Advent, Advent auf dekoder: Jeden Adventssonntag zünden wir hier zwar kein Kerzchen an, aber Gnosenautoren und Klubmitglieder geben ausgesuchte Geschenk-, Lese- oder einfach Kulturtipps. Zum dritten Advent empfiehlt die Slawistin Olga Caspers ihren musikalischen Favoriten 2020. ... und stellt eine neue Ästhetik vor, die derzeit die russische Jugendkultur prägt.
Allen, die für die Feiertage nach einer Alternative zu Stille Nacht & Co. suchen, möchte ich die russische Band Cream Soda empfehlen. In der Pandemiezeit wirken ihre stimmungsvollen Musikvideos sehr inspirierend.
Das bekannteste von ihnen – Platschu na techno (dt. Ich weine auf einer Technoparty) – ist mitten im Lockdown erschienen. Es zeigt Raver in Moskau, die in Selbstisolation auf Balkonen exzessive Partys feiern – im Drag Queen- und Voguing-Style. Das Video ging viral (40 Millionen Aufrufe) und rief zahlreiche Flashmobs hervor, die Balkon-Raves auf der Datscha oder in Plattenbauten zelebrierten.
Nahezu prophetisch kamen Cream Soda daher, als sie bereits neun Monate vor der Pandemie gesagt hatten, dass die Zeit der Partys vorbei sei: Das Motiv verbotener Partys prägte ihr Video Nikakich bolsche wetscherinok (dt. Keine Partys mehr). Versteckt im Wald schmissen darin vier Männer eine queere Party, auf der sie in Seide, Glitzer und Feder gekleidet tanzten.
Tipp: Über „Einstellungen“ werden in diesem Video ganz passable englische Untertitel angezeigt
Hinter den Videos steht Alexander Gudkow: Showman, Moderator und Drehbuchautor. Durch seine zahlreichen extravaganten Medienauftritte avancierte der Macher einiger sehr bekannter Fernsehshows zu der prägenden Figur der neuen russischen Popkultur. Seine Kreationen schöpfen ihren Unterhaltungswert aus der Synthese der queeren Ästhetik, Selbstironie und Nostalgie der 1990er Jahre. In Platschu na techno tritt Gudkow in seiner provokanten Manier neben den Drag-Queens und Voguing Tänzern in einem Eiskunstläuferin-Kostüm auf. Wie in vielen seiner Videos, spielt Gudkow auch in Nikakich bolsche wetscherinok mit.
Platschu na techno ist die gleichnamige Coverversion eines Songs der Band Chleb (dt. Brot) und greift so vorsichtig das Thema der Grenzen der Autorenrechte in der Zeit des Internets und digitaler Technologien auf. Dieser Umgang mit fremden Kompositionen gilt neben der Neuen Aufrichtigkeit und Selbstironie als die wichtigste Komponente der neuen – von Gudkow propagierten – Ästhetik.
Das Video korrespondiert mit dem Interview, das Juri Dud im November 2020 mit einem anderen bekannten Showman – dem derzeit erfolgreichsten Rapper Russlands – gemacht hat: Morgenshtern. Es sorgte ebenfalls für viel Resonanz (rund 21 Millionen Aufrufe), vor allem weil der Musiker darin zugespitzt die wichtigsten Aspekte der jugendlichen Popkultur verdeutlichte.
In diesem Stil ist auch das dritte Musikvideo von Cream Soda gedreht: Serdze led (dt. Eisherz), es kam im Juli raus. Auf dem Höhepunkt der Verbreitung von pandemischen Verschwörungsmythen macht es allgemeine Ängste zum Thema: Die Moskauer Untergrundwelt ist von menschenähnlichen Reptiloiden bewohnt, die ausgiebig feiern und sich vermehren, um später die Welt zu erobern.
Diese drei Musikvideos bilden zusammen einen visuellen Hypertext, der ironisch mit den Ereignissen des Pandemie-Jahres umgeht. Neben Unterhaltung und guter Tanzmusik bildet er aber auch die wichtigsten Tendenzen der aktuellen russischen Popkultur ab. Die Videos bieten sich außerdem gut an, um sich entweder auf ein schmales Festprogramm einzustimmen oder einen Balkon-Rave zu veranstalten, ohne gegen die Corona-Regeln zu verstoßen.
Olga Caspers ist promovierte Slawistin und Dozentin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren Forschungsinteressen und Arbeitsschwerpunkten gehören inter- und transkulturelle Medienanalyse, moderne russische Kultur (insbesondere Pop-Kultur) und Fashion Studies.