US-Fotograf Nathan Farb hatte die Gelegenheit, in den 1970er Jahren in der Sowjetunion zu fotografieren: Im Rahmen einer Ausstellung über US-amerikanische Fotokunst fotografierte er etwa 5000 Porträts. Jetzt kehrt er zurück und sucht nach den Menschen auf seinen Fotos. Die Kinobrigada, ein Filmteam aus Frankfurt am Main, begleitet ihn dabei. Hessen Film und Media fördert das internationale Projekt. Die Fotos werden dafür auch über Social Media verbreitet, einige Menschen haben schon sich selbst, Freunde oder Verwandte darauf wiedererkannt.
Lera Schwez hat für Meduza mit Nathan Farb gesprochen – über seine Eindrücke damals, seine Art zu fotografieren und warum er findet, dass die Menschen in Nowosibirsk denen im Mittleren Westen der USA ziemlich ähnlich sind.
Lera Schwez: Wie kamen Sie in den 1970er Jahren in die UdSSR?
Nathan Farb: Ich musste regelrecht betteln. Aus Sicht der amerikanischen Informationsagentur USIA, die diese Reise organisiert hat, war ich ein Niemand. Ich hatte kaum Erfahrung, hatte nur ein paar Ausstellungen gemacht. Ich unterrichtete an der Rutgers University, gab dort einen Foto-Kurs; ich war nicht besonders bekannt, habe auch für keine große Organisation gearbeitet. Ich war völlig unabhängig. Ausgewählt wurden [für die US-Delegation] entweder bekannte Leute oder, nun ja, Fotografen von National Geographic.
Ich hatte damals die Idee mit den Polaroid-Aufnahmen. Suchte mir Filme, die gleichzeitig Positiv- und Negativbild erzeugen, und fing an zu fotografieren. Wenn du als professioneller Journalist oder Künstler jemanden fotografierst, kommt etwas anderes dabei heraus, als wenn du es für die Person selbst tust. Wenn du etwas machst, das du ihnen geben kannst, bekommst du ein besonderes Ergebnis. Das klingt einfach, aber ich habe Jahre gebraucht, bis ich das verstanden habe.
Und dieses Verfahren wollten Sie auch in der UdSSR einsetzen?
Genau. Ich landete zwar zunächst auf der Warteliste, wurde aber am Ende genommen, weil jemand anderes abgesagt hatte. Etwa drei Wochen vor der Abreise bekam ich einen Anruf: „Wollen Sie immer noch nach Nowosibirsk?“ Ich sagte: „Klar!“
Wissen Sie, im Leben gehört auch immer etwas Glück dazu.
Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Eindrücke?
Als ich gerade erst in Nowosibirsk angekommen war und die Menschen traf, war ich erstaunt. Wenn ich zum Beispiel zu jemandem nach Hause kam, sah ich dort eher untypische sowjetische Kunst, so was a lá Rodtschenko. Ich fragte, wie ist das denn einfach so möglich, und sie lachten: „Wir sind sehr weit weg von Moskau.“ In Nowosibirsk, habe ich bemerkt, dass alle Industriegesellschaften etwas gemeinsam haben. Das [politische] System spielt gar nicht wirklich eine Rolle. Zum Beispiel war die Scheidungsrate in Russland und den USA damals gleich hoch.
Welche Gemeinsamkeiten gab es noch?
Die Sowjetunion war als klassenlose Gesellschaft aufgebaut. Aber ich sah sofort, dass es in der UdSSR verschiedene Typen von Menschen und auch unterschiedliche Klassen gab.
Außerdem hatte ich den Eindruck, dass die Menschen in Nowosibirsk sehr den Menschen im Mittleren Westen der USA ähnelten. Sie sind nicht so prätentiös wie in New York oder Kalifornien. Ich war froh, dass ich ausgerechnet in Nowosibirsk gelandet war und nicht in Moskau oder St. Petersburg. Ich fand, dass ich auf diese Weise dem normalen Leben der Sowjetmenschen näher kam.
Waren Sie lange dort?
Ich glaube, sechs Wochen. Ich bin jeden Tag in die Ausstellung [amerikanischer Fotokunst, die in Nowosibirsk gezeigt wurde – dek] gegangen, sie war riesig. Ich habe gehört, es waren täglich 5000 bis 10.000 Besucher da.
Wie verlief Ihre Arbeit dort in der Ausstellung?
Ich habe in einem Studio gearbeitet. Die Menschen kamen dorthin und warteten, bis sie fotografiert wurden. Ich nahm mir so viel Zeit, wie ich brauchte.
Haben die Menschen, die Sie fotografiert haben, versucht, mit Ihnen ins Gespräch kommen?
Viele kamen einfach, um zu sehen, wie ich arbeite. Sie hatten noch nie ein Polaroid gesehen. Sie bekamen ihr Bild sofort und konnten es mit nach Hause nehmen. Das war etwas völlig Neues.
Mit einigen russischen Fotografen habe ich mich unterhalten. Sie sagten: „Oh, wir sind viel fortschrittlicher, wir machen schon alles in 3D.“
Aber die amerikanische Fotografie bewegte sich damals in eine etwas andere Richtung – sie erforschte, was psychisch in den Menschen vor sich ging. Technische Aspekte, so etwas wie 3D, interessierten mich damals nicht so sehr. Ich war eben Teil der amerikanischen Kultur.
Was haben Sie in den Sowjetmenschen aus Nowosibirsk gesehen, die bei Ihnen vor der Kamera standen?
All diese Menschen waren in einer bestimmten Lebensphase, ich sah sie an und versuchte zu erahnen, was sie über sich erzählen. Wir verbergen immer etwas, das liegt in der Natur des Menschen.
Miteinander gesprochen haben wir wenig, aber viele Emotionen ausgetauscht.
Welchen Eindruck hatten Sie nach sechs Wochen in Nowosibirsk von der sowjetischen Gesellschaft?
In gewisser Hinsicht erschien sie mir der US-amerikanischen sehr ähnlich. Mehr als ich gedacht hätte. Aber damals gab es zwei Pole. Auf der einen Seite war da die US-amerikanische Propaganda, die alle [Sowjetbürger] als völlig gequält und unterdrückt darstellte. Auf der anderen stand die Sowjetpropaganda, mit traktorfahrenden Frauen, und so – alle sind gleichberechtigt und jeder leistet seinen Beitrag zum Aufbau der klassenlosen Gesellschaft. Diese zwei Narrative gab es, aber keines davon passte zu dem, was ich sah.
Waren Sie auch bei jemandem zu Hause zu Besuch?
Während meines Aufenthalts habe ich drei, vier Menschen kennengelernt. Mir ging es ja hauptsächlich ums Fotografieren.
Aber es gab da eine junge Frau – die würde ich übrigens sehr gern finden und erfahren, was aus ihr geworden ist – mit sehr langen Zöpfen. Sie war damals noch ein Teenager. Sie erzählte mir, sie sei Künstlerin, und zeigte mir ein paar Zeichnungen. Man nannte sie Zöpfchen. Einmal habe ich sie zum Mittagessen eingeladen. Für uns Amerikaner gab es ein spezielles Restaurant, es hieß, das Essen dort sei wesentlich besser. Danach hat der Mann, der dafür zuständig war, mich zu beaufsichtigen, der amerikanischen Delegation gemeldet, ich hätte mit ihr zu Mittag gegessen, und das sei inakzeptabel.
Sie sagten, Sie hätten es geschafft, die Negative der Portraits per Diplomatenpost außer Landes zu bringen. Komisch, dass es keiner in Ihrem Umkreis mitbekommen hat, nicht einmal der Geheimdienst, der sie überwachte.
Manche Techniker wussten, was ich mache, sie haben mir ja geholfen, die Filme zu reinigen. Deswegen bin ich nicht davon überzeugt, dass keiner etwas wusste. Bei der Ausreise aus der UdSSR wurde am Flughafen mein Gepäck kontrolliert. Da kam der [Zoll-]Chef und sagte: „Seine Negative haben die Sowjetunion schon verlassen.“ Es hat also definitiv jemand davon gewusst.
Was passierte danach, als Sie in die USA zurückkehrten?
Ich habe mich sofort darangemacht, die Fotos zu vergrößern. Mir war klar, dass ich einmaliges Material aus der UdSSR hatte. Dann reiste ich nach Europa. Ich fuhr mit einem Eurail-Ticket von Hauptstadt zu Hauptstadt und bot den renommiertesten Zeitschriften meine Fotos an. Viele haben welche gekauft, alle fanden es interessant.
Später hat ein Bekannter von mir, ein Kunsthistoriker, meine Arbeiten seinem Verlag gezeigt. So ist der Bildband The Russians entstanden.
Glauben Sie, es ist Ihnen gelungen, den Zeitgeist der Menschen in der damaligen Sowjetunion einzufangen?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich habe mich bemüht, unterschiedliche Menschen zu zeigen, einschließlich ziemlich seltsamer Gestalten, oder freundlicher gesagt, Sonderlingen.
Nehmen wir zum Beispiel den Jungen mit der Sonnenbrille und dem langen Mantel. Das ist ein sehr interessanter Fall. Er sah vollkommen gewöhnlich aus. In den USA würde man sagen, das ist ein Junge, der nur Weißbrot isst. Ich meine so Industriebrot. Seine Mutter stand jeden Tag lange dort an und winkte mir zu: „Bitte fotografieren Sie meinen Jungen!“ Eine Woche stand sie so da, vielleicht sogar zehn Tage. Am Ende willigte ich ein. Da zieht sie ihm plötzlich ihren Mantel an und setzt ihm ihre Sonnenbrille auf. Keine Ahnung, warum! Später hat sich gezeigt, dass sich viele genau so einen [typischen] sowjetischen Jungen vorstellen. Sie hat mir diese Aufnahme quasi geschenkt.
Wie kamen Sie auf die Idee, jetzt noch einmal nach Russland zu fahren?
Es war nicht meine Idee, sondern die des Schriftstellers Andrej Filimonow und seiner Freunde von der Filmtruppe Kinobrigada aus Frankfurt. Sie haben den Artikel in der New York Times gelesen, Kontakt zu mir aufgenommen und gefragt, ob ich Interesse hätte, noch einmal nach Russland zu fahren. Ich dachte mir, es könnte wieder ein Abenteuer werden und sagte ja.
Je näher die Reise rückt, desto nervöser werde ich, denn ich habe viele Fragen, auf die ich noch keine Antwort weiß. Ich muss zum Beispiel lernen mit der Digitalkamera zu arbeiten. In den letzten Monaten verbringe ich mehrere Stunden täglich damit und übe. Die Ausrüstung, mit der ich 1970 gearbeitet habe, gibt es nicht mehr. Aber ich möchte den Leuten die Aufnahmen wieder gleich vor Ort mitgeben.
Wenn Sie sich auf einem Foto von Natan Farb wiedererkannt haben oder er Sie 1977 in Nowosibirsk bei der Ausstellung „Fotokunst aus den USA“ fotografiert hat und Sie auch an seinem neuen Projekt teilnehmen möchten, melden Sie sich bei Anatoli Skatschkow: NKnop@kinobrigada.net
Fotos: Nathan Farb
Interview: Lera Schwez
Bildauswahl: Franziska Schmidt
Übersetzung: Maria Rajer und Jennie Seitz
veröffentlicht am 14.09.2018