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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Russlands Jugend und der Zweite Weltkrieg

„Dieser kleine Soldat kann jedem Erwachsenen eine Lektion in Sachen Tapferkeit, Patriotismus und Standhaftigkeit erteilen,“1 heißt es in einer Beschreibung des Films Soldatik (dt. Der kleine Soldat), der 2018 in die russischen Kinos kam. Der sechsjährige Serjosha Aleschkow wird von Rotarmisten aufgenommen, nachdem deutsche Soldaten seine Familie getötet haben. Serjosha kämpft gemeinsam mit ihnen gegen die deutschen Faschisten, wird für seinen Mut mit einem Orden ausgezeichnet und findet in dem Kommandanten seiner Einheit und einer Front-Krankenschwester schließlich eine neue Familie. Der mit Ressourcen des russischen Kulturministeriums finanzierte Film basiert auf einer wahren Begebenheit und ist für ein Publikum ab sechs Jahren freigegeben.

Kulturelle Produktionen wie Soldatik zeigen, wie früh Kinder in Russland mit dem Krieg konfrontiert werden. Doch wie bewerten Russlands junge Generationen den Zweiten Weltkrieg? Und wie geht Russlands Jugend mit dem offiziellen Geschichtsbild des Kreml um?

In der Liste der stolzstiftenden Ereignisse der russischen Geschichte, die das renommierte Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum seit 1999 führt, ist Jahr für Jahr vieles in Bewegung. Nur der erste Platz scheint für immer vergeben zu sein: der Große Vaterländische Krieg. Das sieht tatsächlich nach einem Konsens aus in der sonst oft polarisierten russischen Gesellschaft: Der Große Vaterländische Krieg ist das zentrale Ereignis der Geschichte. 

Junge Menschen im Blick

Wie die jüngsten Umfragen des Berliner Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) belegen: Auch für junge Menschen ist das so.2

Und das ist nicht nur auf die Geschichtspolitik des Kreml zurückzuführen: Nirgendwo sonst hat der Zweite Weltkrieg so viele Opfer gefordert wie in der Sowjetunion. Nahezu jede Familie hatte Tote zu beklagen, in manchen Dörfern kehrten ganze Jahrgänge nicht aus dem Krieg zurück.3 Der Sieg über das zunächst übermächtig erscheinende nationalsozialistische Deutschland am 9. Mai 1945 nimmt eine entsprechend wichtige Rolle in den Erinnerungskulturen der sowjetischen Nachfolgestaaten ein. 

In Russland wurde der Sieg nach 1991 zu einer wichtigen Ressource in der Entwicklung einer postsowjetischen russischen Identität. Die russische Führung versucht seit den 1990er Jahren, sich die innen- wie außenpolitische Deutungshoheit über dieses historische Ereignis zu sichern. In den staatlichen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges, in neuen Lehrbüchern für den Geschichtsunterricht und staatlich geförderten Kulturproduktionen steht der heroische Sieg über das faschistische Deutschland im Vordergrund. So entsteht das Bild einer ruhmreichen Vergangenheit, an das der heutige russische Staat nahtlos anzuknüpfen scheint. Und viele dieser Maßnahmen richten sich explizit an junge Menschen, deren Geschichtsbild als noch formbar gilt. 

Bereits für Kindergärten gibt es ein Programm zur patriotischen Erziehung, wobei entscheidende Schlachten des Krieges im Sandkasten nachgestellt werden sollen. Viel diskutiert wurde in den letzten Jahren auch eine Reihe von neuen Vorgaben für den Geschichtsunterricht, jüngst in Form eines „historisch-kulturellen Standards“, der die grundlegende inhaltliche Ausrichtung des Geschichtsunterrichts festlegt. 

Allerdings hängt gerade im Schulunterricht auch viel vom Gestaltungswillen des Lehrpersonals ab. So können Lehrkräfte im Fach Russische Literatur aus einer Vielzahl von Texten wählen, die den Großen Vaterländischen Krieg thematisieren. Unter diesen Texten finden sich durchaus solche, die ein sehr differenziertes Bild des Krieges zeichnen, etwa Wassili Grossmanns epischer Roman Shisn i Sudba (Leben und Schicksal, 1980). Weniger differenziert sind Freizeitangebote, die der patriotischen Erziehung der Jugend dienen. Dazu zählen etwa das „russische Disneyland“, wie der Park Patriot in der Nähe von Moskau oft genannt wird, der ausschließlich dazu dient, den russischen militärischen Ruhm zu feiern. Oder die 2016 gegründete Jugendorganisation Junarmija (dt. Junge Garde), die in den jährlichen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges involviert ist und sich auch darüber hinaus regelmäßig an lokalen Veranstaltungen zur Ehre von Veteranen beteiligt. Was denkt nun Russlands junge Generation über den Krieg? Das ZOiS hat dazu in den Jahren 2018, 2019 und 2020 Meinungsumfragen unter jungen Russinnen und Russen (16–34 Jahre) durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Ansichten der jungen Menschen oft differenzierter sind, als es die aktuelle russische Geschichtspolitik vermuten ließe. Und dass sie Widersprüche enthalten, die nicht immer aufzulösen sind. 

Stolz und Dankbarkeit gegenüber den (Ur-)Großeltern, aber auch gegenüber dem Staat, dominieren die Ansichten der jungen Leute. In einem Interview unterstrich eine junge Frau ihren Stolz darauf, „dass ausgerechnet unser Land dieser schlechten Seite der Geschichte ein Ende bereitet hat.“4 

Russlands Jugend teilt laut der Studie die Ansicht, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für die Gegenwart relevant ist und gepflegt werden muss. Überraschenderweise aber empfinden viele junge Menschen die alljährlichen staatlichen Gedenkfeierlichkeiten zum 9. Mai als dem historischen Ereignis unangemessen. Sie kritisieren, unabhängig von ihrer politischen Einstellung, dass die russische Führung den 9. Mai für ihre Agenda missbraucht, die nichts mit dem historischen Ereignis gemein hat. Die Präsentation heutiger Stärke ist dem Kreml dabei wichtiger als das eigentliche Gedenken. Auf Kritik stoßen auch die enormen finanziellen Ressourcen, die für die Siegesfeierlichkeiten aufgewendet werden, während, wie es eine junge Frau ausdrückt, „in den Dörfern Veteranen verhungern“. Viele würden intimere Erinnerungsformen bevorzugen, etwa im Familienkreis, bei dem auch daran erinnert werde, dass – so ein junger Mann – „der Sieg durch die Opfer der Menschen errungen wurde, nicht durch den Staat.“ 

Allerdings rücken die Opfer, die für diesen Sieg erbracht wurden, in den Erzählungen vieler junger Menschen in den Hintergrund. Das ist in Anbetracht der familiären Betroffenheit in Russland erstaunlich. Auch in Politikerreden5 und in den zahlreichen medialen Verarbeitungen werden die Opferbereitschaft und das Leid der Bevölkerung im Krieg häufig thematisiert – nicht zuletzt, weil es ohne Opfer keine Helden geben kann. Stattdessen dominieren heroische Momente – etwa der eigentliche Tag des Sieges – die Erinnerungen der jungen Menschen. 

Streit- und Tabuthemen

Die Rolle Josef Stalins wird von Russlands junger Generation unterschiedlich eingeschätzt. Zwar sind sich die jungen Menschen der stalinistischen Repressionen bewusst, denen die sowjetische Bevölkerung auch während des Krieges ausgesetzt war.6 Ihre Bewertung des totalitären Herrschers unterscheidet sich aber je nach politischer Selbstverortung. 

Regimekonforme junge Russinnen und Russen loben Stalins positiven Beitrag für den Sieg und den Wiederaufbau des Landes. Regimekritische junge Menschen kritisieren die exzessive Gewalt gegen die eigene Bevölkerung. Gleichzeitig betonen aber selbst sie, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg ohne die harte Hand Stalins wohl nicht errungen worden wäre. So sagt ein junger Mann im Interview: „Mit jemandem wie Nikolaus II. wäre alles ganz anders gewesen, die Soldaten wären desertiert, denn es hätte nichts gegeben, wovor sie sich gefürchtet hätten.“ Insgesamt bewerten junge Menschen in Russland Stalin allerdings kritischer als die Gesamtbevölkerung.7  

Ein Tabuthema bleibt unter jungen Russinnen und Russen – gleich welcher politischen Einstellung – bestehen: Kriegsverbrechen der Roten Armee werden entweder geleugnet oder relativiert. Eine junge Interviewte sagte etwa: „Wenn wir uns daran erinnern, was die Deutschen uns angetan haben, dann war das alles weitaus schlimmer.“ Diese Ansichten decken sich mit den Bemühungen der russischen Politik, das Andenken der Roten Armee zu bewahren, indem jegliche Kritik verbannt wird. Seit 2014 ist es möglich, öffentlich geäußerte Kritik an der Roten Armee strafrechtlich zu verfolgen

Die Überzeugungen der jungen Menschen gehen mit einem gesamtgesellschaftlichen Schweigekonsens einher, der seit dem Ende des Krieges besteht: Nur wenige Soldaten haben es gewagt, über die Kehrseite des heldenhaften Krieges, über Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde an der Zivilbevölkerung zu sprechen. Werke wie das Langpoem Prusskije notschi (Ostpreußische Nächte, 1974) von Alexander Solschenizyn oder Daniil Granins lange Erzählung Po tu storonu (Jenseits, 2003), die beide unter anderem die Vergewaltigung deutscher Frauen problematisieren, bleiben in Russland absolute (und hoch umstrittene) Ausnahmen.

Sehnsucht nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt

Auch wenn es einige Punkte gibt, in denen Russlands junge Generation andere Auffassungen vertritt als die russische Führung, besteht doch im Großen und Ganzen eine hohe Zustimmung zu den Narrativen, die der Kreml seit Anfang der 2000er Jahre und verstärkt seit Wladimir Putins dritter Amtszeit zu implementieren versucht. Unter jungen Russinnen und Russen lässt sich eine gewisse Sehnsucht nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt konstatieren, die den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland überhaupt erst ermöglicht hat. Es werden auch die brüderlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Völkern der Sowjetunion thematisiert, wobei die dominante russische Rolle darin nicht hinterfragt wird. 

Eine Rede von Waleri Gassajew, Vorsitzender des Duma-Ausschussesfür Nationalitäten, zeigt, wie nahe diese Vorstellungen an der offiziellen Linie des Kreml sind. Im Februar 2020 beschwor Gassajew anlässlich eines Rundtischgesprächs zum Thema Die historische Erinnerung der Völker Russlands an den Großen Vaterländischen Krieg. Verbindung der Generationen die nationale Einheit, die dem „größtmöglichen Sieg“ vorausgegangen sei. Gleichzeitig lässt sich an diesem Beispiel illustrieren, wie Geschichte für die Gegenwart nutzbar gemacht wird: „Es ist wichtig, dass junge Menschen die untrennbare Verbindung zwischen den Generationen spüren, den Beitrag der multinationalen Bevölkerung zum größten Sieg in der Geschichte der Menschheit – den Sieg über den Faschismus – kennen und stolz darauf sind. Die heldenhaften Errungenschaften unseres Volkes waren und sind das beste Beispiel und die beste Quelle für die Erziehung zum Patriotismus, zur Liebe zur eigenen Heimat. Das Erbe des großen Sieges ist eine mächtige, einheitliche Grundlage für die Entwicklung des modernen Russlands.“8


1.kino-teatr.ru: Soldatik (2018)  
2.Krawatzek, Félix/Friess, Nina (2020): ZOiS Report No. 1/2020 „World War II for Young Russians: The Production and Reception of History“ 
3.Etwa 27 Millionen sowjetische Bürgerinnen und Bürger wurden im deutschen Vernichtungskrieg ermordet, darunter schätzungsweise 19 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten. Über die genaue Zahl sowjetischer Kriegstoter gibt es nach wie vor Diskussionen, mitunter werden auch noch höhere Opferzahlen genannt
4.Alle hier zitierten Interviews wurden im Juni 2019 im Rahmen von Fokusgruppeninterviews erhoben, die das ZOiS in Sankt Petersburg und Jekaterinburg unter jungen Russinnen und Russen durchführte. Die Fokusgruppen wurden unter jungen Menschen im Alter von 16 bis 34 Jahren durchgeführt und bestanden jeweils aus Personen, die ähnliche politische Ansichten (regimekonform, regimekritisch, politisch indifferent) hatten, um die freie Äußerung der eigenen Meinung zu stimulieren. 
5.tass.ru: Putin otložil podgotovku k paradu pobedy 
6.Andere Meinungsumfragen zeigen allerdings, dass dieses Wissen unter jungen Russinnen und Russen nicht mehr so weit verbreitet ist wie bei älteren Generationen. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WCIOM aus dem Jahr 2018 gaben 47 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und 30 Prozent der 25- bis 34-Jährigen an, nichts von den stalinistischen Repressionen zu wissen. 
7.levada.ru: Dinamika Otnošenija k Stalinu 
8.Ria Novosti: V GD Otmetili rol' edinstva naroda v pobede v Belikoj Otečestvennoj 

 

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)