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„Ihr habt vieles, worauf ihr stolz sein könnt“ – so schließt der US-amerikanische, russischstämmige Schauspieler David Duchovny 2014 auf YouTube seine Werbung für eine russische Biermarke. Im Spot durchlebt der Zuschauer mit Duchovny seinen alternativen Lebenslauf à la „was wäre, wenn seine Großeltern nicht ausgewandert wären“. Er öffnet ein Familienalbum und ein angeblich typisch russisch-sowjetisches Leben zieht an ihm vorbei: sein Portrait auf der Jahrgangsseite eines sowjetischen Schulalbums, als Langläufer im verschneiten Birkenwald, bei der Schulabschlussfeier mit Klassenkameraden auf dem Roten Platz. Seine Karrieremöglichkeiten zeigen ihn als Kosmonauten, als Choreografen im Bolschoi Theater, als erfolgreichen Schauspieler vor sowjetischen Kinoplakaten und als Eishockeyspieler mit Zahnlücke. Er feiert ausgelassen mit Freunden in einer Banja, singt mit ihnen Sowjet-Hits und rezitiert das bekannte Kindergedicht Rodnoje (dt. Verwandte): „Ich lernte, dass ich eine große Familie habe: den Pfad, das Wäldchen, jede Ähre auf dem Feld.“
Worauf man also in Russland laut Werbespot nebst beworbenem Produkt noch stolz sein darf? Auf Heldentaten in Schnee und Eis, Gagarin, Ballett, Kameradschaft und Spaß – auf die zentralen Themen der Sowjetnostalgie.
David Duchovny, dessen Name von russ. duchowni (dt. geistreich, beseelt) stammt, schwelgt in vergangenen Utopien, in nicht gelebten und nicht überprüfbaren Möglichkeiten. Die Gegenwart bleibt interessanterweise ausgespart, es geht auch nicht um die Geschichte, sondern um Atmosphäre und Kultur.
Kunst und Kultur des Sozrealismus zelebrierten überschwänglich das Gefühl, Teil einer „besonderen Epoche“ zu sein. Betrachtet man die liebevoll rekonstruierten Erinnerungsräume, den Phantomschmerz einer UdSSR 2.0 offline und im Netz, auf patriotischen Seiten, die Back in UdSSR oder Unsere Heimat UdSSR heißen1, so taucht dort zwischen den in den sanften Glanz des Vergangenen getauchten Bildern sowjetischer Werbeplakate, Kochbücher und Warenkataloge der 1950er bis 1970er Jahre immer wieder der Begriff des „Geistes jener Epoche“ auf – gemeint ist die große sowjetische Epoche, das „Land, das wir verloren“. Die schiere Größe seiner Geschichte als respektierte, ja gefürchtete Weltmacht reißt wie eine Naturgewalt alles mit sich.
Das Erhabene und das Heroische kommen dem menschlichen Bedürfnis nach Sinnsuche entgegen. Angesichts des seit Jahren stagnierenden russischen Alltags birgt die Sowjetära mit ihren utopischen Zielsetzungen für einige junge Menschen neues Sehnsuchtspotenzial.
Vor allem ältere Menschen denken nostalgisch an die Sowjetunion zurück. Sie erinnern die „goldenen 1970er“ Jahre unter Breshnew als eine Zeit, in der es alles gab: bescheidenen Wohlstand, soziale Sicherheit, Arbeit, Großmachtstatus und gemeinschaftlichen Stolz auf das Erreichte. Zahlreiche Retro-Produkte, versehen mit den Prüfnummern der längst versunkenen staatlichen sowjetischen Prüfstelle GOST, knüpfen an solche Werte und an einen spezifisch sowjetischen Konsumstil an. Dieser war durch informelle Beschaffungsnetzwerke, Gefälligkeiten und Tauschsysteme (russ. blat) geprägt. Die zentrale Währung war das Vertrauen, nicht die anonymen und abstrakten Kräfte des westlichen Kapitalismus. Der vertrauens- und beziehungsbasierte Konsumstil gilt als dem entfremdeten „kapitalistischen“ Konsumstil moralisch überlegen.
Wie der Konsumstil so waren auch sowjetische Konsumgüter bald den westlich-kapitalistischen vorzuziehen: Die Sowjetbürger, durch die schlechte Qualität der lang ersehnten Importwaren enttäuscht, hörten bald von Gerüchten über abgelaufene Lebensmittel, die nach Russland geliefert würden. Zum Symbol kapitalistischer Machenschaften, der Erniedrigung der einstmals großen Nation, wurden die im Rahmen von Not-Krediten gelieferten US-amerikanischen Hühnerkeulen, die unter der Bezeichnung „Bush’s Keulchen“ bis heute durch die Medien geistern. Sie seien mit Hormonen und Chemie verseucht gewesen und hätten Allergien verursacht.
So wuchs die Überzeugung, dass die reichen westlichen Länder Russland grundsätzlich mit minderwertiger Ware belieferten. Parallel zu diesen Ängsten, zur Erosion des Rubels und steigenden Preisen für Importe wuchs die Aura der eigenen Lebensmittel und Güter. Sowjetische Eiscreme ist eine exemplarische nostalgische Speise, die mit Reinheitsvorstellungen, Kindheitserinnerungen und starken Emotionen verbunden ist. Sie wird von vielen explizit als Geschenk des sowjetischen Staates an seine Kinder erinnert.
Durch die Erfahrungen aus der frühen postsowjetischen Zeit unterscheiden WissenschaftlerInnen hinsichtlich des Umgangs mit der zurückliegenden Sowjetära verschiedene Phasen: Eine erste Phase der postsozialistischen Distanznahme von der Symbolwelt, in der die einst so mächtigen Ikonen des Sozialismus zu Kitsch wurden.
Eine zweite Phase brachte Mitte der 1990er Jahre die Rückbesinnung auf die materielle Kultur des sozialistischen Alltags. Sowjetische Güter standen nun für bestimmte Werte und erschienen in einer Gegenposition zum entzauberten Westen.
Der dritte Typ nostalgischer Praktiken betraf die Rekonstruktion von Atmosphären, Werten und Stimmungen des Spätsozialismus. Dazu gehörten geteilte Erfahrungen wie Ferienlager oder die Populärkultur.
Ein vierter Typus war die zunächst objektfixierte Stil-Nostalgie der jungen Generation. Die Nostalgie galt der entzauberten Utopie vom Westen ebenso, wie dem Verlust der respektierten Großmacht Sowjetunion. Die Südosteuropahistorikerin Maria Todorova sprach von der heilenden (restaurativen) Funktion der Nostalgie.
Die 1990er Jahre dagegen galten vor allem als Jahre des chaotischen Zerfalls des Sowjetreiches, der Entsolidarisierung der Gesellschaft und grassierender Kriminalität, während der Staat und die parlamentarische Demokratie versagten. Die ehemaligen Sowjetbürger erfuhren die 1990er Jahre als Dauerkrise und sprachen in Metaphern des Bröckelns und des Einsturzes darüber. Die Silowiki erfuhren den schmerzlichen Verlust des Großmachtstatus, ein Gefühl, das Putin in die Formel der „geopolitischen Katastrophe“ goss.
Spätestens seit Mitte der 2000er Jahre ist die Sowjetnostalgie Teil des patriotischen Projekts Russlands, den verlorenen imperialen Status wiederzugewinnen. Die politische Rhetorik sprach zwar von Erneuerung und Modernisierung – vor allem während der Präsidentschaft Medwedews –, benutzte aber die sowjetische Vergangenheit zur Legitimierung ihrer Politik. Das „Sowjetische“ war dabei historisch diffus und wurde zu einem gemeinsamen „kulturellen Erbe“. Diese Politik wertete Nostalgie als positive gesellschaftliche Kraft. Im offiziellen russischen Diskurs kursieren die Schlüsselbegriffe „traditionelle Werte“, „russische Kultur“, „Spiritualität“ und „historische Vergangenheit“. Die sowjetische Matrize erlaubt das Ausblenden ethnischer, religiöser und sonstiger regionaler Unterschiede und schafft eine alle umfassende „russische Kultur“. Leider stimmen die Grenzen der so erneuerten russischen Zivilisation zuweilen nicht mit den aktuellen Staatsgrenzen überein. Die nationale Kultur wird als historisch gewachsener „Organismus“ imaginiert, dem die rational fassbare Gegenwart und die nicht absehbare Zukunft weniger entsprechen als die Vergangenheit.
Betrachtet man die mediale Umsetzung, spielt Sowjetnostalgie eine zentrale Rolle, um diese gemeinsame Kultur mit vertrauten Bildern, Worten und Klängen zu illustrieren. Dazu gehörte zu Beginn der 2000er Jahre die Wiedereinführung der Melodie der sowjetischen Nationalhymne, die unter Stalin entstanden war.
Auch sowjetische Sehnsuchtsorte werden restauriert. Ferienheime, Pionierlager, die Metro und das 1939 eröffnete Gelände der Allunions-Landwirtschaftsausstellung WDNCh waren märchenhafte Geschenke des Staates – und Stalins – an seine Bürger. Das Messegelände der WDNCh wird seit einigen Jahren aufwendig restauriert, die erhaltenen Pavillons aus der Stalinzeit erstrahlen bereits in neuem Glanz. Auf der paradiesischen Krim befand sich das berühmteste aller Pionierlager, Artek, das mit der Annexion der Krim vor dem Verfall gerettet und sogleich unter die persönliche Schutzherrschaft Putins gestellt wurde.
Putin belebte das sowjetische Staatsmodell, zentralistisch und autoritär, mit starker Kontrolle durch die Sicherheitskräfte. Ein Rückgriff auf stalinistische Formeln ist die Belagerungsmentalität: Wir sind von Feinden umzingelt, der Faschismus lebt wieder auf.
Mit dem paternalistischen Staatsmodell kam auch Stalin zurück. Mindestens zwei TV-Serien zeigen Stalin als „geschniegelten Opa, der sich auf sein luxuriöses Landgut zurückgezogen und im trauten Kreis der Seinen den Frieden mit sich selbst gefunden hat“2. Oder als strengen, aber freundlichen Vater, der absolute Autorität in allen Wissenschaften besaß, den Krieg gegen Nazideutschland gewann und für sein Volk sorgte.
Stalin verkörpert den Archetyp der Führerfigur, den strengen, aber gerechten Vater der Völker, er ist ein Symbol der Autorität und nationalen Stärke, eine Art Alleinstellungsmerkmal einer gedemütigten Nation. Seine Bewertung ist widersprüchlich: Umfragen des Lewada-Zentrums belegen die verbreitete Meinung, Stalin sei ein weiser Führer gewesen, der die Sowjetunion zu Macht und Wohlstand führte. Dieselben Befragten befanden aber auch, der Große Terror sei ein politisches Verbrechen gewesen, das sich nicht rechtfertigen lasse. Die Mehrheit meinte, das Wichtigste sei, dass unter Stalins Führung die Sowjetunion den Krieg gewonnen habe.
Obwohl die Gesellschaft Russlands die gewalthafte Natur der stalinistischen Politik kennt, fällt es ihr schwer, den Repräsentanten absoluter Macht zu verurteilen. Am meisten lieben ihn ältere, bildungsferne, ärmere BürgerInnen in strukturschwachen und ländlichen Gegenden. Entlang dieser Linien gruppiert sich auch die Wählerschaft Putins. Widersprüchlich ist auch die Bewertung des Stalinismus im politischen und wissenschaftlichen Diskurs, der zwischen der Verurteilung stalinistischer Verbrechen und deren Minimierung zugunsten der Größe und Stärke Russlands schwankt. Es gibt zwar keine offizielle Glorifizierung Stalins, und die stalinistischen Verbrechen werden von den Kremloberen nicht geleugnet. Aber sie werden klein gehalten, und Stalins Leistungen etwa als Generalissimus sind in populären Buchpublikationen weit präsenter als seine Verbrechen.
Es gibt kein konsistentes Narrativ Stalin und den Stalinismus betreffend, weder ein offizielles noch ein inoffizielles. Nationale Größe und kollektive Werte wie Einigkeit, Prestige und Ehre sind in der Wahrnehmung untrennbar mit brutaler Gewalt verbunden. Die Opfer sind bekannt, aber sie werden durch die Verdienste des Tyrannen aufgewogen: Die Anziehungskraft, die nationale Größe und ruhmreiche Geschichte auf einfache Bürger ausüben, verbindet sich mit der Legitimation despotischer Macht.
Die diffuse, rückwärtsgewandte offizielle Rhetorik kommt der Deutung der eigenen Geschichte in mythischen und sakralen Kategorien entgegen – nicht in Kategorien von Schuld und Verantwortung, sondern in solchen von Schicksal und Tragödie. So haben sich sowjetische Interpretationsmuster im russischen Erinnerungsdiskurs gehalten. Im Schulunterricht erscheint etwa der Gulag als Tragödie ohne identifizierbare Täter.3 Stalin war kein gewöhnlicher Mensch, er wurde zum Teil der Verklärung und Nostalgie.