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Plötzlich, aber halbherzig gegen häusliche Gewalt

Alle paar Jahre rauschen aufsehenerregende Fälle häuslicher Gewalt und Protestwellen dagegen durch Russland. 2016 berichteten Zehntausende per Internet-Flashmob #ЯнеБоюсьСказать  (#IchhabkeineAngstzusprechen) von ihren Gewalterfahrungen. Doch 2017 wurden mit Verweis auf „traditionelle Werte“ die Strafen für häusliche Gewalt gesenkt. 2018 machte der Fall Chatschaturjan Schlagzeilen, in dem drei Schwestern ihren Vater ermordet haben sollen, der sie jahrelang misshandelt hatte.  

Seit Russlands umfassendem Überfall auf die Ukraine nun werden immer mehr Fälle von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Morden durch Soldaten bekannt, die von der Front zurückkehren. Doch diesmal scheint die Regierung das Thema selbst angehen zu wollen, bevor es zu hohe Wellen schlägt. So haben im Juni 2024 gleich zwei Parteien Gesetzesentwürfe vorgelegt, die das Problem der häuslichen Gewalt lösen wollen.  

In der Gesellschaft kommt dieser Vorstoß gut an: Umfragen zufolge unterstützt eine deutliche Mehrheit von 89 Prozent solch ein Gesetz gegen häusliche Gewalt: 95 Prozent der Frauen, 83 Prozent der Männer. Dennoch ist mit Stand Ende Dezember 2024 in einem halben Jahr nichts weiter mit den Gesetzesentwürfen passiert.

Das russische Onlinemedium Glasnaja, das sich auf soziale und Frauen-Themen spezialisiert, hat mit Expertinnen gesprochen, um herauszufinden, wie effektiv diese Vorschläge im Kampf gegen häusliche Gewalt wirklich sein könnten, würde man sie in der vorliegenden Form umsetzen. Einige Gesprächspartnerinnen werden aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt. 

© IMAGO / Depositphotos

Im Juni 2024 haben russische Abgeordnete und Beamte überraschend angefangen, sich aktiv zum Problem der häuslichen Gewalt zu äußern. So legten die Parteien LDPR und Nowyje Ljudi Gesetzentwürfe vor, die dieses Problem lösen sollen. Nebenbei nahmen sie sich darin auch den Schutz von Männern vor häuslicher Gewalt vor. Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa rief zudem dazu auf, überall im Land staatliche Krisenzentren einzurichten. 

„Der Elefant im Raum lässt sich nicht verstecken“ 

Dieses neue staatliche Interesse am Problem der häuslichen Gewalt könnte, so die von Glasnaja befragten Expertinnen, mit der um sich greifenden Diskussion über Gewaltverbrechen und Mordfälle an Frauen durch Militärangehörige zusammenhängen, die aus der Ukraine zurückkehren

„Der Elefant im Raum lässt sich nicht verstecken“, meint eine Menschenrechtsaktivistin. „Die Behörden haben wohl beschlossen, das Problem selbst in die Hand zu nehmen, anstatt den Anstieg von Gewalt durch Militärangehörige und Zivilisten einfach totzuschweigen.“ 

Es gibt aber auch andere Erklärungsansätze: So mutmaßte beispielsweise Verstka, der Kreml könnte Staatsbediensteten erlaubt haben, das Thema für PR-Zwecke und zum „Ruhigstellen der Gesellschaft“ zu nutzen. Dabei soll der Russisch-Orthodoxen Kirche, dem Hauptgegner des Gesetzes über häusliche Gewalt, zugesichert worden sein, dass man derartige Gesetzesinitiativen abprallen lassen würde. Auf jeden Fall wollen die Behörden wohl verhindern, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die zunehmende Gewalt in russischen Familien sei auf die Rückkehr von Soldaten aus der Ukraine zurückzuführen. Verstkas Quellen zufolge soll der Kreml Politikern untersagt haben, solche Fälle öffentlich zu erwähnen. 

Zwei Expertinnen betonten gegenüber Glasnaja aber auch, dass die Gesetzesentwürfe von LDPR und Nowyje Ljudi tatsächlich keine konkreten Vorschläge enthalten, um Gewalt durch Militärangehörige mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu verhindern oder ihnen vorzubeugen. 

Männerschutz statt „radikalem Feminismus“ 

Warum in dem Entwurf nicht nur Frauen vor häuslicher Gewalt geschützt werden sollen, erklärte die Koautorin des Entwurfs, Sardana Awksentjewa von Nowyje Ljudi, folgendermaßen: „Ich glaube, es wird deutlich, dass der Gesetzentwurf nichts mit ‚radikalen Feministinnen‘ zu tun hat. Wie Sie sehen, können auch Männer Opfer von Übergriffen werden.“ Als Beispiel nannte sie den Fall des 37-jährigen Anton Jegowzew aus der Nähe von Moskau, der am 7. Juni im Treppenhaus seines Wohnhauses durch acht Messerstiche getötet wurde. Dem Aktivisten der Bewegung Sow narodow [Ruf der Völker], die traditionelle Werte propagiert, hatte ein Mann aufgelauert, der seit mehreren Jahren Jegowzews Ehefrau nachstellte. Laut ihrer Aussage hatte die Polizei bis dahin sämtliche Anzeigen ignoriert. Auch im LDPR-Entwurf ist die Rede davon, dass man Männer vor häuslicher Gefahr schützen müsse. 

Unabhängige Frauen- und Menschenrechtsbewegungen sprechen bereits seit Jahren über das Problem der häuslichen Gewalt gegen Frauen. Eine Aktivistin sagte im Gespräch mit Glasnaja: Die Kritik an „radikalen Feministinnen“ sei auf das Bestreben des Staates zurückzuführen, sich die Agenda der verwundbaren Position der Frauen in der Familie zu eigen zu machen. Dieselben Ideen würden nun „von Leuten verbreitet, denen der Staat vertraut und die er kontrolliert“. 

„Die Distanzierung von ausländischen Agenten und all jenen, die der Staat diskreditiert, erhöht die Chance, dass das Gesetz tatsächlich verabschiedet wird. Ich glaube nicht, dass auf diese Weise ein fiktives System geschaffen wird. Es ist schon gut, dass sie die Dinge endlich beim Namen nennen“, meint die Menschenrechtsaktivistin. 

Andererseits könnte der Akzent auf dem Schutz der Männer auch von vornherein dem patriarchal gesinnten Teil der Gesellschaft die Luft aus den Segeln nehmen. Denn der wäre sicher auch gegen den Gesetzentwurf, selbst wenn er vom Staat initiiert würde, führt sie aus. 

Mit diesem Fokus auf Männerschutz ignorierten die Abgeordneten schlicht die Realität, meint wiederum die Juristin und Expertin für geschlechtsspezifische Gewalt, Darjana Grjasnowa. Obwohl nach internationalen Standards, die in der Istanbul-Konvention festgelegt sind, häusliche Gewalt durchaus Menschen aller Geschlechter betrifft, seien Frauen doch „unverhältnismäßig stark betroffen“, betont die Anwältin. 

„Rein populistischer Schachzug“ 

Von den beiden vorgeschlagenen Gesetzesentwürfen befasst sich nur die Initiative von Nowyje Ljudi auch mit dem Problem des Online- und Offline-Stalkings. Grjasnowa verweist diesbezüglich auf die internationalen Standards zum Schutz von Frauen vor Belästigung: 

  • Stalking ist eine Straftat. 
  • Schutzmaßnahmen und einstweilige Verfügungen müssen das Opfer sofort schützen können. 
  • Das Opfer muss umfassende Unterstützung erhalten können. 

In seiner momentanen Form entspricht der Gesetzentwurf diesen internationalen Standards allerdings nicht, so Grjasnowa. 

Um auf ihre Initiative aufmerksam zu machen, hat Nowyje Ljudi die Initiative Stalkingu net [Nein zu Stalking – dek] ins Leben gerufen: Betroffene sollen den Abgeordneten hier per detaillierter Nachricht ihren Fall schildern, damit diese „die Situation verstehen und helfen können“. 

Glasnaja hat eine Expertin gebeten, sich die Plattform genauer anzuschauen. Sie kam zu dem Schluss, dass es sich „nicht um ein Arbeitsinstrument mit transparenten Methoden, sondern um eine rein populistische Aktion“ handele. Unter anderem bemängelte sie, dass man auf der Internetseite keine Informationen zu den Experten und deren Kompetenzen finde, die in das Projekt involviert sind. 

„Wir haben lange gezweifelt, ob es nach dem 24. Februar [2022, Tag des vollumfänglichen Angriffs Russlands auf die Ukraine – dek] überhaupt vorstellbar ist, dass wir wieder über ein Gesetz gegen häusliche Gewalt sprechen. Aber anscheinend will man doch eine gesellschaftliche Diskussion auslösen, damit es irgendwie damit weitergeht“, resümiert die Menschenrechtlerin. 

Nur Schutz für feste Familien 

Im Juni dann verkündete Leonid Sluzki, Vorsitzender der LDPR und früher einmal selbst der sexuellen Belästigung beschuldigt, dass ein Gesetzentwurf zur „umfassenden Regulierung häuslicher Gewalt“ der russischen Regierung und dem Obersten Gericht zur Begutachtung vorgelegt worden sei. Allerdings erntete auch diese Initiative bei Experten Skepsis. 

Das wichtigste Manko bestehe darin, so die Anwältin Grjasnowa, dass es nur um Familienmitglieder und Paare mit Kindern gehe: „Dem Entwurf zufolge ergeben sich familiäre Beziehungen aus der Beziehung zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern sowie aus der Verbindung von Personen, die ein gemeinsames Kind haben und zusammenleben. [Durch diese Formulierung] fallen ehemalige Ehegatten und Partner, die keine Kinder haben, [aus der Schutzregelung] heraus.“ 

Der Gesetzentwurf erstreckt sich außerdem nicht auf kinderlose Frauen, die in einer nicht registrierten Beziehung leben, und auch nicht auf geschiedene Frauen, die den ehemaligen Gatten nach Auflösung der Ehe häuslicher Gewalt beschuldigen. Dabei meldeten laut Statistiken für die Jahre 1996 bis 2002 (aktuellere Daten gibt es nicht) Frauen in Russland öfter Gewalt durch Ehepartner, die nach der Scheidung erfolgt. Nach einer Statistik des Zentrums Nasiliu.net (Nein zu Gewalt) werden 40 Prozent der Gewaltverbrechen in Russland in der Familie begangen. 

Ein weiteres Detail: Die Initiative der LDPR sieht vor, das Opfer vom Aggressor zu isolieren und nicht umgekehrt – den Aggressor vom Opfer, wie es in internationalen Dokumenten empfohlen wird, betont Grjasnowa. Und die Juristin Mari Dawtjan ergänzt, dass eine Isolierung des Opfers die Betroffene noch vulnerabler macht. Erst recht, da Art und Weise der Isolierung im Gesetzentwurf nicht geregelt werden.  

Höhere Strafen für Verbrechen in der Ehe 

Gegenwärtig wird im Strafgesetzbuch und im Gesetzbuch über Ordnungswidrigkeiten die Verantwortung für Gewalttaten nur allgemein definiert – ohne Feststellung einer erhöhten Verantwortung dafür, wenn die Tat innerhalb der Familie verübt wurde. Die LDPR fordert nun eine stärkere strafrechtliche Verantwortung für Familienmitglieder.  

Das würde bei einer Vergewaltigung folgendermaßen wirken: Die Vergewaltigung einer Ehefrau, Mutter oder Frau, mit der der Mann ein gemeinsames Kind hat, wird zu einem besonders schweren Fall, wodurch sich die Gefängnisstrafe erhöht. Derzeit kann für eine derartige Vergewaltigung eine Haftstrafe von drei bis sechs Jahren verhängt werden. Dem Gesetzentwurf der LDPR zufolge sollen solche Taten mit 15 bis 20 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. 

Die Anwältin Grjasnowa erläutert am Beispiel Mord: „Mord zum Beispiel wird gemäß Paragraf 105, Absatz 1 des Strafgesetzbuchs mit Freiheitsentzug bis zu 15 Jahren bestraft. In Absatz 2 dieses Paragrafen werden die qualifizierenden Merkmale aufgelistet, aufgrund derer Strafen ausgesprochen werden können, die bis lebenslänglich reichen: bei hilflosem Zustand oder Schwangerschaft [des Opfers], bei Mord mit besonderer Grausamkeit oder auf gemeingefährliche Weise. Die LDPR will dieses Verzeichnis erweitern und Taten gegen Kinder, Eltern, Eheleute und Personen, mit denen der Täter ein gemeinsames Kind hat, in Absatz 2 aufnehmen, die dann mit bis zu lebenslanger Haft bestraft werden können.“ 

Eine Million für Verleumdung 

Doch die Menschenrechtlerinnen kritisieren: Die Definition häuslicher oder sexualisierter Gewalt im Gesetzespaket der LDPR ist so schwammig, dass mehrere Arten der Gewalt, die in Russland verbreitet sind, unberücksichtigt blieben. Die Anwältin Dawtjan zählt auf: „Aus der Definition physischer Gewalt wurden Schläge herausgenommen, obwohl sie am stärksten verbreitet sind; und bei wirtschaftlicher Gewalt sind keine Bestimmungen zur Nichtzahlung von Alimenten enthalten.“ 

Gleichzeitig will die LDPR auch Verleumdung im Bereich der Familien- und Alltagsbeziehungen kriminalisieren. Das könnte einen sehr starken „Abkühlungseffekt“ haben, ist Darjana Grjasnowa überzeugt: „Selbst ein paar Verfahren, die eröffnet würden, nachdem Betroffene von ihrer Geschichte berichteten, dürften ausreichen, um sie für immer verstummen zu lassen.“ 

Die Strafe für Verleumdung soll eine Million Rubel bzw. das Arbeitseinkommen für bis zu einem Jahr oder gemeinnützige Arbeiten von bis zu 240 Stunden betragen. 

Dabei können Betroffene auch jetzt schon wegen Verleumdung belangt werden: Es gibt ja den Paragrafen 128.1 des Strafgesetzbuches. Die Initiative der LDPR sei nun aber ein direkter Versuch, sowohl den Opfern wie auch den Menschenrechtlerinnen, die den Mut haben, über verübte Gewalt zu sprechen, den Mund zu stopfen, betont Grjasnowa. 

Mangel an Frauenhäusern 

Tatjana Moskalkowa, die Menschenrechtsbeauftragte beim russischen Präsidenten, hat bei ihrem jährlichen Bericht vor dem Föderationsrat vorgeschlagen, staatliche Krisenzentren (ähnlich Frauenhäusern – dek) einzurichten und diese aus dem Staatshaushalt zu finanzieren. Diese Praxis gebe es bereits in 16 Regionen. 

In derselben Rede sagte Moskalkowa aber auch, dass die wenigen bestehenden staatlichen Zentren überlastet seien. Und sie berichtete, wie sie mit Kolleginnen zwei Moskauer Zentren für Opfer häuslicher Gewalt besucht habe und „sehr erstaunt“ gewesen sei, dass es in den Einrichtungen für 100 Personen keine freien Plätze gebe. 

„Wenn man sich die Statistik der UNO in Erinnerung ruft, der zufolge jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen ist, wird deutlich, dass die staatlichen Zentren schlicht nicht die nötige Anzahl Betten bereithalten“, bestätigt die Anwältin Darjana Grjasnowa. 

Die Standards des Europarates besagen, dass pro 10.000 Personen eine Familienschlafstätte bereitgehalten werden sollte – also ein Bett für die Mutter und ein Kind (oder mehrere Kinder, je nach der durchschnittlichen Anzahl der minderjährigen Kinder im Land). Legt man diesen Schlüssel für Russland an, müsste es hier mindestens 14.700 Plätze für Opfer häuslicher Gewalt geben. 

2014 und 2015 gab es in Russland in 53 Regionen 95 staatliche oder private Frauenhäuser mit insgesamt 1.349 Plätzen. Das sind elfmal weniger als der Europarat empfiehlt. Sogar in Moskau werden zwölf Mal mehr Plätze für Frauen in Krisensituationen benötigt als jetzt in den städtischen Einrichtungen vorhanden sind (2400 statt jetzt 200). 

Sicherheit nicht für alle 

Einfach nur neue staatliche Frauenhäuser zu eröffnen, reicht nicht, um das Problem häuslicher Gewalt zu bewältigen. Auch die komplexen Hilfsangebote müssen verbessert werden, sagt Darjana Grjasnowa weiter. Beispielsweise werden Frauen in einigen staatlichen oder kommunalen Einrichtungen nur mit lokaler Meldebescheinigung und einem ganzen Paket von Dokumenten aufgenommen. Dazu gehören dann eine Überweisung vom Sozialamt, der eigene Pass, die Geburtsurkunde des Kindes, Ergebnisse einer Röntgenuntersuchung, der Impfpass oder eine Bescheinigung über die epidemiologische Umgebung von Mutter und Kind. 

Im Moskauer Krisenzentrum zur Hilfe für Frauen und Kinder, von dem Moskalkowa wohl sprach, kann eine Frau in „auswegloser Lage" aber auch einfach so aufgenommen werden. Die notwendigen Dokumente kann sie dann nachreichen. In den übrigen Fällen entscheidet innerhalb von 60 Tagen eine spezielle Kommission über die Unterbringung. 

In nichtstaatlichen Frauenhäusern hingegen erfolgt die Aufnahme in der Regel ohne viele Papiere. Sogar Frauen mit HIV können aufgenommen werden, wenn sie Prep-Tabletten nehmen – in den staatlichen Schutzhäusern gelten sie als Epidemie-Gefahr. 

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Weiblicher Widerstand gegen den Krieg

„Stoppt den Krieg, glaubt nicht der Propaganda. Sie lügen euch hier an.“ Drei Wochen nach Beginn des Angriffskrieges läuft Marina Owsjannikowa in den Hintergrund einer Live-Übertragung der Nachrichtensendung Wremja. Die Mitarbeiterin des staatlichen Senders Erster Kanal hält ein selbst gemaltes Plakat in die Kamera, auf dem sie den Krieg verurteilt und die Zuschauerinnen und Zuschauer auffordert, die Propaganda zu hinterfragen. Die Sendung wird unterbrochen, Owsjannikowa flieht mit ihrer Tochter nach Frankreich. Im Oktober 2023 entzieht ein Moskauer Gericht ihr das Sorgerecht für ihre beiden Kinder – auf Antrag ihres Ex-Mannes und ihres 17-jährigen Sohnes. 

Trotz der enormen Risiken für sie selbst und ihre Familien führen oft Frauen den Protest gegen den Krieg an. Sie verteilen Flugblätter und Aufkleber, helfen geflüchteten Ukrainerinnen oder stellen sich als Ein-Frau-Demonstration auf öffentliche Plätze und verlangen, dass ihre Söhne, Brüder und Männer von der Front heimgeholt werden. Die Politikwissenschaftlerin Leandra Bias von der Universität Bern stellt den feministischen Widerstand gegen den Krieg vor.

„Unsere Kinder sind kein Düngemittel!“

Als im September 2022 die Mobilmachung startet, ruft der Telegram-Kanal Der Morgen Dagestans zu Protesten auf. Im Stadtzentrum Machatschkalas im Nordkaukasus sammeln sich Hunderte von Demonstrierenden, darunter überwiegend Frauen. Sie rufen „Nein zum Krieg!“ und „Unsere Kinder sind kein Düngemittel!“, bis die Nationalgarde sie mit Gewalt auseinandertreibt. Auch in der sibirischen Großstadt Irkutsk gibt es Proteste sowie in Burjatien an der Grenze zur Mongolei. Was sie alle verbindet, ist, dass an ihnen zu einem großen Teil Frauen teilnehmen. Im Jahr 2022 machen Frauen fast die Hälfte aller auf Antikriegsprotesten Festgenommenen aus.1

Viele der aufsehenerregendsten Aktionen gegen den Krieg waren das Werk von Frauen: Die junge Aktivistin Anastasia Parschkowa stellte sich mit einem Schild vor die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, auf dem stand: „6. Gebot: Du sollst nicht töten“. Die 77-jährige Jelena Osipowa malte ein Plakat gegen den Einsatz von Atomwaffen, Polizisten rissen es ihr aus den Händen und nahmen sie fest. Im November 2023 verurteilte ein Gericht in Sankt Petersburg die 33-jährige Künstlerin Alexandra Skotschilenko zu sieben Jahren Straflager, weil sie in einem Supermarkt die Preisschilder gegen Informationen über das Massaker von Butscha ausgetauscht hatte.

Die Künstlerin Alexandra Skotschilenko tauschte in einem Sankt Petersburger Supermarkt Preisschilder gegen Informationen über russische Kriegsverbrechen aus. Im November 2023 wurde sie zu sieben Jahren Haft verurteilt. / © IMAGO, Peter Kovalev, TASS

„Gebt mir meinen Mann zurück, mir reicht’s!“

Es bleibt aber nicht bei Aktionen Einzelner. Frauen leisten auch organisierten Widerstand. Unter dem Namen Frauen der Mobilisierten versammeln sich seit November 2023 Frauen, die die Rückkehr ihrer Männer von der Front fordern. Auf Telegram sind sie im Kanal Der Weg nach Hause aktiv, der mittlerweile über 35.000 Abonnent*innen hat. Für Aufsehen sorgte eine Aufkleberaktion Ende November: In mehreren russischen Städten veranstalteten die Frauen der Mobilisierten einen Auto-Flashmob. Auf ihre Heckscheiben kleben sie Sticker mit der Losung #vernite muscha, ja za#balas (dt. Gebt mir meinen Mann zurück, mir reicht’s). Dabei standen anstelle der kyrillischen Buchstaben В und З die lateinischen Entsprechungen V und Z – ein Verweis auf die Symbolik der Kriegspropaganda.

Das gefällt dem Kreml nicht: Jelena Pensinaja, eine Abgeordnete der Regierungspartei Einiges Russland, forderte, den Kanal der Gruppe als extremistisch einzustufen. Seitdem kennzeichnet Telegram ihn offiziell als „Fake“. Abonnent*innen werden eingeschüchtert, nicht an „illegalen Aktionen“ teilzunehmen und sich nicht auf „Extremismus“ einzulassen. 

Das Vorgehen erinnert an Repressionen gegen ähnliche Initiativen. Das Komitee der Soldatenmütter von Sankt Petersburg, das immerhin schon seit den 1990er Jahren aktiv ist und insbesondere im ersten Tschetschenienkrieg eine große Rolle gespielt hat, wurde bereits 2014 von der Regierung als „ausländischer Agent“ eingestuft. Der Rat der Mütter und Ehefrauen, der sich 2022 nach Beginn der Mobilmachung gegründet hatte, stellte nach seiner Diffamierung als „Agent“ seine Arbeit ein.

Feminismus gegen den Krieg

Die größte Aufmerksamkeit erlangte international die Feministische Antikriegs-Bewegung (Feministkoje Antiwojennoje Soprotiwlenie, FAS). Innerhalb weniger Stunden nach Wladimir Putins Kriegserklärung verfassten die Initiator*innen ein Manifest, das sogleich von Tausenden unterzeichnet und bereits am 25. Februar 2022, einen Tag nach Beginn des Kriegs, veröffentlicht wurde. Darin steht, dass Russland der Ukraine das Recht auf Selbstbestimmung und jedwede Hoffnung auf ein friedliches Leben abgesprochen habe.

Dem Telegram-Kanal der FAS folgen mittlerweile fast 40.000 Abonnent*innen. Laut Moscow Times wurde das Manifest der Gruppe in 30 Sprachen übersetzt, darunter einige Sprachen ethnischer Minderheiten in Russland wie Tatarisch oder Udmurtisch. Die aufsehenerregenden Aktionen werden in westlichen Medien oft aufgegriffen. So schreibt ze.tt beispielsweise über zwei Aktivistinnen, die sich in Trauerkleidung und mit weißen Rosen fotografieren ließen. Das Goethe Institut schildert die Aktion Mariupol 5000, bei der Mitglieder selbstgebastelte Kreuze und Gedenktafeln für die Opfer in der zerstörten ukrainischen Hafenstadt aufstellten.

Dass die FAS noch existiert, ist ihrer dezentralen und anonymen Organisation zu verdanken. Ihre bekanntesten Mitglieder operieren aus dem Exil heraus. Dazu gehört die Co-Gründerin Daria Serenko. In einem Interview mit dem Portal 7x7 Horizontal Russia erzählt sie, sie gehe davon aus, dass die Aktivist*innen sich zu ungefähr gleichen Teilen auf Russland und das Ausland verteilten. Auch die in London lebende Historikerin Ella Rossmann ist Teil der Gruppe. Laut eigenen Angaben arbeiten die beiden acht bis zwölf Stunden pro Tag für den Widerstand. Wie viele genau innerhalb der FAS aktiv sind, lässt sich schwer schätzen. Im Interview mit Holod gibt eine Aktivistin an, sie hätten in den ersten drei Wochen knapp 100 Anfragen von Repressierten erhalten.

Die meisten Aktivist*innen innerhalb Russlands agieren anonym. Im System der FAS gibt es keine Hierarchien: Für jeden Ort können Aktivist*innen ihren eigenen Ableger gründen. Zurzeit ist die FAS nach eigenen Angaben in 23 Ländern aktiv und betreibt 33 Telegram-Kanäle außerhalb Russlands. In Russland selbst hat die Gruppe eigenen Angaben zufolge in allen Regionen aktive Unterstützer*innen. Untereinander können sich die verschiedenen russischen Zweige nur über einen Bot austauschen. Über alle Aktionen kommuniziert – aus Sicherheitsgründen – nur der zentrale FAS-Kanal auf Telegram und Instagram.

Eine konspirativ verbreitete Zeitung soll auch Ältere erreichen

Die FAS fülle das Vakuum, in das die oppositionellen Kräfte Russlands nach der Verhaftung Nawalnys im Februar 2021 gefallen seien, ist die Aktivistin Lilia Weschewatowa überzeugt, die im Exil in Armenien lebt. Die FAS sei ein vereinigendes Element, das verschiedene Hilfsformate anbiete. Dazu gehören psychologische Unterstützung, Informationen zum Thema (Cyber-)Sicherheit und die Zeitung Wahrheit der Frau, die Weschewatowa mit herausgibt.

Sie erscheint seit Mai 2022 und trägt das Motto: „eine unabhängige Zeitung, die wir stolz unseren Müttern und Grossmüttern zeigen können“. Freiwillige drucken sie zu Hause und legen sie dann heimlich an Orten aus, wo sie von möglichst vielen gefunden wird. „Wir ermahnen alle, vorsichtig zu sein, und das Agitationsmaterial nicht im eigenen Haus zu verteilen“, warnen die Organisator*innen die Freiwilligen. „Denkt daran, dass in den Hauseingängen oft Kameras angebracht sind. Vergesst nicht, euer Gesicht zu verhüllen!“

Die Wahrheit der Frau soll in erster Linie Ältere erreichen. Diese haben oft nicht die technischen Möglichkeiten, um über das Internet an unabhängige Informationen zu kommen. Inhaltlich dreht sich die Zeitung eher um soziale Themen und hält sich mit Kritik am Krieg zurück.

Ihr Name verweist auf ihre sowjetische Inspirationsquelle: Die Wahrheit der Frau erinnert an die Wahrheit des Komsomol; eine Zeitung, die es heute noch gibt, obwohl die Jugendorganisation Komsomol 1991 zusammen mit ihrer Mutterpartei, der KPdSU, aufgelöst wurde. Das Projekt ist ein Beispiel dafür, wie Feminist*innen in Russland – trotz staatlicher Unterdrückung der eigenen Geschichtsschreibung – Anknüpfungspunkte in früheren feministischen Mobilisierungswellen suchen und finden.

Dissidentinnen der Moderne

Dass die Zeitung im sogenannten Samisdat gedruckt und verbreitet wird, ist Praktiken aus dem sowjetischen Dissidententum entlehnt. Die erste feministische Schrift im Samisdat, Shenschtschina i Rossija (dt. Die Frau und Russland), erschien im September 1979 im damaligen Leningrad. Den vier Gründerinnen und Verlegerinnen – Natalja Malachowskaja, Tatjana Goritschewa, Tatjana Mamonowa und Julija Wosnesenskaja – schwebte nicht die Frau vor, die heroisch für die Sowjetunion ins All fliegt, sondern die „Zerstörer-Frau“, die mit dem rosigen Ideal der Geschlechtergleichstellung bricht, indem sie über die wahren Zustände und gelebten Erfahrungen sowjetischer Frauen berichtet.2

Die Schrift erfreute sich solcher Beliebtheit, dass sie über Nacht von Leningrader*innen gelesen und tags darauf gleich weitergereicht wurde. Obwohl es gerade einmal zehn Exemplare gab, fand eines (vermutlich über den Kulturattaché in Leningrad) den Weg nach Paris. Das Magazin Des Femmes en Mouvement druckte den Text ab und innerhalb kürzester Zeit wurde er bis nach Japan und in die USA verbreitet. Aufgrund dieser enormen Popularität wurden alle vier Gründerinnen im Verlauf eines Jahres ins Exil vertrieben.3 

Innerhalb der feministischen Bewegung in Russland gibt es aber auch Kritik an der FAS. Insbesondere, weil deren bekannte Initiator*innen im sicheren Ausland leben, Interviews geben und mit Preisen ausgezeichnet werden, während die Frauen, die in Russland Aktionen durchführen, hohe Haftstrafen riskieren.

„Traditionelle Werte“ als politische Strategie

Um Feminist*innen im Inland mundtot zu machen, stützt sich der Kreml immer häufiger auf angebliche „traditionelle Werte“. Im Manifest der FAS heißt es dazu: „Der gegenwärtige Krieg wird […] auch unter dem Banner […] ‚traditioneller Werte‘ geführt […]. Alle, die zu kritischem Denken fähig sind, verstehen, dass zu diesen ‚traditionellen Werten‘ die Ungleichheit der Geschlechter, die Ausbeutung der Frauen und die staatliche Unterdrückung von Menschen gehören, deren Lebensweise, Selbstverständnis und Handeln solch engen patriarchalischen Normen nicht entsprechen“.4

Diese „traditionellen Werte“ sind spätestens seit 2009 Teil der offiziellen russischen Politik. Wie Kristina Stoeckl aufzeigt, stehen sie für einen Wandel in der russischen Diplomatie. Während Menschenrechte früher bekämpft und hinterfragt wurden, werden sie seit 2009 uminterpretiert, von ihrer liberalen Entwicklung entkoppelt und autoritär vereinnahmt. Unter dem Vorwand, „traditionelle Werte“ bewahren zu müssen, geben Vertreter*innen des Regimes vor, Familien in Russland und ihre Kinder vor sogenannter „homosexueller Propaganda“ schützen zu wollen. Daraus folgt auch, dass Russland nicht nur „traditionelle Werte“ hat, sondern auch eine angebliche „souveräne Demokratie“ benötigt, um diese Werte angemessen zu verteidigen. So gelingt es, dass sich eine autoritäre Staatsform und patriarchale Gesellschaftsnormen gegenseitig legitimieren.

Ich nenne diese Strategie ein „autoritäres Zurückspiegeln“ gegen den Westen.5 Um gegen die Vormachtstellung des Westens anzukämpfen, interpretiert Russland den Feminismus und progressive Geschlechternormen als eine perverse Erfindung des Westens, die einzig dazu diene, Nationen mittels einer „fünften Kolonne“ zu unterwandern und zum Einsturz zu bringen. Der Kreml reduziert Gleichstellung zum reinen Machtinstrument und kann dadurch behaupten, dass Demokratie und Menschenrechte gleichsam Teil dieser subversiven Unterwanderung sind – und so die eigene Regierungsform reinwaschen. Russland hat den Westen also – nach eigener Auffassung – seiner wahren Absichten überführt und wirkt wahrhaftiger. Zwar verspricht der Kreml kein besseres Leben. Er tut aber auch nicht so, als sei dies möglich. Der Erhalt der „traditionellen Werte“ veranschaulicht damit die Apathie und den totalen Stillstand der Gesellschaft.6

Die „traditionellen Werte“ werden den angeblich degenerierten Werten des Westens, der sogenannten „Gender Ideologie“, gegenübergestellt. Dadurch erscheint Russland nicht nur wahrhaftiger, sondern auch erhabener. Mit dem Einfall in die Ukraine erreicht diese Strategie eine neue Spitze. Hier bedient sich Putin der „traditionellen Werte“, um einen Aggressionskrieg als Präventivschlag gegen die Ausbreitung der „Gender-Ideologie“ darzustellen, von der die Ukraine angeblich bereits befallen sei.7 Am Abend vor der vollumfänglich Invasion sagte er: „Im Grunde haben diese Versuche des Westens, uns für seine eigenen Interessen einzuspannen, nie aufgehört: Er versucht, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns seine Pseudo-Werte aufzudrängen, die uns, unser Volk, von innen zerfressen sollen. All diese Ideen, die er bei sich bereits aggressiv durchsetzt, führen auf direktem Weg zu Verfall und Entartung, denn sie widersprechen der Natur des Menschen. Dazu wird es nicht kommen, das hat noch niemand je geschafft. Auch jetzt wird es nicht gelingen“.

Das Kontinuum der Gewalt

Zu diesen „Pseudo-Werten“ zählen nach Auffassung des Regimes auch allgemeine Menschenrechte: Russland hat kein separates Gesetz gegen häusliche Gewalt. 2017 strich das russische Parlament einen Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch, der Gewalt in der Familie zum ersten Mal in der neueren Geschichte Russlands unter Strafe stellte. Seitdem wird Körperverletzung auch unter nahestehenden Personen zunächst nur als Ordnungswidrigkeit geahndet – ähnlich wie Falschparken. Begründet wurde die Gesetzesänderung damit, dass Gewalt an Nahestehenden nicht härter bestraft werden dürfe als Gewalt an Fremden. Frauenorganisationen hatten vergeblich gegen die Entkriminalisierung häuslicher Gewalt protestiert. Die Initiator*innen der Reform diffamierten diesen Einsatz für den Opferschutz derweil als das Werk der „westlichen Feministenlobby“.

Die russische Frauenrechtlerin Aljona Popowa, die sich massgeblich für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt einsetzt, sagte kurz nach der vollumfänglichen Invasion der Ukraine in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Das System steht aufseiten des Gewalttäters“. Diese Gewissheit habe sich seit dem 24. Februar 2022 zugespitzt. „Leute kommen zurück mit der Erfahrung, dass das System auf ihrer Seite steht, trotz Vergewaltigung, Mord, Kriegsverbrechen. Diese Leute werden noch mehr Gewalt in ihren eigenen Familien anwenden“, befand Popowa.

Tatsächlich rekrutierte vor allem die Wagner-Truppe in Gefängnissen gezielt Männer, die Mord und schwere Körperverletzung begangen hatten. Viele davon haben eine Geschichte geschlechtsspezifischer Gewalt und wurden nach ihrem Einsatz an der Front begnadigt. Bekannt ist beispielsweise der Fall von Wladislaw Kanjus, der 2020 seine Ex-Freundin ermordete und zu 17 Jahren Haft verurteilt wurde. Bereits im November 2023 wurde er begnadigt, nachdem er im Krieg gegen die Ukraine gekämpft hatte.

Dass durch die Militarisierung und die Besinnung auf „traditionelle Werte“ auch die Frauenrechte beschnitten werden, verdeutlichen aktuelle Angriffe auf das Recht auf Abtreibung. Dabei sticht insbesondere die Tätigkeit der Stiftung Frauen für das Leben heraus. Diese erhält eine großzügige Finanzierung von der Regierung, um eine vordergründig harmlose Hotline für schwangere Frauen zu betreiben. Deren Mitarbeiter*innen schüchtern Frauen ein, um Abtreibungen zu verhindern. Außerdem lobbyiert sie aktiv für ein gesetzliches Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. In der Republik Mordwinien war sie erfolgreich: seit August 2023 ist dort die „Nötigung zur Abtreibung“ verboten. Mittlerweile zeichnet sich ab, dass sich dieser Trend weiter fortsetzen wird. So hat das Parlament der Region Nishni Nowgorod Mitte Dezember der Duma einen Gesetzesvorschlag unterbreitet, wonach Abtreibungen in Privatkliniken in ganz Russland verboten werden sollen. In seiner alljährlichen Call-in-Sendung Der direkte Draht spielte Putin diese Entwicklung herab und zog einmal mehr den Schutz der „traditionellen Werte“ als Erklärung heran. 

Mobilmachung von Frauen

Bei der Frage der Mobilmachung tut sich unterdessen auch ein weiteres Spannungsfeld auf. Vor kurzem hat die formell private, tatsächlich aber unter staatlicher Kontrolle stehende militärische Organisation Redut angekündigt, Frauen als Drohnenpilotinnen und Scharfschützinnen zu rekrutieren – ein Widerspruch zu den „traditionellen Werten“? Nicht zwangsläufig, erklärt die Sicherheitsforscherin Jennifer Mathers von der Universität Aberystwyth. Denn mit der Frau als Scharfschützin entstehe ein direkter Bezug zum Zweiten Weltkrieg.8 Über 2000 Frauen in der sowjetischen Armee erfüllten diese Rolle, die mit mehr als 300 bestätigten Abschüssen wohl berühmteste unter ihnen war Ljudmila Pawlitschenko.

Außerdem setzen sowohl die Arbeit als Scharfschützin als auch die der Drohnenpilotin Präzision und Geduld voraus – beides klar weiblich codierte Qualitäten. Zudem können Frauen so ohne direkten Kontakt mit dem Feind kämpfen. Solche Rechtfertigungen ermöglichen es selbst dem russischen Verteidigungsministerium, für Frauen an der Front zu werben. Allerdings nur in unterstützenden Rollen: als Ärztinnen und Köchinnen.

Schwieriger würde es, wenn die Mobilmachung der Frauen plötzlich breiter aufgestellt würde. Dann, so Mathers, hätte der Kreml wirklich Mühe, das mit seinen patriarchalen Gesellschaftsnormen in Einklang zu bringen.


1. OWD-Info: Skol'ko ženščin zaderživajut na akcijach protesta? https://www.instagram.com/p/CbSep2gINWT/. 
2. Malakhovskaya, Natalya (1992/1993): Kak Načinalos' Ženskoe Dviženie V Konce 70-Ch [How the Women's Movement Started at the End of the 1970s]. FemInf 1 & 2 (November & April). 
3. Sidorevich, Anna (2020) Samizdat Leningradskogo Ženskogo Dissidentskogo Dviženija Vo Francii [The Samizdat of the Leningrad Women's Dissidence Movement in France]. In Feministskij Samizdat. 40 Let Spustja [Feminist Samizdat: 40 Years Later], 77-88. Moscow: Common Place. 
4. (siehe link oben). 
5. Bias, Leandra (2023) Authoritarian Othering Back and Feminist Subversion: Rethinking Transnational Feminism in Russia and Serbia. Social Politics: International Studies in Gender, State & Society online first. 
6. Bias, Leandra (2023) Winterrede Leandra Bias: Eine feministische Analyse als Antwort auf autoritäre Aggression, Karl der Grosse, 20. Januar: https://tsri.ch/a/Sx2iAbTb5owENH15/winterrede-leandra-bias-eine-feministische-analyse-als-antwort-auf-autoritaere-aggression
7. Bias, Leandra. "Die Internationale Der Antifeministen [the International of Antifeminists]." Republik, 06. June, 2022. https://www.republik.ch/2022/06/06/die-internationale-der-antifeministen  
8. The Moscow Times: Will Russia Send Women Into Combat In Ukraine? https://www.themoscowtimes.com/2023/11/08/will-russia-send-women-into-combat-in-ukraine-a82990
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Wladimir Kara-Mursa

Wladimir Kara-Mursa ist kein Star der früheren Straßenopposition in Russland. Der Oppositionelle bekämpfte das Putin-Regime auf seine Art: Er hat sich in den USA für Sanktionen gegen Moskau eingesetzt. Seit April 2023 sitzt er in einer sibirischen Strafkolonie ein. Das Urteil: 25 Jahre.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)