Nahezu 75 Prozent der Bevölkerung in Russland unterstützt die sogenannte „Spezialoperation“ – den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada hat diese Zahlen ermittelt. Warum sind so viele Russen für den Krieg? Und kann man diesen Zahlen überhaupt trauen? Mit Verweis auf mutige Akte des Protests ziehen manche Soziologen wie der Moskauer Grigori Judin die Aussagekraft von Umfragen in autoritären Systemen generell in Zweifel, und während eines Krieges erst recht. Die Lewada-Soziologen dagegen betonen, dass Umfragen durchaus eine Tendenz anzeigen.
Als Gründe für die Zustimmung oder den ausbleibenden Massenprotest nennen Soziologen neben der Wirkung der Propaganda vor allem eine über Jahre im autoritären System erlernte apolitische Haltung und Atomisierung.
Lew Gudkow, Vize-Direktor des Lewada-Zentrums, sieht im Interview mit Meduza „eine sehr bequeme Form der demonstrativen Identifikation mit dem Staat, bei gleichzeitiger völliger Zurückweisung der eigenen Verantwortung für die Mittäterschaft an dessen Verbrechen“. Weil der Staat, und nicht ein bürgerschaftliches Selbstverständnis die kollektive Identität stifte, hätten viele Russen ein Problem damit, sich gegen ihn zu stellen.
Die „Spezialoperation in der Ukraine“ darf von Gesetzes wegen nicht als „Krieg“ bezeichnet werden. Noch dazu werden unterschiedliche Erklärungen von seiten des Staates geliefert, weshalb es überhaupt dazu gekommen sei: wegen der Aggression des Westens, der notwendigen „Entnazifizierung“ der Ukraine und/oder des Donbass. Diese unterschiedlichen Deutungen stifteten aber auch Verwirrung – und die wiederum mache viele für weitere Propaganda nur noch zugänglicher, so Gudkow.
Warum sind so viele Russen für den Krieg? Das fragt auch der Lyriker und Übersetzer Sergej Samoilenko – und zwar im Hinblick auf seinen eigenen Freundeskreis. Und beschreibt eine Entwicklung, für die er selbst keine Erklärung finden kann.
Sein sehr persönlicher Text ist noch vor der „Teilmobilmachung“ und den weiteren Annexionen ukrainischen Territoriums im Projekt Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder entstanden.
Der 24. Februar 2022 hat mein Leben in Stücke gerissen. In lauter kleine Splitter. Trümmer. Die Raketenangriffe auf die Ukraine haben die Welt, in der wir lebten, zerstört. Entsetzen, Scham, Angst, Hass, das Gefühl, in einem schlechten Traum zu sein, aus dem man aufwachen will und nicht kann. Seit Monaten ein unaufhörliches Dröhnen im Kopf, das man abstellen will und nicht kann. Das Bewusstsein ist zerborsten, du versuchst, die Einzelteile einzusammeln, hältst ein Bruchstück an das andere, versuchst sie wie ein Puzzle zusammenzufügen. Es geht nicht.
Ich fürchte, es lässt sich nicht mehr kitten
Ein paar Tage vor dem Krieg bat mich meine Schwiegermutter, ein Familienerbstück zu reparieren – von der Porzellanfrau im Folklorekleid war der Krug abgebrochen. Es war übrigens ukrainische Tracht. Ich klebte es mit Sekundenkleber an, aber die Bruchstelle blieb sichtbar. Vor kurzem ist der Krug wieder abgebrochen. Ich fürchte, es lässt sich nicht mehr kitten.
Makejewka
Geboren wurde ich in Makejewka, nicht weit von Donezk, meine Familie lebte dort, bis ich acht war. Danach zogen wir nach Sibirien, tauschten den Donbass gegen den Kusbass ein, mein Vater war Bergmann. Unser Nachname ist ukrainisch, aber gebürtig stammte mein Vater aus der Gegend bei Woronesh – das ist nicht weit von der ukrainischen Grenze, quasi nebenan, man spricht dort Surshyk. In der Schule wurde ich als Chochol gehänselt, aber nur zum Spaß: Im Schmelztiegel Sibirien kommen alle möglichen Nationalitäten zusammen. Und mit der Zeit ist auch mein frikatives „g“ verschwunden.
In Makejewka wohnten wir im Bezirk Chanshenkowo, das war damals eine eigenständige Siedlung – gleich hinter der vierstöckigen Chruschtschowka lagen das Maisfeld und die Müllhalde. Ich war nie wieder dort, außer in meinen Träumen.
Ich habe nur die erste Klasse in Makejewka beendet, ab der zweiten hätten wir Ukrainisch gelernt. Ich hatte schon mein Lehrbuch, es kam mit mir nach Kemerowo, irgendwann ging es bei einem Umzug verloren. Jetzt lese ich mithilfe des Übersetzungstools auf dem E-Reader Zhadan und Andruchowytsch, vielleicht wage ich mich irgendwann daran, ein paar ihrer Gedichte zu übersetzen.
Nowosibirsk
Ein paar Tage vor Kriegsbeginn hatte ich eine Übersetzung von Molières Tartuffe für das Projekt Theatre HD abgeschlossen. Am 14. Januar lief das Stück in der Comedie francaise, inszeniert von Ivo van Hove. Die Produktionsfirma CoolConnections, die das Projekt Theatre HD in Russland betreibt, verwendet oft alte Theater-Übersetzungen, die zum Teil vor hundert Jahren entstanden sind, deshalb wirken moderne Klassik-Inszenierungen, gelinde gesagt, archaisch. Und die Tartuffe-Übersetzung hatte ich schon vorliegen … Jedenfalls freute sich das Theater über meinen Vorschlag, und ich tüftelte etwa sechs Wochen an der Überarbeitung, kürzte, schrieb um … Es ist gut geworden.
Die Premiere in Nowosibirsk fand am 9. März statt, da war natürlich niemandem mehr nach Tartuffe … Ich erzählte vor fünfzig Zuschauern nervös irgendwas von Molière, von meiner Arbeit an der Übersetzung, vom Widerstand gegen die Barbarei, versuchte, das Wort „Krieg“ zu vermeiden
Nach der Vorstellung stießen wir im Café des Kinos im kleinen Kreis mit einem Glas Wein an. Ich fing an, mit der Prorektorin des Theaterinstituts (ich nenne sie mal Jana), mit der ich gut befreundet war, darüber zu sprechen, wie schrecklich alles ist, wie unangebracht diese Premiere jetzt wirkt – und hörte plötzlich von ihr, dass wir keine Wahl gehabt hätten, dass sie acht Jahre lang die Menschen im Donbass umgebracht hätten, dass Russland den Donbass beschützen müsse … Ich sprach von zerbombten Städten und zivilen Opfern – und musste zu meinem Erschüttern hören, dass „diese Nazis sich selbst beschießen“ würden … Und von den amerikanischen bakteriologischen Laboren hörte ich auch …
Ich versuchte sie erst zu überzeugen, dann schrie ich, dann schwieg ich und trank Whisky, ich schlotterte am ganzen Körper, mir war schlecht, es tat mir körperlich weh.
Es ist nicht nur so, dass ich nicht erwartet hätte, so etwas ausgerechnet von ihr zu hören, ich konnte vielmehr nicht glauben, dass ich das überhaupt höre.
Ich versuchte sie erst zu überzeugen, dann schrie ich, dann schwieg ich und trank Whisky, ich schlotterte am ganzen Körper
Wir kennen uns schon eine Ewigkeit, seit Ende der 1980er, als Jana Studentin der Philologischen Fakultät war, intelligent, lustig, sie hatte etwas von der jungen Tatjana Drubitsch, der Filmschauspielerin, sie liebte Poesie … Sie schrieb ihre Dissertation über Brodsky, holte mich Ende der 1990er aus Arzamas, wo es mich mit meiner Familie hin verschlagen hatte (ich mochte den poetischen Namen der Stadt) und wo ich mich als Packer, Hausmeister und Nachtwächter verdingen musste, weil ich in dieser Kleinstadt, in der jeder jeden kennt, weder am Institut noch in der Regionalzeitung, ja nicht einmal bei der Betriebszeitung einen Job bekam … Ich schrieb Gedichte und verdiente schmales Geld, indem ich Möbel schleppte, in einem Kindergarten Nachtwache hielt und das Laub der Kirsch- und Apfelbäume wegfegte, bis Jana meinen ehemaligen Universitätsprofessor überredete, mich als Doktorand aufzunehmen – und ich kehrte nach Kemerowo zurück.
Ich war bis über beide Ohren in sie verliebt, zog wegen ihr nach Nowosibirsk, quälte sie und mich zwei Jahre lang mit meiner Eifersucht, machte ihr Szenen, aber wir schafften es irgendwie, unsere Freundschaft und sogar Zuneigung zueinander zu bewahren. Wenn ich irgendwem ein Gedicht zeigen wollte, dann war es immer sie … Sie lebt seit zehn Jahren in Scheidung, ich bin seit acht Jahren verheiratet; sie machte Karriere, ich blieb ein brotloser Künstler, aber das hinderte uns nicht daran, befreundet zu sein und einander zu verstehen …
Wie kann ein intelligenter, feinsinniger, gebildeter Mensch den Krieg rechtfertigen?
Was ist passiert? Wie kann ein intelligenter, feinsinniger, gebildeter Mensch, der mehrere Sprachen spricht, das Ausland bereist hat, die Literatur liebt und selbst schreibt, den Krieg rechtfertigen, einen Überfall auf einen anderen Staat, Mord und Zerstörung? Wie kann er ihn damit rechtfertigen, dass „wir unsere Leute“ nicht im Stich lassen konnten … Jana besitzt doch nicht einmal einen Fernseher! Woher hat sie diese Phrasen?! Über die Biolaboratorien und die virustragenden Fledermäuse … Als ich einem gemeinsamen Freund am Telefon von unserem Gespräch erzählte, riet er mir spöttisch, ich soll in solchen Fällen antworten, dass sich ein Russe, wenn er von einer solchen Fledermaus gebissen wird, in Batman verwandelt …
Das war für mich wohl die traumatischste Trennungserfahrung. Die persönlichste, intimste; sie verlief nicht entlang einer Sollbruchstelle, sondern wurde mit dem Fleisch herausgerissen. Danach, mit anderen, tat es nicht mehr so weh.
Unter den Unterzeichnern dieses monströsen Briefs zur Unterstützung des Kriegs mit Verweisen auf Alexander Newski und Dimitri Donskoi, waren auch Bekannte von mir – ich wage nicht mehr sie als „Freunde“ zu bezeichnen.
Du kannst zwar deine Kontakte auf Facebook entfrеunden, aber doch brennt etwas in deinem Inneren – mein Gott, wo kommen die alle her?
Einen älteren von ihnen kannte ich aus einem Literaturverein in Kemerowo, dem ich mich in meinem früheren Leben nach der Armee angeschlossen hatte – diese Zeit hatte ich bis zuletzt sehr positiv in Erinnerung. Ein anderer, jünger als ich, hat mir gewissermaßen seinen Erfolg als Lyriker zu verdanken. Wir hatten viel und freundschaftlichen Kontakt, er fing gerade an zu schreiben, ich zeigte ihm Gedichte von Jeremenko, Shdanow und Gandlewski – am Ende studierte er sogar Literatur, veröffentlichte ein paar Bändchen mit gar nicht so schlechten Versen und wurde in der Regionalabteilung des Schriftstellerverbands zum Herausgeber des literarischen Almanachs.
In den letzten zwanzig Jahren habe ich sie nur noch selten gesehen, nur, wenn ich meine alte Heimat besuchte, unsere Wege haben sich längst getrennt. Ich verstehe ja: ein provinzielles Umfeld, hinterwäldlerisch-rechtsextreme Anschauungen (mir war in meiner Jugend einmal wegen Judenfreundlichkeit mit dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband gedroht worden, weil ich ein paar bissige Rezensionen zu regional verehrten Klassikern geschrieben hatte …). Trotzdem unerfreulich.
Du kannst zwar deine Kontakte auf Facebook entfrеunden, aber doch brennt etwas in deinem Inneren – mein Gott, wo kommen die alle her? Warum hat diese Bekannte, die deine Lyrik so schätzt, einen dermaßen blutrünstigen Hass auf die Ukraine?
Das Kriegsgetöse hallt im Schädel wider
In meinem Kopf klirrt es die ganze Zeit. Natürlich hat das mit dem Alter und dem Blutdruck zu tun, aber da ist noch etwas, das Kriegsgetöse hallt im Schädel wider. Ununterbrochen diskutiere ich in Gedanken, argumentiere, versuche zu überzeugen, im Traum wie im Wachzustand, meine Gedanken ergeben kein klares Muster. So kann ich an nichts anderes denken, mich nicht konzentrieren. Ich kann keine Gedichte schreiben, es schnürt mir die Kehle zu und lässt nicht locker.
Das Einzige, was mir hilft, sind meine Übersetzungen, in die ich mich vertiefe und mir einrede, dass sie noch gebraucht werden, zwar nicht jetzt, aber nach dem Krieg, nichts ist umsonst, das wird alles noch gebraucht werden. Wobei man natürlich nicht umhinkommt sich zu fragen, wann das denn sein wird, diese Zeit nach dem Krieg.
Meinen Zustand erklärte mir ein technisch bewanderter Bekannter: Es ist genau das, was man unter dem Begriff „Kontaktprellen“ versteht – ein kurzer Effekt in elektromechanischen Apparaten beim Ein- oder Ausschalten. Da passiert ein mehrfaches, unkontrolliertes Öffnen und Schließen der Kontakte.
Dieses „Kontaktprellen“ erschöpft, verblödet, zehrt an den Kräften.
Reale Begegnungen kosten ebenfalls eine enorme Überwindung. Zudem hast du einfach Angst, auch noch so gute Bekannte zu treffen – womöglich hörst du, dass „alles nicht so eindeutig“ sei – und das noch im besten Fall. Im schlimmsten Fall gratuliert dir ein guter Kumpel zum Geburtstag, Fotograf an der Oper, der fast alle Arbeiten der sibirischen Künstergruppe Die blauen Nasen mitgestaltet hat, mit dem du selbst Ausstellungen gemacht hast, noch dazu so radikale wie die Vereinigten Staaten von Sibirien. Mittlerweile ist er in einem Video mit dem halben Hakenkreuz-Symbol Z im Hintergrund aufgetreten …
Doch auch Kino, Theater, Ausstellungen, Cafés fügen dir solche Schmerzen zu, als hätte man dir die Haut abgezogen. Wie kann man sich Filme ansehen, Musik hören, Wein trinken, Fliederduft atmen, die Pfingstrosenblüte bewundern? Der Flieder war dieses Jahr betörend wie nie zuvor, richtig widerlich, und die Pfingstrosen zum Kotzen schön …
Jetzt verstehe ich, was ein Huhn fühlt, dem der Kopf abgeschlagen wurde und das noch über den Hof rennt
Ich habe keine Erklärung, wie man zum Zombie wird und woran es liegt: am Fernsehen, an der Nähe zur Regierung, am sozialen Umfeld, an der Mehrheitsmeinung? Natürlich ist immer alles individuell, aber für mich ist offensichtlich, dass weder Bildung noch Vernunft, weder Geschmack noch Wahrheitsliebe noch geistig-seelische Qualitäten eine Impfung dagegen sind. Was kann die Abwehrkräfte stärken? Kritisches Denken? Misstrauen? Intellekt? Empathie? Ich weiß keine Antwort.
Während ich kürzlich noch verstand, „was die Maus fühlt, wenn sie die Luft aus dem Glaskasten saugen“ – wie es in Sergej Tschudakows Gedicht heißt –, verstehe ich jetzt, was ein Huhn fühlt, dem der Kopf abgeschlagen wurde und das noch über den Hof rennt. Ich bin mir nicht sicher, was mir dieses Wissen bringt.
In der Technik gibt es mehrere Möglichkeiten, das Prellen zu unterbinden. Eine ist es, die Kontakte zu unterbrechen, bis eine stabile Verbindung (oder eine stabile Entkopplung) hergestellt ist. Eigentlich ist es dieses Szenario, das ich intuitiv umzusetzen versuche. Ich suche den Kontakt zu jenen, bei denen ich mir hundertprozentig sicher bin, denen ich vertraue, von denen ich nicht höre „ist alles nicht so eindeutig“. Ich verkleinere meinen Bekanntenkreis, werde zum Einsiedler, verschanze mich im Sommer auf der Datscha, im Winter in der Küche, übersetze Molière und Marivaux, schreibe für die Schublade …
Was das Kontaktprellen betrifft … Jana und ich sind immer noch Freunde. Wir treffen uns manchmal, trinken Kaffee, weichen dem wichtigsten Thema aus. Ich weiß, dass sie nicht so gemein ist, mich zu denunzieren, dass sie nicht für eine offenkundige Abscheulichkeit stimmen würde. Als meine Frau wegen ihrer Unterschrift auf einem offenen Brief gegen den Krieg und wegen mehrerer Antikriegspostings auf Facebook von ihrem Posten als Theaterdirektorin gekündigt wurde, bot Jana ihr (und auch mir) an, ab nächstem Schuljahr am Institut zu unterrichten. Ich weiß, dass sie alles tut, was sie kann, um uns zu helfen und uns zu unterstützen.
Allerdings bin ich mir nicht so sicher, dass das auch nur vorübergehend eine Lösung ist: Julia steht garantiert auf der schwarzen Liste, und ich erscheine, nachdem ich den Preis der Zeitschrift Sibirskije ogni abgelehnt habe, die auf ihre Titelseite ein Z gepappt hat, sicher auch nicht im besten Licht. Ich fürchte, da ist nichts zu retten.
Leben muss ich trotzdem in einem offen faschistischen Staat, mit Blutsaugern und Hyänen oder zahnlosen Spießern, ich muss dieselbe Luft atmen wie sie, dieselben Straßen benutzen. Und das wird immer unerträglicher. Und auch gefährlicher.