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Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Daniil Granin

„Schreiben Sie über sich?“ „Ach wo, diesen Menschen gibt es schon lange nicht mehr.“ Seinem letzten Roman Moi leitenant (2011, Mein Leutnant), den der sowjetisch-russische Schriftsteller Daniil Granin in hohem Alter schrieb, sind diese Worte vorangestellt. Der Zwiespalt zwischen dem Kriegserleben des jungen Soldaten, der sich 1941 euphorisch-naiv als Freiwilliger an die Leningrader Front gemeldet hatte, und dem Autor, der in seinen Texten über die Tücken der Erinnerung und die Gefahren der ideologisierten Geschichtsschreibung und des historischen Vergessens schrieb, zieht sich wie ein roter Faden durch Granins umfangreiches Werk. Diese innere Spaltung führte ihn auf dem schmalen Grad zwischen sozialistischem Pathos und Regimekritik zur fortwährenden Reflektion basaler Fragen des Menschseins, des ethisch-moralischen Handelns, der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit.

Granin war patriotischer Kriegsveteran und beharrlicher Kritiker des heroischen Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg zugleich. Er war ein stiller Mahner, der sich einem ethisch-humanistischen Auftrag verpflichtet sah, aber kein Dissident, der dem sowjetischen System ernsthaft gefährlich werden konnte. Er erlebte die grausamen Verbrechen der deutschen Wehrmacht im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und kämpfte selbst gegen die Deutschen. Und später suchte er bewusst die Freundschaft mit Deutschen – unter anderem mit Heinrich Böll, Günter Grass oder Christa Wolf.

Geboren wurde er am 1. Januar 1919 als Daniil Alexandrowitsch German in Zentralrussland. Die Familie zog aber bald nach Petrograd (später Leningrad) um, in die Stadt, mit der sein Leben und sein Werk auf das engste verbunden sind. Auf sein Studium der Elektrotechnik folgte die Zeit als Soldat und Kommandeur einer Panzerkompanie in Ostpreußen und die Mitarbeit am Wiederaufbau der Elektrizitätswerke. Seine aussichtsreiche akademische Karriere am Polytechnischen Institut brach er kurz vor der Verteidigung zu Gunsten seiner schriftstellerischen Tätigkeit ab1, für die er sich das Pseudonym Granin zulegte.

Das menschliche Ethos bewahren

Leitend in seinen literarischen und essayistischen Texten war von Anfang die Frage, wie der Einzelne auch unter extremen historischen, politischen oder ideologisch verhärteten Bedingungen sein menschliches Ethos im Alltag bewahren kann. Dies thematisierte er vor allem in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Verantwortung des Wissenschaftlers, Ingenieurs und Intellektuellen, die für ihn zentrale Figuren der Wahrheitssuche darstellten.

Nach ersten kleineren Veröffentlichungen in der Zeitschrift Swesda (dt. „Stern“)2 waren es vor allem die Romane Iskateli (1954, Bahnbrecher) und Sobstwennoje Mnenije (1956, Die eigene Meinung) über die Konflikte zwischen ambitionierten Wissenschaftlern und der engstirnigen Bürokratie der Stalinzeit, die ihn auch international bekannt machten. Zu Granins wichtigsten Büchern der Tauwetterzeit gehörte der Roman Idu na grosu (1962, Dem Gewitter entgegen) über zwei Physiker, die auch in extremen Konfliktsituationen Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt bewahren. Dieses Thema verfolgte er auch später in seinem Dokumentar-Roman Subr (1987, Sie nannten ihn Ur) über den bekannten Genetiker Nikolai Timofejew-Ressowski.

Verklärte Bilder der Vergangenheit

Eine zentrale Stelle nimmt in Granins Werk jedoch die kritische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg ein. In seiner Novelle Nasch kombat (1968, Unser Bataillionskommandeur) treffen Jahre nach dem Krieg einige Veteranen zusammen, die 1942 in einem Bataillon der Roten Armee gegen die Deutschen gekämpft hatten. Sie sind physisch und psychisch versehrt, von den Wunden und dem Schock, die Krieg und Gewalterfahrungen an ihnen hinterlassen haben. Dennoch sind sie immer noch vereint in der Gewissheit, heroisch die Verteidigung ihres sowjetischen Vaterlands auf sich genommen zu haben. Ausgerechnet der idealisierte und als Held in Erinnerung gebliebene Kommandeur räumt mit den verklärten Bildern der Vergangenheit auf: Schlechte Vorbereitung seiner militärischen Leitung, ungenügende Ausstattung des Trupps und weitgehende Strategielosigkeit hätten damals vorgeherrscht. Der Tod vieler Soldaten, die traumatischen Erfahrungen und die moralische Überforderung der Überlebenden wären bei besserer Planung und Ausstattung vermeidbar gewesen, so die retrospektiv überraschende Deutung.

Die kritische Rezeption der Novelle seitens der offiziellen sowjetischen Literaturkritik war vorhersehbar. Der Umgang Granins mit dem Kriegsthema passte nicht ins erinnerungspolitische Konzept der Sowjetunion der Breshnew-Ära, in der das heroische Bild vom Krieg zum umfassenden Kult institutionalisiert wurde.3 Granins autobiographisch motivierte Kritik an der sowjetischen Kriegsführung und an der Sinnlosigkeit des Todes vieler Soldaten, die patriotisch und enthusiastisch in den Krieg hineingestolpert waren, wurde von der Parteipresse scharf gerügt. Dennoch konnte der Text zunächst erscheinen und lag auch bald in Übersetzungen vor.4

Suche nach dem Schmerz

„Der Historiker sucht Antworten auf Fragen. Der Schriftsteller sucht den Schmerz. Er sucht den Schmerz auf Fragen, auf die man keine Antwort findet“5, vermerkte Granin 2007 in einem Interview. In vielen Prosatexten und Essays Granins werden die traumatischen Kriegserlebnisse und zwiespältigen individuellen Erfahrungen von Angst, Gewalt, Schuld und Hass thematisiert. Wie viele Autoren seiner Generation, die den Krieg selbst erlebt haben, schreibt Granin damit gegen die heroisierten Siegesmythen an, die die offizielle Kriegserinnerung prägten. Diese sogenannte „Leutenantsprosa“ setzt dem Massenheroismus des offiziellen Diskurses die subjektiven, schmerzhaften, wenig heroischen „Schützengrabenwahrheiten“ entgegen: Dabei werden auch die monströsen Verbrechen der Deutschen und die brutale Gewalt der sowjetischen Armee etwa an deutschen Kriegsgefangen thematisiert, allerdings eher selten in ihrem traumatischen Ausmaß reflektiert. Mit der „Leutenantsprosa“ „fand die emotionale Verstörung Eingang in die Literatur, nicht aber die existentielle Verstörung“.6

Granin versuchte in seiner Prosa, die ideologischen Überblendungen der ritualisierten Kriegserzählungen aufzubrechen und der eindimensionalen Sicht auf die Vergangenheit entgegenzuwirken. In seiner späten Erzählung Po tu storonu (2003, Jenseits) demontiert er die festgefahrenen Täter-Opfer-Stereotype. Die Verbrechen der Roten Armee werden hier im Treffen und Dialog von zwei ehemaligen Feinden als Resultat einer brutalen Dialektik des Kriegs reflektiert: Sowjetische Soldaten, die die Grausamkeiten der Deutschen erlebt haben, wurden selbst zu kaltblütigen Tätern an Unschuldigen. Ohne die Verbrechen gleichzusetzen plädiert der Text für gegenseitige Empathie. Sowohl in seinen literarischen Texten als auch bei öffentlichen Auftritten stand Granin in seinen letzten Lebensjahren für die Aufarbeitung der auch heute noch vielfach verdeckten historischen Verbrechen und der Leerstellen der Erinnerung.

Das Blockadebuch

Wie viele sowjetische Autoren der Kriegs- und Nachkriegsgeneration schrieb Granin dem Schriftsteller eine wichtige gesellschaftliche Funktion zu. Er verstand ihn als Vermittler der aus der authentischen Erfahrung hervorgegangenen historischen „Wahrheit“. Ein Meilenstein in der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs ist in diesem Zusammenhang das Blokadnaja kniga (Blockadebuch), das Granin gemeinsam mit dem belarussischen Schriftsteller Ales Adamowitsch herausgab. Die Sammlung von Zeitzeugengesprächen und Tagebucheinträgen über die Gräuel der Belagerung Leningrads erschien 1977 bis 1981 stark zensiert. Damit kamen erstmals Überlebende mit ihren ganz persönlichen Erinnerungen an den grausamen Alltag in der belagerten Stadt jenseits der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung zu Wort.7

Granin und Adamowitsch wollten, dass das Blockadebuch als Plädoyer für ein menschliches „Heldentum“ verstanden wird, das nicht aus dem Sieg, sondern aus dem Leiden der Blokadniki geboren ist. Mit diesem Buch traten sie auch gegen das Vergessen und für eine Erweiterung des kollektiven Gedenkens auf. Beide Aspekte waren für Granins lebenslange Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit8 leitend. Sie findet man sowohl in seinen Erinnerungen Strach (1997, Jahrhundert der Angst), worin er sich mit den Repressionen der Stalinzeit und dem Zusammenbruch der Sowjetunion auseinandersetzt, als auch in seinem viel beachteten autobiographischen Roman Mein Leutnant, worin er nochmals selbst- und gesellschaftskritisch über seine Kriegserfahrungen reflektiert. Auch in seiner letzten großen Rede, die er 2014 anlässlich der Feierstunde zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag hielt, und in der er die Blockade Leningrads ins Zentrum des Gedenkens stellte, finden sich diese beiden Gedanken.

Symbol der Erinnerungskultur

Granin gehörte zu den wenigen Autoren, die bereits zu Sowjetzeiten populär waren und auch in postsowjetischen Zeiten viel gelesen sind. Im sowjetischen Literaturbetrieb hatte er zahlreiche wichtige Posten inne: Jahrelang leitete er die Leningrader Abteilung des sowjetischen Schriftstellerverbandes, 1989 wurde er zum Präsidenten des neu gegründeten sowjetischen P.E.N.-Zentrums, seit 1986 war er Mitglied der Akademie der Künste in Ostberlin und nach der Wende der Vereinigten Akademie der Künste. Granin war unter anderem Träger des Staatspreises der UdSSR (1978), des sowjetischen Ordens der Völkerfreundschaft (1979), des Leninordens (1984, 1989) und der Goldmedaille Serp i molot (dt. Hammer und Sichel, 1989), sowie des Bundesverdienstkreuzes (2001), und der höchsten russischen Auszeichnung des Andrej-Perwoswanni-Ordens (2008).

Bis zu seinem Tod 2017 wurde er in Russland als moralische Instanz anerkannt – trotz seiner nicht immer konfliktfreien Positionen. Und über die Grenzen hinaus wird er bis heute als „gesamtdeutsch-russisches Symbol der Erinnerungskultur9 wahrgenommen. Das liegt sicherlich an seinem kontinuierlichen Ringen um ein gesellschaftlich verantwortliches und menschlich gerechtes Handeln. Diese Problematik erlaubte ihm sowohl unter den Bedingungen des Sozialismus als auch unter denen des Kapitalismus einem unverfälschten, wenn auch bisweilen pathetischen Patriotismus zu folgen, und dabei regierungs- und gesellschaftskritisch zu sein.


1.Schorlemmer, Friedrich/Thun-Hohenstein, Franziska (2007): „Der Schriftsteller beginnt dort, wo das Dokument endet“
2.Die Erzählung Variant vtoroj [Dom vtoroj] in der Literaturzeitschrift Zwezda (Nr, 1, 1949), gilt als erste literarische Publikation Granins. Vgl. Čuprinin, Sergej (2009): Daniil Granin, in: Russkaja literatura segodnja: Novyj putevoditel, Moskva, S. 53 
3.Man denke etwa an die Errichtung neuer Denkmäler, wie die gigantisch große Skulptur der Mutter Heimat in Wolgograd (errichtet 1967), an das den „heroischen Verteidigern Leningrads“ gewidmete Monument (erbaut zwischen 1974/75) etc. Vgl. dazu: dekoder: Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur
4.Granin wurde vor allem in der DDR stark rezipiert. Die Publikationen der Novelle Unser Bataillonskommandeur und des Essays Über Barmherzigkeit lösten 1987 in der DDR große Debatten aus.
5.Schorlemmer, Friedrich/Thun-Hohenstein, Franziska (2007)
6.Kukulin, Il’ja (2009): Schmerzregulierung: Zur Traumaverarbeitung in der sowjetischen Kriegsliteratur, S. 235–256
7.Adamowitsch, Ales/Granin, Daniil: Das Blockadebuch: Erster und zweiter Teil, Berlin 1987, 1984. Die bisher in deutscher Übersetzung vorliegende Fassung basiert auf der zwischen 1977 und 1981 im Verlag Sovetskij pisatel' erschienenen, stark verstümmelten Ausgabe. Erweiterte Auflagen, in die fast alle zensierten Stellen aufgenommen wurden, erschienen 2005 im Verlag Terra und 2013 im Verlag Lenizdat. Eine deutsche Übersetzung auf Basis der erweiterten Fassung wird bald erscheinen.
8.Granin, Daniil (2009): Pričudy moej pamjati sowie Granin, Daniil (2002): Istorija sozdanija Blokadnoj knigi, S. 156–161
9.Gloger, Katja (2017): Fremde Freunde: Deutsche und Russen – Die Geschichte einer schicksalhaften Beziehung, S. 239

 

 

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