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Editorial: Fragen meiner Generation

Pjotr Lawrentjew, Republik Kalmückien (Ende 1930er–Anfang 1940er Jahre), Foto – © privat

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Mein Urgroßvater starb, als ich vier Jahre alt war. Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen. Wenn ich ihn treffen wollte, dann wurde mir oft gesagt, er sei sehr krank. Wie ich erst später erfuhr, war er in der Tat schwerkrank. Er war Alkoholiker. Er trank die letzten vier oder fünf Jahrzehnte seines Lebens fast jeden Tag.

In einer Arbeiterfamilie in der Provinz des Russischen Reiches 1906 geboren, machte Pjotr Lawrentjew in den 1920er und 1930er Jahren eine steile Karriere, die der Oktoberrevolution zu verdanken ist. Er fängt an, in einer Fabrik zu arbeiten, tritt bald der kommunistischen Partei bei und studiert am sogenannten Institut der Roten Professur, einer Moskauer Hochschule für die Ausbildung der höchsten ideologischen Parteikräfte. Die soziale Mobilität, die in der Zeit des Großen Terrors eher einer schrecklichen sozialen Turbulenz ähnelte, katapultiert ihn in die Höhe, weit nach oben. Nach den Stalinschen Säuberungen 1937–38 wurde er zum Delegierten auf dem 18. Parteitag (1939) und Mitglied der Zentralen Revisionskommission, letztlich zum Ersten Parteisekretär in der Republik Kalmückien, einer Region im Süden Russland. Seine Position entsprach in etwa der eines Gouverneurs.

Seine rasche Karriere war schon beeindruckend. Sehr lang dauerte sie allerdings nicht. Während des Großen Vaterländischen Kriegs gab es zu viele Opfer in der Bevölkerung Kalmückiens, was anscheinend unter anderem mit einer schlecht organisierten Evakuierung zu tun hatte. Außerdem fand in der Republik ein antibolschewistischer Aufstand statt. 1943 wurde er entlassen und …

Ja, alle dachten, es kommt noch ein „und ...“ und er selbst hat das ganze weitere Leben auf dieses „und“ gewartet. Er hatte erwartet, dass er verhaftet und erschossen wird, wie es mit einem großen Teil seiner Professoren, Mitstudenten, Kollegen, Vorgänger beim Parteitag und in der Revisionskommission geschah. Er wurde aber einfach auf einen niedrigen Posten versetzt, leitete seit 1944 einige Jahre eine Hochschule in der zentralrussischen Provinz. Die Hochschule, an der später meine Mutter, mein Vater und für jeweils ein Jahr auch mein Bruder und ich studierten. Ich erinnere mich noch an den Stolz, als ich am ersten Studientag in die Universität kam und das Foto meines Urgroßvaters an der Wand sah.

Und jetzt, 2018, sehe ich mir auch ein altes Fotos von ihm an: Er sitzt in einem Zimmer, das Licht dringt durch das Fenster, so dass eine Schulter beleuchtet und die zweite im Dunkel bleibt. Er trägt, wie Trotzki, eine runde Brille, die er immer aufhatte, und den sogenannten stalinschen Frentsch – ein Symbol der damaligen Nomenklaturmode. Ich sehe nun sein Foto an und weiß nicht, wer er eigentlich war. War er ein Funktionär, der von der Stalinschen Säuberungen profitierte? Hat er beigetragen zum schrecklichen Verbrechen, zur Zwangsdeportation des ganzen kalmückischen Volkes, die seiner Amtszeit unmittelbar folgte? Oder kann man ihn mit seinem jahrzehntelangen Alkoholismus als ein Opfer der Stalinzeit bezeichnen?

Wenn man heutige Medienberichte in Russland genau anschaut, fällt sofort auf, dass die Stalinzeit plötzlich ins Zentrum der öffentlichen Diskussion rückt. Das Aus für The Death of Stalin, das Errichten neuer Stalin-Denkmäler, die strafrechtliche Verfolgung eines Aktivisten oder auch die Versuche von Denis Karagodin, ein Gerichtsverfahren gegen Stalin zu eröffnen: Das alles zeigt, dass diese traumatisierte Epoche wieder aktuell wird, neu aufgerollt und thematisiert wird. Und die Mediendebatten werden meistens emotional so heftig geführt, als ob die Stalinschen Säuberungen nicht vor 80 Jahren, sondern gestern stattfanden.

Wir bei dekoder haben entschieden, dass wir über das ganze Jahr 2018 diese Debatten in einem neuen Dossier beobachten, abbilden und kontextualisieren. Wie werden die Stalinschen Säuberungen im heutigen Russland wahrgenommen? Was verbindet man mit Stalin und warum spricht man nun über eine schleichende Stalinisierung? Wie verlief der Prozess der Ent-Stalinisierung nach Stalins Tod? Hängt eine Re-Stalinisierung mit einer misslungenen Ent-Stalinisierung zusammen? Damit beschäftigen wir uns in dem Dossier Stalin: Zwischen Kult und Aufarbeitung, das wir mit freundlicher Unterstützung der Stiftung für Aufarbeitung der SED-Diktatur durchführen.

Viele Russen meiner Generation stellen sich diese Fragen. Das ist eine Generation, die nicht nur die offizielle Geschichte der Lehrbücher kennt, sondern auch die Zusammenhänge verstehen und erfahren möchte, welche Rolle ihre Vorfahren dabei gespielt haben.

Wir haben viel zu tun.

Euer Leonid
Gnosenredakteur

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Der Große Terror

„Zwischen dem Parteiausschluß und meiner Verhaftung vergingen acht Tage. Während dieser Tage blieb ich zu Hause und schloß mich in mein Zimmer ein. Ich nahm den Telefonhörer nicht ab. Ich wartete … Und alle meine Lieben warteten auch. Worauf warteten wir? Wir erklärten einander, daß wir auf den Urlaub meines Mannes warteten, […]. Sobald er beurlaubt ist, wollen wir nach Moskau fahren um weiter zu kämpfen. […] Aber insgeheim wußten wir ganz genau, daß alles das nicht eintreten würde, daß wir auf etwas ganz anderes warteten.“1

So erinnert sich die Journalistin und Autorin Jewgenija Ginsburg in ihren Memoiren2 an das Warten auf ihre Verhaftung. Es ist das Jahr 1937, der Höhepunkt des Großen Terrors, den das sowjetische Regime unter der Herrschaft Josef Stalins zunächst gegen die Eliten der Kommunistischen Partei entfacht, dann zunehmend gegen die gesamte Bevölkerung. Ginsburg wird im Februar 1937 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und als eine angebliche Trotzkistin zu zehn Jahren Haft verurteilt. Insgesamt wurden zwischen 1936 und 1938 rund 1,6 Millionen Menschen verhaftet, knapp die Hälfte davon ermordet.3

Als einer der Auslöser für den auch als große Säuberungen bezeichneten Terror gilt die Ermordung des Ersten Leningrader Parteisekretärs Sergej Kirow am 1. Dezember 1934. In diesem Zusammenhang werden zunächst vor allem Leningrader Parteifunktionäre verhaftet, aber dann „zog die Affäre immer weitere Kreise, wie die Wellen, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft.“4 Für Ginsburg beginnt, wie für Millionen ihrer Landsleute, eine Zeit der Verunsicherung und des bangen Wartens. Eine Zeit, für die der britische Historiker Robert Conquest in seiner 1968 erschienenen Monografie den Begriff Großer Terror einführt.5

Altgediente Bolschewiki werden inhaftiert, einstige Vorbilder als „Volksfeinde“ entlarvt. Im Jahr 1936 kommt es in Moskau zu einem ersten Schauprozess, bei dem Grigori Sinowjew und andere bolschewistische Veteranen ihren Verrat an der Partei einräumen und zum Tode verurteilt werden – die Geständnisse waren unter Folter erpresst worden.6 Sowjetische Medien berichten ausführlich von diesem und den folgenden Schauprozessen: „Die Zeitungsblätter ätzten, verwundeten und vergifteten das Herz, wie der Stachel eines Skorpions. Nach jedem Prozeß wurde die Schlinge enger gezogen.“7

Fünf, vier, drei, zwei: Auf dem Originalbild von 1926 ist Stalin mit seinen Weggefährten abgebildet, v.l.n.r.: Nikolaj Antipow, Josef Stalin, Sergej Kirow, Nikolai Schwernik und Nikolai Komarow. Nach und nach entzieht ihnen Stalin seine Gunst, Antipow und Komarow fallen 1937 bzw. 1938 dem Großen Terror zum Opfer. Das Bild wird parallel dazu beschnitten und retuschiert. Am Ende steht Stalin nur noch mit seinem Günstling Kirow da, der 1934 unter ungeklärten Umständen von einem Attentäter erschossen wurde.

Die Repressionen beschränken sich längst nicht mehr auf Moskau, sie schwappen auch in die sowjetische Provinz über. Jewgenija Ginsburg wird im Februar 1937 in Kasan wegen der angeblichen Mitgliedschaft in einer terroristischen Untergrundorganisation verhaftet. Im August 1937 wird sie zu zehn Jahren Isolationshaft8 verurteilt, die später in Lagerhaft umgewandelt werden wird. Ihre Erleichterung über das Urteil ist groß: „Plötzlich wird es um mich hell und warm. Zehn Jahre? Das bedeutet: Leben!“9

Ginsburgs Freude lässt sich nur aus dem zeitlichen Kontext heraus erklären: Bei geschätzt 680.000 Todesurteilen, die zwischen 1936 und 1938 gefällt wurden,10 erscheinen zehn Jahre Gefängnis für ein nicht begangenes Verbrechen tatsächlich als mildes Urteil.

Jeschowschtschina

Neben Mitgliedern der Kommunistischen Partei geraten auch andere Gesellschaftsgruppen ins Visier der sowjetischen Organe: Die Rote Armee wird ebenso „gesäubert“ wie die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten. Eine nochmalige Verschärfung der ohnehin angespannten Situation ergibt sich durch den von NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichneten und einen Tag später vom Politbüro bestätigten Befehl № 00447 „Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente“.11 Damit kann praktisch jeder Sowjetbürger zum sogenannten „Volksfeind“ erklärt werden.

Für die einzelnen Republiken, Gebiete und Kreise der Sowjetunion legt der Befehl Kontingente fest – um den Plan zu erfüllen, kommt es massenhaft zu willkürlichen Verhaftungen und Verurteilungen.12 Dem Befehl № 00447 folgt eine Operation, die sich gegen Angehörige ethnischer Minderheiten in der Sowjetunion richtet: gegen Polen, Deutsche, Koreaner und andere.13 Organisiert und ausgeführt wird diese – wie die Repressionen zuvor und danach – durch den NKWD, gebilligt durch das Politbüro unter der Führung Stalins, der zahlreiche Listen mit Todesurteilen selbst unterzeichnet.14

Ein Ende der Massenrepressionen deutet sich ab dem Sommer 1938 an. Im November 1938 wird NKWD-Chef Jeschow durch Lawrenti Berija ersetzt.15 Der Sturz Jeschows bringt zwar ein Ende der Massenrepressionen, in einen Rechtsstaat verwandelt sich die Sowjetunion jedoch keineswegs. Bis zu Stalins Tod 1953, und in abgeschwächter Form auch darüber hinaus, werden Operationen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, vermeintliche „Volksfeinde“ und „anti-sowjetische Elemente“ organisiert und durchgeführt.

1937 in der Erinnerungskultur

Zur Rechenschaft gezogen wird dafür auch nach dem Ende der Sowjetunion niemand. Eine 2007 anlässlich des 70. Jahrestages des Großen Terrors veröffentlichte Meinungsumfrage besagt, dass eine Mehrheit der russischen Bevölkerung keinen Sinn in einer juristischen Verfolgung möglicher Organisatoren und Ausführenden der Repressionen sehe. Fast die Hälfte (49 Prozent) der Befragten sprach sich dafür aus, diese „in Ruhe zu lassen“, da die Repressionen bereits zu lange her seien. Lediglich 26 Prozent befürworteten ein juristisches Verfahren.16

 


Quelle: Lewada-Zentrum

Dass die Ergebnisse im Jahr 2017 anders ausfallen würden, kann bezweifelt werden. Auch Stalin selbst erfreut sich wieder hoher Beliebtheitswerte: 46 Prozent der vom Lewada-Zentrum im Januar 2017 befragten Russen gaben an, Stalin mit „Begeisterung“, „Verehrung“ oder „Sympathie“ zu begegnen, im März 2016 hatte dieser Wert bei 37 Prozent gelegen. Allerdings stieg auch die Zahl derjenigen an, die dem Diktator mit einem unguten Gefühl, „Angst“ oder „Hass“ begegneten: von 17 auf 21 Prozent.17

Jewgenija Ginsburgs Gefängnishaft wird 1939 in zehn Jahre Lagerhaft umgewandelt, die sie in unterschiedlichen Lagern des Gulags an der Kolyma verbringt. Erst 1953 darf sie nach Zentralrussland reisen, 1955 wird sie vollständig rehabilitiert. Sie wird weder ihren älteren Sohn, der 1944 bei der deutschen Belagerung Leningrads starb, noch ihren Mann, der kurz nach ihr verhaftet wurde, wiedersehen.


Zum Weiterlesen:
Memorial Krasnojarsk: „Der Große Terror“: 1937-1938: Kurz-Chronik
Schlögel, Karl (2008): Terror und Traum: Moskau 1937, München

1.Ginsburg, Jewgenija Semjonowna (1967): Marschroute eines Lebens, Reinbek bei Hamburg, S. 42
2.Die Memoiren sind im italienischen Tamisdat erschienen. Ginsburg, Jewgenija Semjonowna (1967): Marschroute eines Lebens (Teil 1), Reinbek bei Hamburg und Ginsburg, Jewgenia (1980): Gratwanderung (Teil 2), München/Zürich
3.Bonwetsch, Bernd (2014): Gulag: Willkür und Massenverbrechen in der Sowjetunion 1917–1953: Einführung und Dokumente, in: Landau, Julia/Scherbakowa, Irina: Gulag Texte und Dokumente 1929–1956, S. 30–37, hier S. 36. Vor der Öffnung der sowjetischen Archive kursierten wesentlich höhere Zahlen.
4.Ginsburg: Marschroute eines Lebens, S. 11
5.Conquest, Robert (1993): Der Große Terror: Sowjetunion 1934–1938, München. Der Begriff knüpft an den bereits zu Bürgerkriegszeiten gebrauchten Terminus des Roten Terrors an, der seinen Ursprung wiederum in der Französischen Revolution hat.
6.vgl. Baberowski,Jörg  (2012): Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt, München, S. 247
7.Ginsburg: Marschroute eines Lebens, S. 27
8.Isolationshaft ist in diesem Fall nicht gleichzusetzen mit Einzelhaft. Die meiste Zeit ihrer zweijährigen Gefängnisstrafe verbrachte Ginsburg gemeinsam mit einer weiteren Gefangenen in einer Zelle, von den anderen Häftlingen waren sie weitgehend isoliert. Dennoch gelang es ihnen, etwa über Klopfzeichen, miteinander zu kommunizieren.
9.Ginsburg: Marschroute eines Lebens, S. 156
10.vgl. Fußnote 5
11.Eine deutsche Übersetzung des Befehls № 00447 sowie eine umfangreiche Darstellung und Analyse der Operation findet sich in Binner, Rolf /Bonwetsch,Bernd /Junge, Marc (2009): Massenmord und Lagerhaft: Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin
12.vgl. und siehe dazu ausführlich ebd.
13.siehe dazu ausführlich Baberowski: Verbrannte Erde, S. 341–354, außerdem Martin,Terry (2000): Terror gegen Nationen in der Sowjetunion, in: Osteuropa: Unterdrückung, Gewalt und Terror im Sowjetsystem, Nr. 6 (2000), S. 606–616 sowie Polian,Pavel (2003): Soviet Repression of Foreigners: The Great Terror, the Gulag, Deportations, in: Dundovich, Elena/Gori, Francesca/Guerctti, Emanuela (Hrsg.): Reflections on the Gulag: With a documentary appendix on the Italian victims of repression in the USSR, Mailand, S. 61–103
14.Stalins Verantwortung für die Massenrepressionen wird durch Studien belegt, die historisches Quellenmaterial auswerten. Besondere Beachtung hat die Monografie Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt von Jörg Baberowski gefunden, auf die bereits verwiesen wurde. Zur Kritik an Baberowski siehe die Ausgabe Im Profil: Stalin, der Stalinismus und die Gewalt der Zeitschrift Osteuropa (4/2012).
15.Jeschow wird im April 1939 verhaftet und im Februar 1940 erschossen.
16.levada.ru: Obščestvennoe Mnenie – 2007 – hier: S. 258
17.RBC: Ljubov rossijan k Stalinu dostigla istoričeskogo maksimuma za 16 let. Die in dem Artikel verwendeten Umfragedaten stammen vom Lewada-Zentrum.
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)