilweise heftig verlängerten Übersetzungen bis 1970 nicht. 
Erstmals dem tschechowschen Stil gerecht wurde die Übersetzung von Peter Urban, die 1974 editorisch sehr sorgfältig im Diogenes Verlag erschienen ist. Zuweilen wird sie als zu nüchtern bezeichnet. Doch was heißt eigentlich zu nüchtern? 

 

Zum Weiterlesen
Hielscher, K. (1984): Die Rezeption A. P. Cechovs im deutschen Sprachraum seit 1945, in: Gierke, W./Jachnow, H. (Hrsg.): Aspekte der Slavistik: Festschrift für Josef Schenk, München, S. 73-101
Bednarz, K. (1969): Theatralische Aspekte der Dramenübersetzung. Dargestellt am Beispiel der deutschen Übertragungen und Bühnenbearbeitungen der Dramen Anton Cechovs, Wien
 
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