Media

Debattenschau № 60: Medien als „ausländische Agenten“

Im Rekordtempo und einstimmig hat die Duma am 15. November 2017 eine Änderung im Mediengesetz verabschiedet: Demnach sollen Medien, die Geld aus dem Ausland erhalten, den Status eines ausländischen Agenten erhalten können. 
Erklärt wurde der eilige Beschluss damit, dass man habe „symmetrisch“ reagieren müssen: Die USA hatten zuvor den russischen Auslandssender RT als ausländischen Agenten eingestuft. Betroffen sind Auslandssender wie die Deutsche Welle oder Voice of Amerika – aber nicht nur.
Das eilig verabschiedete Gesetz – das der Präsident noch unterschreiben muss – ist jedoch so formuliert, dass nicht nur ausländische, sondern auch inländische Medien, die Geld aus dem Ausland erhalten, betroffen sein könnten.

Ist das neue Gesetz auch Druckmittel gegen unabhängige, russische Medien? Wie weit wird die Meinungs- und Pressefreiheit dadurch eingeschränkt? Oder ist alles nur eine adäquate Antwort auf US-amerikanisches Vorgehen?
dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte, die vor allem in den Sozialen Medien geführt wurde.

Source dekoder

Interfax: Im Informationskrieg

Waleri Fadejew, Sekretär der Gesellschaftskammer, hält das neue Gesetz für unabdingbar, wie er der unabhängigen Nachrichtenagentur Interfax sagte:

Deutsch
Original
Meine persönliche Einstellung, nicht als Sekretär der Gesellschaftskammer, sondern als Journalist: Wenn es keinen Informationskrieg (gegen Russland) geben würde, wäre er gar nicht notwendig, dieser Krieg, den nicht wir angezettelt haben. Dies ist eine notgedrungene Entscheidung, aber sie ist richtig.
Мое личное отношение, не как секретаря Общественной палаты, а как журналиста: если бы не было информационной войны (против России), это было бы не нужно, той войны, которую не мы развязали. Это решение вынужденное, но правильное.

 

erschienen am 15.11.2017

Znak: Auge um Auge

Das Portal Znak zitiert den bekannten Journalisten Oleg Kaschin, der sicher ist, dass das neue Gesetz nicht nur ausländische Medien bestraft:

Deutsch
Original
Normalerweise gelingt es Russland nicht unbedingt, „Auge um Auge“ so wörtlich zu nehmen – egal ob übertriebene Gegensanktionen von Lebensmitteln oder etwas Real-Satire, wie „das Verbot der Einreise eines amerikanischen Generals, der sowieso nicht zu uns wollte“. Verschlechtert das die Gesamtsituation? Noch vor fünf Jahren wäre es schnurzpiepegal gewesen. 

Erinnern wir uns, wie Putin ungefähr im Jahr 2000 Jelzins Erlass, Radio Svoboda vergünstigte Mieten zu geben, außer Kraft gesetzt hat – das hat doch überhaupt niemand mitbekommen. Svoboda hat damals keine große Rolle gespielt. Innerhalb der letzten drei Jahre sind sie, genau wie die russische BBC oder die Deutsche Welle tatsächlich zu wichtigen russischen Medien geworden, für die nicht unsere schlechtesten Journalisten arbeiten. Ihr Publikum ist stark angewachsen und investigative Aufhänger [...] sind heute an der Tagesordnung. 
In dieser Situation unterscheidet sich die Rolle der BBC nicht sonderlich von der von RBK. Das heißt die Einschränkungen für Ausländer werden zu Einschränkungen für Russen.

Обычно все-таки у России не получается так буквально брать око за око — либо чрезмерные «антисанкции» с едой, либо что-нибудь карикатурное типа «запрет на въезд американскому генералу, который к нам и так не собирался». Ухудшит ли это ситуацию? Лет пять назад было бы плевать. Можно вспомнить, как Путин чуть ли не в 2000 году отменил указ Ельцина о льготной аренде для радио «Свобода» — этого же вообще никто не заметил, «Свобода» тогда большой роли не играла. А в последние три года и она, и русская BBC, и DW фактически стали важными российскими СМИ, там работают многие наши не последние журналисты, очень выросла их аудитория, и информационные поводы, [...] сейчас случаются регулярно. В этой ситуации роль ВВС не сильно отличается от роли РБК, то есть ограничение для иностранцев станет ограничением для русских [...].

 

erschienen am 15.11.2017

Facebook: Die pure Dummheit – von allen Seiten

Der Journalist Alexey Kovalev kritisiert auf Facebook auch die USA.

Deutsch
Original
Klar, dass das Auftauchen von RT auf der amerikanischen Liste zu einer völlig unverhältnismäßigen Reaktion und zu weiteren Bomben auf Woronesh führt. Also zu einer Hetze gegen Echo Moskwy oder noch eher zur Hetze gegen eine kleine und regionale Website, deren stellvertretender Chefredakteur beispielsweise auf einem internationalen Forum der Deutschen Welle war. [...] 
Auch die amerikanische Reaktion ist absolut unverhältnismäßig. Und von der Flut von Lügen und der Hysterie zu diesem Thema im russischen Fernsehen werden einem die Ohren klingen. Pure Dummheit, von allen Seiten.
Понятно, что попадание RT в американский список вызовет совершенно неадекватную реакцию и очередную бомбёжку Воронежа, то есть травлю условного Эха, или даже скорее маленького регионального сайта, чей замглавред съездил на международный форум Дойче Велле, допустим. [...] И американская реакция [...] абсолютно неадекватна истинному масштабу, и от потоков вранья и истерики из российского телика по этому поводу тоже уши вянут. То есть какая-то тотальная глупость со всех сторон.

 

erschienen am 15.11.2017

Meduza: Punktuelle Gegenmaßnahmen

Das unabhängige Exilmedium Meduza hat den Vizesprecher der Duma Pjtor Tolstoj interviewt. Er war Leiter der Gruppe, die die Gesetzesänderung ausarbeitete. Im Interview versucht er die Kritik zu wiederlegen, es handele sich um einen Gummiparagraphen:

Deutsch
Original
Was die Gesetzesänderung angeht, so gibt es eine Begrenzung: Als ausländischer Agent können ausländische Medien eingestuft werden – oder auch [Medien], die Geld aus dem Ausland erhalten. Wir als gesetzgebende Kraft geben der Exekutive die Möglichkeit, in Bezug auf einige Medien punktuell Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Das betrifft nicht alle, es ist nicht allgemeingültig, es ist kein direktwirkendes Gesetz, sondern ein Rahmen, innerhalb dessen das Justizministerium handeln kann.

Внутри поправок есть ограничитель: иностранным агентом может быть признано иностранное средство массовой информации — или [СМИ] получающее деньги из-за рубежа. Мы как законодатели даем возможность исполнительной власти принимать точечные — ответные — меры в отношении некоторых средств массовой информации. Это не касается всех, это не носит всеобщий характер, это не закон прямого действия, это рамка, внутри которой Минюст может действовать.

 

erschienen am 15.11.2017

Echo Moskwy: Abschreckung als Standard

Galina Timtschenko dagegen – sie ist ehemalige Chefredakteurin von Lenta.ru und inzwischen Geschäftsführerin vom Exilmedium Meduza – fürchtet im Radiosender Echo Moskwy weitreichende Konsequenzen:

Deutsch
Original
Das Furchtbare daran ist, dass wir nichts vorhersagen können. Wir verstehen einfach nur sehr sehr gut, dass es eine willkürliche Rechtssprechung gibt. Wen man zum Feind erkoren hat, den bekämpft man bis aufs Blut. Wen nicht, nun, der kommt davon. Das ist Standard, dass mit Abschreckung gearbeitet wird.
Весь ужас в том, что мы не можем прогнозировать ничего. Мы просто прекрасно понимаем, что есть избирательное правоприменение. Кого назначат врагами, с тех и будут драть три шкуры. Кого не назначат — ну, пронесет. Это очень стандартная ситуация с запугиванием.

 

erschienen am 15.11.2017

Kommersant FM: Schwierige Zeiten

Auch Dimitri Drise, Politkommentator bei Kommersant FM, zeichnet ein düsteres Szenario für Medien, die den Status ausländischer Agent haben.

Deutsch
Original
Durchaus verständlich, dass nicht jeder zu solchen Publikationen beitragen will [die den Status eines ausländischen Agenten haben – dek], Interviews geben, Nachrichten kommentieren oder der einen oder anderen Veranstaltung Raum geben – das riskiert nicht jeder. Denn man könnte ihn der Zusammenarbeit mit einem ausländischen Agenten beschuldigen und solche Probleme braucht niemand. Besonders in unseren schwierigen Zeiten.

[...]

Und was die Meinungsfreiheit in Russland betrifft – daran wird sich nichts ändern. Offiziell. Es wird zwar schon immer diskutiert: Gibt es bei uns diese Freiheit oder nicht. Nun – je schlechter das Verhältnis zum Westen, desto größer die Gefahr, dass sie kaum noch vorkommt.

Понятно, что сотрудничать с таким изданием — давать ему интервью, комментировать новости или допускать на те или иные мероприятия, например на освещение выборов, — рискнет не каждый. Ведь могут обвинить в сотрудничестве с иностранным агентом – проблемы никому не нужны. Тем более, в наше сложное время.

[...]

А что касается свободы слова в России – здесь ничего не изменится. Официально. Собственно, всегда была дискуссионной тема, есть у нас эта свобода или нет. А так – чем хуже отношения с Западом, тем больше угроза, что прилетит по касательной.

 

erschienen am 15.11.2017

Novaya Gazeta: US-Gesetz ist nur ein Vorwand

In der renommierten unabhängigen Novaya Gazeta zieht Politikredakteur Kirill Martynow Parallelen zum Kalten Krieg:

Deutsch
Original
Für ein Verbot ausländischer Medien im heutigen Russland hätte es gar keines speziellen Anlasses bedurft – besser gesagt, jeder Anlass hätte genügt. Sogar wenn die USA in Bezug auf RT nichts unternommen hätten – irgendjemand möchte ganz sicher wieder in unsere großartige Epoche zurück, in der Störsender und Stimmen um Einfluss auf die Geisteshaltung der Landleute wetteiferten.

Bekanntermaßen haben die Stimmen einst haushoch gesiegt, und wie es scheint, wird jedes beliebige Verbot heutzutage den Einfluss ausländischer Berichterstattung auf Russland nur verstärken.

[...] возможно, для запрета иностранных СМИ в нынешней России и не требовался специальный повод — точнее, подошел бы любой. Даже если бы американцы ничего не предприняли в отношении RT, кому-то все равно очень хочется вернуться в нашу великую эпоху, где глушилки и «голоса» спорили в своем влиянии за умы соотечественников. Как известно, «голоса» тогда победили с разгромным счетом, и, кажется, любой нынешний запрет будет лишь усиливать влияние иностранного вещания на Россию.

 

erschienen am 15.11.2017

Facebook: Bomben auf Woronesh

Das Gesetz ist nur der Anfang, meint der Journalist Wassili Gatow und zeichnet auf Facebook ein düsteres Zukunftsbild für Medien in Russland.

Deutsch
Original
Leider werden die Bomben auf Woronesh dieses Mal ein paar konkrete Menschen treffen (von denen viele meine Freunde sind), die für westliche Medien arbeiten. Ich bin fast hundertprozentig überzeugt, dass die Duma die Arbeit für „unerwünschte Organisationen“ (Medien eingeschlossen) zu einem strafrechtlichen Vergehen erklärt.

Merkt euch diesen Post.

К сожалению, "бомбить воронеж" в этот раз будут по конкретным, немногочисленным людям (многие из которых мои друзья), которые работают на западные СМИ. Я почти с 100% уверенностью могу сказать, что Дума сделает уголовным преступлением работу на "нежелательную организацию" (и СМИ, к ним приравненные).

Запомните этот пост.

 

erschienen am 15.11.2017

Facebook: Der ausländische Agent ist ein Prachtkerl

Sergei Medvedev, eine der profiliertesten liberalen Stimmen des Landes, versucht den Begriff des Agenten zu einem Trotzwort zu machen, ihn positiv umzudeuten. Auf Facebook untermauert er seinen Anspruch mit Vorbildern.

Deutsch
Original
Ich bin ein ausländischer Agent. Ich denke, dass es überhaupt keine Schande, ja, dass es sogar eine Ehre ist, im heutigen Russland ein ausländischer Agent zu sein. Es ist ein besonderes Qualitätsmerkmal einiger weniger unabhängiger, hochwertiger und freier Institutionen in einem unfreien Land: das Lewada-Zentrum, Memorial und jetzt, wie es scheint, auch die westlichen Medien in Russland.

Historisch wurde seit jeher alles „originär Russische“ mittels aufholender Modernisierung oder imitativer Westernisierung von westlichen Agenten in unser Land gebracht – vom Wodka bis zur Matrjoschka, von der Kalaschnikow bis zu Kirkorows Liedern. Fürst Wladimir und Fürstin Olga waren ebenso ausländische Agenten, wie Zar Peter und Katharina die Große [...]. Ausländische Agenten haben den Kreml und die Magnitka gebaut, Jewgeni Onegin und Ein Held unserer Zeit geschrieben. Der ausländische Agent ist ein Prachtkerl. Sei wie ein ausländischer Agent.

Я иностранный агент. Думаю, что совершенно не зазорно, а очень почетно называться в России сегодня иностранным агентом, это своеобразный знак качества на немногих неангажированных, качественных и свободных институциях в несвободной стране -- Левада-Центр, Мемориал, теперь, видимо, западные СМИ в России. Исторически, все "исконно русское" в нашу страну догоняющей модернизации и имитационной вестернизации, было принесено иностранными агентами, от водки до матрешки, от автомата Калашникова до песен Киркорова. Иностранными агентами были Князь Владимир и княгиня Ольга, Петр и Екатерина. Иностранные агенты построили Кремль и Магнитку, написали "Евгения Онегина" и "Героя нашего времени". Иностранный агент молодец. Будь, как иностранный агент.

 

erschienen am 15.11.2017

dekoder-Redaktion

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Irina Jarowaja

Von Paulus zu Saulus? Die Wandlung der liberalen Politikerin Irina Jarowaja zur bekanntesten Hardlinerin der Duma wurde von Vorwürfen der Prinzipienlosigkeit begleitet. Mit dem Beschluss des von ihr initiierten Anti-Terror-Pakets im Juni 2016 wurde die Eiserne Lady der Volkskammer für viele zum Symbol des autoritären politischen Kurses.

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„Agentengesetz“

Vor dem Hintergrund der Bolotnaja-Proteste hat die russische Staatsduma im Jahr 2012 das sogenannte „Agentengesetz“ verabschiedet. Es sanktioniert „politisch aktive“ Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die finanziell aus dem Ausland unterstützt werden.

Das Gesetz wurde seitdem mehrfach ausgeweitet und verschärft: Seit November 2017 können auch Medien zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden, seit Ende November 2019 auch Einzelpersonen. Seit Dezember 2020 können soziale Bewegungen und Einzelpersonen nicht nur bei finanzieller Unterstützung aus dem Ausland zu „Agenten“ erklärt werden, sondern auch dann, wenn sie „politische Aktivitäten“ im Interesse einer „ausländischen Quelle“ entfalten. Außerdem werden sie verpflichtet, ihre Publikationen mit dem Zusatz „ausländischer Agent“ zu versehen. Auch Medien müssen darauf verweisen, wenn sie entsprechende Personen oder Organisationen erwähnen. Im Juli 2022 unterschrieb Putin ein neues Gesetz, wonach jeder, der „unter ausländischem Einfluss“ steht, zum „ausländischen Agenten“ erklärt werden kann. Außerdem wurde ein neues Register eingeführt, das „ausländischen Agenten affiliierte“ Organisationen und Personen auflistet.

Die Regelungen sind schwammig formuliert, das aus der Stalinzeit stammende „Agenten“-Label wird nicht selten selektiv und willkürlich angeheftet. Betroffene Organisationen müssen außerdem strenge Vorschriften einhalten, die ihre Arbeit erheblich erschweren.

Mit Beginn der dritten Amtszeit Putins ist der Druck auf Nichtregierungsorganisationen in Russland gestiegen. Vor dem Hintergrund der Massenproteste gegen Wahlfälschung und Machtmissbrauch im Winter 2011/12, die vom Kreml schnell als durch die USA gesteuert dargestellt wurden, unterschrieb Putin noch im Jahr 2012 eine Änderung des „Gesetzes über nicht-kommerzielle Organisationen“. Das sogenannte „Agentengesetz“ stigmatisiert „politisch aktive“ NGOs, die aus dem Ausland finanzielle Förderung erhalten, als „ausländische Agenten“. Es sieht eine Reihe von Vorschriften und Sanktionen für die betreffenden NGOs vor: Diese umfassen strenge Rechenschaftspflichten, die Vorgabe, sämtliche publizierte Materialien mit dem Label „ausländischer Agent“ zu versehen sowie Geldstrafen und Freiheitsentzug im Falle einer Nicht-Registrierung im Agenten-Verzeichnis des Justizministeriums.

Wie wirkt das Gesetz in der Praxis? Die Erfahrungen mit dem Agentengesetz zeigen, dass die Umsetzung in erster Linie uneinheitlich und selektiv erfolgt.1 Dies mag zum einen an den diversen Verteidigungsstrategien der betroffenen NGOs liegen. Zum anderen aber auch an der bewusst vagen Formulierung des Gesetzes an sich: Das Kernkonzept „politisch aktiv“ wird nirgends umfassend definiert. Ambivalente Gesetze räumen Staatsorganen einen hohen faktischen Ermessensspielraum ein und öffnen einer selektiven Rechtsanwendung Tür und Tor.2 Die Justiz wird mehr und mehr zum Spielball politischer Einflüsse. Dass einige Gerichtsurteile zum Agentengesetz ungewöhnlich lange auf sich warten ließen, ist mehrfach so interpretiert worden, dass zunächst auf eine Anweisung „von oben“ gewartet werden musste.3

Die Phase der Nicht-Anwendung des Gesetzes unmittelbar nach seinem Inkrafttreten hat bald darauf einer aktiven „Agentenjagd“ Platz gemacht: Im Frühjahr 2013 begannen weitreichende und unangekündigte Überprüfungen von NGOs, die teilweise Sanktionen auf Grundlage des Agentengesetzes nach sich zogen. Neuen Antrieb erhielt die Kampagne gegen NGOs weiterhin durch eine Gesetzesänderung im Frühjahr 2014, die es dem Justizministerium erlaubt, NGOs eigenhändig in das Verzeichnis ausländischer Agenten einzutragen. Das zu Beginn noch leere Agentenregister des Justizministeriums füllte sich zusehends: Im August 2015 wurde die 87. Organisation registriert. Viele NGOs stellten daraufhin ihre Arbeit ein, andere wandten sich von ausländischen Fördergeldern ab und schränkten ihre Ausgaben ein. Somit konnte das Justizministerium mit der Zeit vermelden, weniger „Agenten“ in dem Register zu führen: Im Februar 2021 waren es 75 Organisationen, unter ihnen das Meinungsforschungsinstitut Lewada und die Menschenrechtsorganisation Memorial, sowie fünf ihrer Unterabteilungen beziehungsweise regionalen Niederlassungen.4 Der Handlungsspielraum von NGOs ist zusätzlich eingeschränkt durch das im Mai 2015 in Kraft getretene Gesetz über „unerwünschte Organisationen“, das administrative und strafrechtliche Sanktionen (bis hin zum Tätigkeitsverbot) für in Russland tätige ausländische Organisationen vorsieht, die als Regimebedrohung aufgefasst werden. Im Februar 2021 galten insgesamt 31 Organisationen als „unerwünscht“.5

Seit November 2017 können zudem auch Medien als „ausländische Agenten“ deklariert werden. Auch hier ist das Gesetz so schwammig formuliert, dass schon eine Teilnahme an einer Journalisten-Konferenz im Ausland ausreicht, um das ganze Medium zum „Agenten“ zu erklären. Ende November 2019 hat die Duma außerdem in dritter Lesung ein Gesetz verabschiedet, wonach auch Einzelpersonen zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden können. Theoretisch reicht es aus, wenn sie den Beitrag eines Mediums, das bereits als ausländischer Agent gilt, öffentlich teilen und außerdem Geld aus dem Ausland erhalten, unabhängig aus welcher Quelle. Duma-Abgeordnete beeilten sich damals, zu versichern, dass das Gesetz als Gegenmaßnahme zu ähnlichen US-amerikanischen Regelungen gedacht sei. Vor allem sei es gegen Mitarbeiter von denjenigen Auslandsmedien gerichtet, die als „ausländische Agenten“ gelistet sind. Tatsächlich ist das Gesetz jedoch so breit formuliert, dass eine selektive und willkürliche Auslegung möglich ist. Im Dezember 2020 hat das Justizministerium fünf Einzelpersonen in das Agentenregister für Medien aufgenommen, unter anderem den Menschenrechtsaktivisten Lew Ponomarjow.6 Im Juli 2022 unterschrieb Wladimir Putin ein neues Gesetz, wonach jeder, der „unter ausländischem Einfluss“ steht, zum „ausländischen Agenten“ erklärt werden kann. Außerdem wurde ein neues Register eingeführt, das „ausländischen Agenten affiliierte“ Organisationen und Personen auflistet.

Insgesamt sollen diese Regelungen die Arbeit von politisch aktiven Organisationen erschweren; sie funktionieren aber auch als eine Drohkulisse, die „unerwünschte“ politische Aktivitäten im Keim ersticken. Ihre Verabschiedung ging einher mit dem systematischen Beschneiden der Bürgerrechte in Russland. So sind heute alle Dimensionen der Handlungsfelder unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen – von Registrierung und Aktivitäten, über Versammlungsfreiheit und freie Rede bis hin zu Ressourcen und internationalen Kontakten – mit rechtlichen Schranken versehen und zum Teil kriminalisiert.

Stand: 14.07.2022


1.ausführlich zu den Auswirkungen des Agentengesetzes: Ochotin, Grigorij (2015). Agentenjagd: Die Kampagne gegen NGOs in Russland, in: Osteuropa 2015 (1-2), Berlin, S. 83-94 
2.vgl. Lauth, Hans-Joachim / Sehring, Jenniver (2009). Putting Deficient Rechtsstaat on the Research Agenda: Reflections on Diminished Subtypes, in: Comparative Sociology 2009 (8), S. 165-201 
3.Siegert, Jens (2014). Mehr als ein Jahr „Agenten“-Jagd – eine Art Zwischenbericht, in: Russland-Analysen 2014 (278), S. 25-27 
4.vgl. minjust.ru: Svedenija reestra NKO, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta 
5.vgl. minjust.ru: Perečen' inostrannych i meždunarodnych nepravitel'stvennych organizacij, dejatel'nost' kotorych priznana neželatel'noj na territorii Rossijskoj Federacii 
6.minjust.gov.ru: Reestr inostrannych sredstv massovoj informacii, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta 
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Farbrevolutionen

Als Farbrevolutionen bezeichnet man eine Reihe friedlicher Regimewechsel in post-sozialistischen Ländern. Diese wurden unter anderem durch gesellschaftliche Großdemonstrationen gegen Wahlfälschungen ausgelöst. Aufgrund der Farben beziehungsweise Blumen, mit denen die Bewegungen assoziiert werden, ist der Sammelbegriff Farbrevolutionen entstanden. Stellt der Begriff für die politische Elite in Russland eine Bedrohung ihrer Macht dar, verbinden oppositionelle Kräfte damit die Chance auf einen Regierungswechsel.

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AGORA

AGORA ist eine bekannte russische Menschenrechtsorganisation, die sich juristisch für die Rechte von Aktivisten, Journalisten, Bloggern und Künstlern einsetzt. In jüngster Zeit geriet die Organisation in die Schlagzeilen, da sie vom Justizministerium als sog. ausländischer Agent registriert wurde.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)