Narodnaja Wolja
Narodnaja Wolja
Bereits der Name klingt ein bisschen nach Revolution – oder zumindest nach einer Kampfansage: Narodnaja Wolja, zu deutsch: Volkswille. So heißt die unabhängige Zeitung, die seit 1995 in Belarus herausgegeben wird. Sie zählt zu den kritischen Medien im Land, die Regierungsgegnern eine Plattform bietet. Das kann sie seit dem Krisenjahr 2020 nur noch online, da sie seitdem im Land nicht mehr gedruckt wird.
Narodnaja Wolja positionierte sich von Anfang an als oppositionelle Zeitung, gegen die Politik des Präsidenten Alexander Lukaschenko. Das hat vor allem mit ihrer Gründungsgeschichte zu tun: Der Journalist Iosif Sereditsch gründete die Zeitung 1995, nachdem er kurz zuvor von Lukaschenko als Chefredakteur der staatlichen Zeitung Narodnaja Gaseta (dt. Volkszeitung) abgesetzt worden war. Sereditsch startete daraufhin mit einem neuen Blatt mit ähnlichem Namen von vorn: Narodnaja Wolja.
Die Zeitung wurde zum Sprachrohr der belarussischen Opposition. Bekannte Lukaschenko-Gegner, wie Andrej Sannikow oder Anatoli Lebedkow, schrieben immer wieder für das Blatt, das seine wöchentliche Auflage auf 150.000 Stück (Stand: 2005) steigern konnte. Mit der gestiegenen Bedeutung wurden aber auch die Probleme mit den belarussischen Behörden größer: Narodnaja Wolja wurde immer wieder mit Gerichtsverfahren überzogen, die hohe Geldstrafen mit sich brachten .
Oft gab es Hausdurchsuchungen, Strafzahlungen und Morddrohungen an die Mitarbeiter der Zeitung. Einige Jahre musste das Blatt im litauischen Vilnius gedruckt werden. Chefredakteur und Gründer Sereditsch sei deswegen mitunter so verzweifelt gewesen, dass er sogar überlegt hätte, die Zeitungen mit Heißluftballonflügen von Litauen aus über den Himmel in Belarus verbreiten zu lassen. Zur Gänze wurde Narodnaja Wolja aber nie verboten, man fand immer wieder neue Wege, um weiterzumachen. 2006 wurde schließlich die Online-Ausgabe gegründet – auch wenn heutige Autoren fast alle aus dem Exil schreiben.
Die heftigsten Repressionen gab es für die Zeitung rund um die Präsidentschaftswahlen 2006 und 2010: Im Herbst 2005 wurde das gesamte Eigentum konfisziert, und die Konten wurden eingefroren. Auf Druck der Behörden konnte die Zeitung nicht mehr in Belarus gedruckt werden. Der OSZE-Beauftragte für Medien schrieb damals sogar an Lukaschenko: „Ich sehe diese Entwicklung als beispiellos in der OSZE-Region an. Belarus wird dadurch zwei Drittel der unabhängigen Medien verlieren, die einzige unabhängige Tageszeitung.“
Wenig später wurde auch ein freier Mitarbeiter der Zeitung, Wasilij Grodnikow, mit einer Kopfwunde tot aufgefunden. Für ihre kritischen Artikel erhielten Mitarbeiter, wie die Redakteurin Swetlana Kalinkina, immer wieder Morddrohungen. Es gab Razzien und Schließungsversuche durch das Informationsministerium. Die Begründung: Verbreitung unwahrer Aussagen.
2010 und 2011 berichtete Narodnaja Wolja intensiv von den Protesten, die sich an den großen Wahlfälschungen bei den Präsidentschaftswahlen entzündet hatten. Wenig später drohte mit einem Gerichtsverfahren, angestoßen vom belarussischen Informationsministerium, wieder einmal die Schließung. Nach einer Tauwetter-Periode in Belarus geriet die Zeitung schließlich rund um die Massenproteste nach den Wahlfälschungen im August 2020 erneut in das Visier der Behörden. Am 26. August 2020 lehnte es die Druckerei in Belarus ab, die Zeitung auch weiterhin zu drucken.
Auf Papier ist sie bis heute (Stand: März 2022) nicht mehr erschienen. Neben der Online-Ausgabe kann sie derzeit nur im pdf-Format gelesen werden. „Sobald das Problem mit der Druckerei gelöst ist, werden wir wieder zur Printversion zurückkehren“, schreiben die Herausgeber auf der Website. „In der Hoffnung auf einen schnellen Wandel, liebe Freunde!“
Text: Simone Brunner
(Stand: März 2022)
Eckdaten
Gegründet: 1995
Chefredakteur: Iosif Serdewitsch (belaruss. Iosif Sjaredsitsch)
URL: https://www.nv-online.info/