Anfangs war die Stimmung noch frostig. Am Ende ihres Treffens in Helsinki jedoch strahlten sie beide: der russische Präsident Putin und der US-amerikanische Präsident Trump. „Der Dialog ist sehr gut verlaufen“, erklärte Trump in der anschließenden Pressekonferenz, auch Putin lobte die „geschäftsmäßige“ Atmosphäre.
Auf Nachfrage eines Journalisten sagte Trump während der Pressekonferenz, er habe keinen Grund zu der Annahme, dass sich Russland in den US-amerikanischen Wahlkampf eingemischt habe. In den USA bringt ihm dies derzeit heftige Kritik ein, von demokratischer wie republikanischer Seite, da diese Aussage im krassen Gegensatz steht zu den Ermittlungen der US-Geheimdienste und des Sonderermittlers Robert Müller. Der Großteil der US-Medien kritisiert den Gipfel und Trumps Auftritt neben Putin. Die Washington Post etwa schrieb, Trump habe sich zu Putins „nützlichem Idioten“ gemacht.
Viele europäische Politiker kritisierten das Treffen schon im Vorhinein. Kurz vor dem Gipfel in Helsinki hatte Trump die EU als „Gegner“ bezeichnet. Der deutsche Außenminister Heiko Maas etwa sagte in einem Interview der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, die EU könne sich nicht mehr auf die USA verlassen. Er forderte auch eine „Neuvermessung der deutsch-amerikanischen Beziehungen“.
Wie wird das Treffen von Putin und Trump in russischen Medien bewertet: Ist Russland endlich wieder auf Augenhöhe mit den USA? Oder ist alles eine große Show? dekoder bringt Ausschnitte aus staatsnahen und unabhängigen russischen Medien.
Quelle
Republic: Auf Augenhöhe
Egal, was beim Treffen nun herauskam oder nicht herauskam, Putin hat schon gewonnen, meint Politologe Wladimir Frolow auf dem unabhängigen Online-Portal Republic:
Deutsch
Original
Das Wichtigste, das Putin bekommen hat, ist die Möglichkeit, neben dem amerikanischen Präsidenten auf einer Pressekonferenz zu stehen und die großen internationalen Probleme aufzuzählen, die er nun gemeinsam mit Donald Trump lösen wird – ohne in die Vergangenheit oder auf die Meinung anderer Staaten zu schauen. Das war genau die offizielle Anerkennung Russlands als den USA ebenbürtige globale Macht, die ersehnte „geopolitische Parität“, die der russische Präsident in der gesamten vergangenen Amtszeit angestrebt hat.
Главное, что получил Путин – это возможность, стоя рядом с американским президентом на пресс-конференции, перечислять большие международные проблемы, которые он будет теперь решать вместе с Дональдом Трампом, без оглядки в прошлое и на мнение других держав. Это как раз и было официальное признание статуса России как равной США глобальной державы, заветный «геополитический паритет», к которому российский президент стремился весь свой последний срок.
erschienen am 17.07.2018
RT: Hysterie in Europa
Der staatliche Auslandssender RT amüsiert sich über die Sorge und Kritik vieler europäischer Politiker an dem Treffen:
Deutsch
Original
Die Sache ist die: Indem er sich das Treffen mit Putin zum Dessert aufsparte, hinterließ Donald Superstar die Europäer auf seiner Europa-Tour mit offenen Mündern. [...] Am amüsantesten ist, dass er bei allem Recht behielt. Denn in den Zeitungen und Fernsehsendungen Europas – und des abdampfenden Großbritanniens – herrscht fulminante Hysterie.
Der Wirbelsturm-Mann hat so über die verkrusteten europäischen Politiker gefegt, [...] dass es eine Augenweide war. Wenn die größte Gefahr für die europäische Demokratie à la Brüssel bislang Putin war mit seinen minderjährigen Hackern, dann hat sich das jetzt schlagartig geändert.
А всё дело в том, что Дональд Ф. Суперстар, оставив встречу с ВВП на сладкое, так провёл своё европейское турне, что оставил местных с широко распахнутыми челюстями. [...] И, что самое смешное, он был во всём прав. Судя по тому, что в газетах и на телеканалах Европы и отчаливающей от неё Британии уже который день стоит фирменная истерика.
Мужчина-ураган так проехался по заскорузлым европейским политикам, [...] что любо-дорого посмотреть. Если раньше главной угрозой европейской демократии брюссельского разлива был лично Путин В.В. и его малолетние хакеры, то теперь версия резко изменилась.
erschienen am 16.07.2018
Vedomosti: Win-win-Situation
Auf Vedomosti kommentiert Maria Shelesnowa, weshalb das Treffen ein Gewinn für beide Staatschefs war, obwohl es ohne irgendwelche Vereinbarungen zu Ende ging:
Deutsch
Original
Ein solches Ergebnis sieht vor dem Hintergrund des Treffens von Trump mit einem anderen schwierigen Burschen der Weltpolitik – Kim Jong-un – teilweise dürftig aus. Allerdings passt es sowohl Trump als auch Putin. Für den US-amerikanischen Präsidenten bedeutet das Ausbleiben von Abmachungen und Verpflichtungen – auch wenn sie schwammig wären – weniger Risiko, zu Hause wegen intensiver Kontakte mit dem toxischen Moskau angeprangert zu werden. Für Putin ist es ein Anzeichen dafür, dass Moskau Washington keinen Fingerbreit nachgegeben hat.
Такой исход выглядит отчасти проигрышным на фоне результата встречи Трампа с другим трудным парнем мировой политики – Ким Чен Ыном, Однако это удобно и для Трампа, и для Путина. Для американского президента отсутствие договоренностей и обязательств, пусть даже и самых расплывчатых и обтекаемых, означает снижение риска быть уличенным дома в интенсивных контактах с токсичной Москвой, для Путина – признак того, что ни пяди земли и повестки Москва Вашингтону не уступила.
erschienen am 17.07.2018
Radio Sputnik: Trump ist Geisel des US-Systems
Im staatlichen Auslandsradio Sputnik argumentiert Politologe Sergej Koslow, weshalb die Sympathie Trumps allein Russland nicht reiche:
Deutsch
Original
Trump muss seinem Wähler und dem amerikanischen Establishment Rechenschaft darüber ablegen, dass dieses Treffen nicht für die Katz war, dass konkrete Abmachungen getroffen wurden. Wie effektiv die Gespräche wirklich waren, lässt sich zu diesem Zeitpunkt kaum beurteilen. Ich denke, man kann schwerlich eine Annäherung erwarten, weil der amerikanische Präsident eine Geisel des US-amerikanischen politischen Systems ist.
Трампу необходимо отчитаться перед своим избирателем и американским истеблишментом о том, что эта встреча была проведена не зря, и что какие-то конкретные выводы были сделаны. Насколько эффективными оказались переговоры, судить сейчас достаточно сложно. Думаю, вряд ли можно ожидать потепления отношений, потому что американский президент – заложник американской политической системы.
erschienen am 17.07.2018
RIAFAN: Stärke Russlands anerkannt
Auch die Nachrichenagentur RIAFANmeint, dass Trump viele „Illusionen” zerstöre:
Deutsch
Original
Trump rechnet die Szenarien der Realpolitik durch, und nicht die einer virtuellen Welt. In diesen Szenarien erkennt er die Stärke Russlands an und erachtet unser Land als starken Konkurrenten. Das ist alles. Aber die, die in Illusionen leben, sind schrecklich besorgt, dass an der Spitze der USA ein Leader steht, der die Welt der Illusionen zerstört, die mit kolossalen Ressourcen in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut wurde. Wenn eine solche Welt einbricht, dann ist das wirklich eine Krise, und sie wird sich verschärfen.
Трамп просчитывает сценарии реальной политики, а не виртуального мира, и в этих сценариях он признает силу России и считает нашу страну сильным конкурентом. Вот и все. Но те, кто живет в иллюзиях, страшно переживают, что во главе США стоит лидер, который разрушает мир иллюзий, созданный колоссальными ресурсами за последние десятилетия. Когда такой мир рушится — это действительно кризис, и он будет усугубляться.
erschienen am 17.07.2018
Carnegie.ru: „Normalität” nicht unter Trump und Putin
Politologe Dimitri Trenin betont auf der Seite des unabhängigen Think Tanks Carnegie.ru, wie wichtig die Wiederaufnahme des Dialogs sei – und hat auch eine schlechte Nachricht.
Deutsch
Original
Die wichtigste Bedeutung des Treffens in Helsinki ist die Wiederaufnahme des russisch-amerikanischen Dialogs. Auf das Treffen auf neutralem Boden werden wahrscheinlich gegenseitige Besuche in Washington und Moskau folgen. Das schafft eine neue Dynamik in der Interaktion zwischen zwei Staaten auf der Suche nach Gemeinsamkeiten und Übereinstimmung. Der hybride Krieg zwischen den USA und Russland geht zweifellos weiter. In diesem Krieg jedoch entstehen Regeln und Kanäle des Dialogs, nicht nur über den Heißen Draht. Die amerikanisch-russische Konfrontation währt nicht ewig. Mit der Zeit kann sich das Verhältnis zu einer „normalen“ Rivalität und später zu einer „einfachen“ Konkurrenz zwischen zwei Mächten entwickeln. Aber das wird wohl nicht unter Trump passieren. Und vielleicht auch nicht unter Putin.
Главное значение встречи в Хельсинки состоит в возобновлении российско-американского диалога. За встречей на нейтральной территории, вероятно, последует обмен визитами в Вашингтон и Москву. Такой график создаст динамику взаимодействия между двумя государственными бюрократиями в поиске точек соприкосновения и выработке формул согласия. Гибридная война между США и Россией, несомненно, продолжится. В этой войне, однако, появляются правила и каналы диалога, не только экстренной связи. Американо-российская конфронтация не вечна. Со временем она может перерасти в «нормальное» соперничество держав, а затем в их «простую» конкуренцию. Но это случится, наверное, не при Трампе. А может быть, и не при Путине.
erschienen am 16.07.2018
Moskowski Komsomolez: Ausgetrickst
Michail Rostowski kann sich im Massenblatt Moskowski Komsomolez nicht nur freuen über den für Russland scheinbar positiven Ausgang des Treffens:
Deutsch
Original
Beim Gespräch mit Journalisten zum Abschluss des Summits in Helsinki hat der Präsident Russlands den amerikanischen Präsidenten offensichtlich ausgetrickst. Und dieser Umstand hat mein Herz mit Stolz erfüllt, aber auch mit Besorgnis.
Trump auszutricksen heißt nicht, die amerikanische politische Klasse auszutricksen. Ich fürchte, dass ein Antwortgruß aus Washington nicht lange auf sich warten lassen wird. [...]
In jüngster Vergangenheit hatten innenpolitische Erwägungen Trump dazu gezwungen, offen antirussische Entscheidungen zu treffen, etwa über die Einführung schmerzhafter Sanktionen gegen wichtige Bestandteile unserer Wirtschaft.
Ich wünsche mir, dass ich irre. Aber nach dem Summit in Helsinki könnten solche innenpolitischen Erwägungen deutlich zunehmen. Worin liegt die Moral davon? Wahrscheinlich darin: Ein bescheidener und scheuer Trump erschreckt manchmal mehr als ein Trump in der Rolle des Streithahns und Raufbolds. Bringt daher bitte jenen Trump zurück, der bei der NATO war! Mit einem solchen US-Präsidenten ist es irgendwie ruhiger und gewohnter.
В ходе общения с журналистами по итогам саммита в Хельсинки президент России очевидно переигрывал президента Америки. И это обстоятельство наполнило мое сердце не только гордостью, но и тревогой. Переиграть Трампа – не значит переиграть американский политический класс. Боюсь, что ответный привет из Вашингтона не заставит себя долго ждать. И дело здесь не только в “робком” поведении американского президента, но и в наступательной позиции президента российского. [...] В совсем недавнем прошлом внутриполитические соображения заставляли Трампа принимать откровенно антироссийские решения – например, о введении болезненных санкций против важных элементов нашей экономики. Очень хочу ошибаться. Но после саммита в Хельсинки таких внутриполитических соображений у Трампа может резко поприбавиться. В чем мораль? Наверное в этом: скромный и застенчивый Трамп иногда пугает гораздо больше, чем Трамп в роли задиры и забияки. Верните поэтому, пожалуйста, того Трампа, который был в НАТО! С таким президентом США как-то спокойнее и привычнее.
erschienen am 16.07.2018
Facebook/Lilija Schewzowa: Fake-Feindschaft
Inwiefern die Auseinandersetzung mit den USA der russischen Führung zur Legitimation dient, analysiert die Politologin Lilija Schewzowa auf ihrem Facebook-Account:
Deutsch
Original
Russisch-amerikanische Summits sind verdammt, weil das russische System darauf ausgelegt ist, sich durch die Suche nach einem Feind selbst immer wieder neu zu erfinden. Amerika ist für den Kreml der ideale Feind. [...] Sich mit Amerika, der einzigen Supermacht der Welt, in Bezug zu setzen, im Dialog oder in Feindschaft mit ihr zu sein – das ist auch eine Legitimierung der russischen Führung. Aber der Kreml will doch, selbst auf der ständigen Suche nach einem Feind, keine Konfrontation mit Amerika, werdet ihr sagen. Klar, diese Jungs sind keine Kamikaze. Das heißt, es wird darum gehen, an der Grenze zur Konfrontation entlang zu balancieren. Oder besser, sie zu imitieren: Fake-Kampf mit dem amerikanischen Giganten und gleichzeitig freundschaftliche Kaffeekränzchen mit ihm im Rahmen des „Weltkonzerts“. Das ist ein filigranes Spiel. Allerdings gelingt es dem Kreml eher schlecht in letzter Zeit.
Российско-американские саммиты обречены потому, что российская система заточена на воспроизводство через поиск врага. Америка является для Кремля идеальным врагом. [...] Соотнесение с Америкой, единственной мировой сверхдержавой, диалог с ней или вражда с ней- это и легитимация российского лидерства. [...] Но ведь Кремль, даже находясь в постоянном поиске врага, не хочет конфронтации с Америкой, скажете вы. Конечно, эти ребята не камикадзе. Значит, речь будет идти о попытках найти способ балансирования на грани конфронтации. А лучше ее имитации: фейковая борьба с американским гигантом и одновременно дружеские посиделки с ним в рамках мирового «Концерта». Это филигранная игра. Правда, в последнее время она плохо идет у Кремля.
Erst scheitern die Gespräche zwischen Russland und den USA, dann platzt ein Treffen mit dem französischen Präsidenten. Während eine mögliche Waffenruhe in Syrien derzeit am seidenen Faden hängt, ist das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen in diesen Tagen angespannt wie lange nicht.
Easy, man: Einen ganz unaufgeregten Blick auf die Beziehung zwischen Russland und den USA wirft der Historiker Ivan Kurilla. Im Interview mit Kommersant-Ogonjok erklärt er, was die besondere „Erzfreundschaft“ zwischen beiden ausmacht, was Ford mit dem Kommunismus und Sputnik mit dem US-amerikanischen Bildungssystem zu tun hat.
Russische Trolle! Russische Hacker! Ja, die gibt es. Der Hysterie darum kann Michail Korostikow allerdings nichts abgewinnen. Er findet, Russlands Außenpolitik hätte den Namen Honigdachs-Doktrin verdient. Das Tier zeichnet sich vor allem durch eine für seine Größe unglaubliche Kraft, Zähigkeit und Rachsucht aus.
Sergej Lawrow ist ein Profi, wie es keinen zweiten gibt auf der internationalen Bühne: Im März 2024 sind es 20 Jahre, die er als Außenminister Wladimir Putins Politik in der Welt vertritt. In dieser Zeit hat er sieben US-Außenministerinnen und Außenminister kommen und gehen sehen. Trotzdem sind die Momente rar, in denen sichtbar wurde, wofür Lawrow selbst eigentlich steht. Seine Rolle ist die eines äußerst erfahrenen, eloquenten und blitzgescheiten Beamten, der seine Talente ganz in den Dienst seines Präsidenten stellt und dessen Willen mit aller Härte durchsetzt – aber auch mit Tricks und Lügen.
Das einzige Mal, als Sergej Lawrow Wladimir Putin öffentlich widersprochen hat, liegt inzwischen zwölf Jahre zurück: 2012 setzt der US-Kongress die Namen russischer Politiker und Beamter, die an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, auf eine Sanktionsliste. Als Antwort auf dieses sogenannte Magnitski-Gesetz will der Kreml die Adoption russischer Waisenkinder durch US-Bürger verbieten. Das trifft vor allem schwer kranke und behinderte Kinder, für die in Russland keine Adoptiveltern gefunden werden und für die es in russischen Kliniken keine angemessene medizinische Versorgung gibt.
Lawrows Ministerium hat mit den Amerikanern in jahrelangen Verhandlungen Regeln für Adoptionen solcher Kinder ausgearbeitet. Als er auf einer Pressekonferenz im Dezember nach dem geplanten Adoptionsverbot gefragt wird, sagt er knapp: „Das ist falsch.“ Zehn Tage später unterschreibt Putin das Gesetz. Russische Medien berichten, der Präsident habe ein „hartes Gespräch“ mit seinem Außenminister geführt. Lawrow widerruft öffentlich und behauptet, er sei nie gegen das Adoptionsverbot gewesen.
Die Magnitski-Liste und das darauf folgende Dima-Jakowlew-Gesetz markieren den endgültigen Schlusspunkt hinter dem Neustart-Versuch, den die Obama-Regierung vier Jahre zuvor mit Moskau unternommen hatte. Am 6. März 2009 hatten Lawrow und die US-Außenministerin Hillary Clinton in Genf einen symbolischen „Reset“-Knopf gedrückt, auf den die Amerikaner irrtümlich das Wort „перегрузка“ (peregruska, dt. Überlastung) geschrieben hatten anstelle von „перезагрузка“ (peresagruska) für Neustart. Nach dem Georgien-Krieg sollte noch einmal ein Versuch unternommen werden, das Verhältnis mit Russland zu retten. Der neue Präsident Dimitri Medwedew, so hoffte man in Washington, könnte dafür eine Gelegenheit bieten. Dieses Kapitel war mit der Rückkehr Putins in den Kreml abgeschlossen. Und genauso loyal wie Lawrow unter dem Interims-Präsidenten Medwedew mit den Amerikanern neue Abkommen verhandelt hatte, wickelte er nun die Annäherung wieder ab und schaltete um auf Konfrontation.
Der öffentliche Widerspruch an die Adresse seines Chefs blieb ein einmaliges Ereignis. Seitdem folgt Sergej Lawrow der außenpolitischen Linie, die in der Präsidialverwaltung vorgegeben wird, bis zur Selbstverleugnung. Als er 2015 auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor der versammelten außenpolitischen Elite der Welt die „Angliederung“ der Krim mit der deutschen Wiedervereinigung verglich und behauptete, sie sei konform mit der UN-Charta verlaufen, muss ihm klar gewesen sein, wie absurd diese Behauptung war. Tatsächlich vergaßen die anwesenden Diplomaten für einen Moment ihre Höflichkeit und brachen in spontanes Gelächter aus. Das muss schmerzhaft gewesen sein für einen, der über mehr Erfahrung im außenpolitischen Geschäft verfügt als irgendjemand sonst im Saal, und der Gesprächspartner auch gern seine Überlegenheit spüren lässt.
Selfmade Tschinownik
Möglicherweise kommt Sergej Lawrows großes Selbstbewusstsein auch daher, dass er weiß, dass er seine Karriere niemand anderem als sich selbst zu verdanken hat. Die Familie, in der er 1950 geboren wurde, gehörte nicht zur Sowjet-Nomenklatura. Über seine Eltern ist wenig bekannt. Als Abiturient schuftete er auf der Baustelle für den Moskauer Fernsehturm in Ostankino – wer keine Beziehungen hatte, konnte mit solchen Arbeitseinsätzen seine Chancen auf einen Studienplatz verbessern.
Eigentlich habe er vorgehabt, Physik zu studieren, erzählte Lawrow vor einigen Jahren. Aber weil die Aufnahmeprüfungen für das Institut für Internationale Beziehungen schon früher stattfanden, habe er sich auf den Rat seiner Mutter hin dort beworben. Das Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) war die Kaderschmiede der sowjetischen Diplomatie und ist heute die Kaderschmiede der russischen Diplomatie. Sie hat ein eigenes kleines Museum, das inzwischen auch ein bisschen ein Lawrow-Museum ist: Hier hängt die Fahne seiner studentischen Wandergruppe und die Hymne der MGIMO, die Lawrow geschrieben hat und die heute von den Studierenden gesungen wird. Im eigenen Haus ist Lawrow mehr als ein Chef, er ist auch ein Vorbild.
Am MGIMO lernt er neben Englisch und Französisch auch Singhalesisch. Nach seinem Abschluss wird der junge Nachwuchsdiplomat 1972 auf seine erste Station an die sowjetische Botschaft in Sri Lanka geschickt. Vier Jahre später kehrt er zurück nach Moskau ins Außenministerium. 1981 wird er Erster Sekretär der sowjetischen Vertretung bei den Vereinten Nationen. Als er in New York ankommt, haben sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen gerade wieder verschlechtert: Nachdem Breshnew zunächst zaghafte Entspannungspolitik betrieben hatte, hat sich der Kalte Krieg mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen nach Afghanistan 1979 wieder verschärft. Auf ihrer sechsten Dringlichkeitssitzung forderte die Generalversammlung mit 104 zu 18 Stimmen den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Lawrow vertritt stoisch die Linie der sowjetischen Propaganda: Die Soldaten leisteten „friedliche Aufbauarbeit und sozialistische Bruderhilfe“. 1982 stirbt Breshnew, zwei Nachfolger kommen und gehen, erst ab 1985 erfahren die Menschen in der Sowjetunion im Zuge von Glasnost vom tatsächlichen Krieg und den zahlreichen Toten.
Perestroika
Lawrow bleibt bis 1988 bei der UNO. Derweil läuft zuhause die Perestroika auf Hochtouren. Zurück in Moskau wird er im Außenministerium stellvertretender Verantwortlicher für Wirtschaftsbeziehungen, später Referatsleiter für internationale Organisationen, stellvertretender Außenminister, und ab 1994 zehn Jahre lang UN-Botschafter. Bemerkenswert ist: In den Jahren des großen Umbruchs sind Wladimir Putin und Sergej Lawrow beide im Auslandseinsatz. Doch während der KGB-Offizier Putin im „Tal der Ahnungslosen“ des sozialistischen Bruderlandes DDR lebt und versucht, Gaststudenten für den KGB anzuwerben, lernt der Diplomat Lawrow in New York den American Way of Life kennen und Whiskey und Zigarren schätzen. Heute spricht noch immer der Gopnik aus Putin. Derweil ist sein Außenminister als Mann von Welt ein Unikat in der russischen Elite.
Nach der jahrzehntelangen Feindschaft im Kalten Krieg stehen die Zeichen zu Beginn der 1990er Jahre ganz auf Freundschaft: Wenn Hilfe von außen erwartet wird, dann vor allem von den USA. Wenn bei einer Meinungsumfrage nach einem Land gefragt wird, mit dem Russland in erster Linie zusammenarbeiten sollte, auch dann nennen die Befragten in Russland zuerst die Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA als Feind? Mitte der 1990er Jahre sehen das nur rund sieben Prozent der Befragten so.1
Wie die meisten Politiker durchlebt auch Lawrow eine eigene Perestroika und wird zu einem Freund Amerikas. Sozialisiert unter dem Außenminister des Kalten Krieges Andrej Gromyko – dem berüchtigten „Mister Njet“ – muss Lawrow von nun an die Vorgaben des neuen Außenministers Kosyrew erfüllen. Dieser gilt als „Mister Ja“, Kritiker werfen ihm den Ausverkauf russischer Interessen vor, Michail Gorbatschow klagte gar, das russische Außenministerium sei unter Kosyrew eine Filiale des US-amerikanischen gewesen.2
Neustart
Der erste Stimmungswandel kommt in den Jahren 1998 und 1999. Damals fallen viele Ereignisse zusammen: die NATO-Intervention im Kosovokrieg, der Zweite Tschetschenienkrieg und die erste NATO-Osterweiterung vom 12. März 1999. Die Wogen hatten sich gerade geglättet, da beginnen die USA 2003 den Krieg im Irak: Lawrow stimmt im Sicherheitsrat gegen ein militärisches Eingreifen und weiß dabei China, Frankreich und Deutschland an seiner Seite. Nach der großen internationalen Solidarität in der Folge des Terrors vom 11. September 2001 nimmt in vielen Ländern die kritische Einstellung zu den USA wieder zu.
Am 9. März 2004 ernennt Wladimir Putin Sergej Lawrow zum Außenminister. Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen inszeniert sich der hochgewachsene Lawrow als ein weltgewandter Gentleman. Längst hat er einen Ruf als blitzgescheiter Verhandler, bei dem sich Sachkenntnis und ein kluger Humor paaren. Diplomaten aus aller Welt haben ihn bereits als UN-Botschafter respektiert.3 Putin pflegt eine Männerfreundschaft mit dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder, Lawrow – mit seinem Counterpart Frank-Walter Steinmeier. Der Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Barack Obama im Juli 2009, der kurz danach proklamierte „Reset“ und der Richtungswechsel hinsichtlich des von George W. Bush forcierten Raketenabwehrschirms bewirken zunächst eine neuerliche Annäherung. Doch es bleibt nur ein kurzes Intermezzo.
Antiwestliche Wende
Die Frage, wann der Kreml die antiwestliche Wende vollzogen hat, ist strittig: Viele sehen in Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 den Startschuss. Die anderen argumentieren, dass der ab 2009 vollzogene Reset die Wogen tatsächlich zunächst geglättet habe, und die antiwestliche Kontinuität erst mit der Reaktion des Kreml auf die Massenproteste gegen Wahlfälschung und Machtmissbrauch im Winter 2011/12 ihren Lauf nahm. Der Kreml brandmarkte die Protestwelle damals schnell als ein Ergebnis des amerikanischen Einflusses. Dann folgten die Magnitski-Liste und das Dima-Jakowlew-Gesetz.
Seit er in der Frage der Adoption russischer Waisenkinder vor Putin eingeknickt ist, verwandelt sich Lawrows Rolle mehr und mehr von der eines geschickten Verhandlers und respektieren Diplomaten zu einem Werkzeug seines Präsidenten, der die Außenpolitik dazu nutzt, von innenpolitischen Problemen abzulenken und neue Feindbilder zu schaffen, um darüber seine Herrschaft zu legitimieren. Als hybrider Krieger dreht Lawrow gemeinsam mit Putin die Eskalationsspirale. Seit der Krim-Annexion und den ersten Sanktionen, die als Antwort darauf verhängt wurden, dreht sie sich noch schneller. Der russische Politikwissenschaftler Sergej Medwedew verglich in diesem Zusammenhang die russische Außenpolitik mit dem Verhalten eines Gopnik und schrieb: „Die hauptsächliche Exportware Russlands ist nicht Öl oder Gas, sondern Angst.“
Drohung und Beleidigung als neue Mittel der Diplomatie
Wenn Diplomaten für die Kunst der Verhandlung und des Dialogs stehen, dann sind Gopniki ihr Gegenteil: Sie sind Meister der Drohung, der gewaltsamen Sprache und des Monologs. Tatsächlich wurde der Ton der russischen Außenpolitik im Zuge der Bolotnaja-Proteste derber, und spätestens seit der Krim-Annexion gehören Gossenjargon und Beleidigungen zum festen Repertoire russischer Diplomaten. Die Propaganda-Organe preisen ihre verbalen Ausfälligkeiten als „Bestrafungen“, Kritiker werten den ostentativen Hang zu stilistisch derberen Registern als Dialogverweigerung und kalkulierten Bruch mit der Welt. In Russland kommt dieses Auftreten derweil gut an: „Die haben (wieder) Angst vor uns“ wird zu einer gängigen Propagandaformel, „Lawrow hat … ausgelacht“ zu einem beliebten Motiv der Propagandamedien.4
Gentleman und Gopnik – Lawrow beherrscht beide Rollen
Lawrow hat in seiner Karriere zahlreiche Kehrtwenden mitgemacht Er begann unter Gromyko als ein scharfer Gegner des US-Imperialismus, vollzog während der Perestroika eine Kehrtwende und wurde 2014 zu einem Wiedergänger Gromykos, wobei er mit den häufigen Vergleichen durchaus kokettiert.5 Lawrow beherrscht den Spagat zwischen Gentleman und Gopnik, Sachargument und Whataboutism. Er kann beides sein: Intellektueller und Apparatschik, Stimme der Vernunft und Scharfmacher. Letzteren gibt er etwa im Fall Lisa, als er 2016 deutschen Behörden vorwirft, ein von Ausländern begangenes Verbrechen zu vertuschen. Sein einstiger Duz-Freund Frank-Walter Steinmeier wirft ihm daraufhin Propaganda vor.
Lügen gehören inzwischen ebenso zu Lawrows Handwerkszeug wie die Litanei internationaler Spielregeln, Verträge und Präzedenzfälle, die er bei Bedarf im Schlaf aufsagen könnte. Seit der Krim-Annexion hat der Außenminister eine lange Liste von Lügengeschichten erzählt: Von der Behauptung, russische Soldaten kämpften nicht in der Ostukraine über die Fakes, die russische Auslandsvertretungen verbreiten6 bis hin zu den Vorwürfen, Washington betreibe Labore für Biowaffen in der Ukraine und arbeite an der „Endlösung der Russenfrage“7. Doppeldenk, Täter-Opfer-Umkehr, krude Verschwörungsmythen und primitiver Antiamerikanismus – das alles ist einem Ziel untergeordnet: Bewirtschaftung des Feindbildes zur Herstellung eines Ausnahmezustands und Rally ‘round the Flag Effekts. Die Argumentation ist schlicht und lässt sich auf fünf Punkte8 herunterbrechen:
1. Die USA haben die NATO bis vor Russlands Grenzen ausgedehnt. Sie betreiben Revolutionsexport und führen Europa an der Leine. Im Ergebnis sind wir von Feinden (Nazis) umzingelt und müssen uns verteidigen (wie im Großen Vaterländischen Krieg). 2. Sie („Pindossy“, „Gayropa“) sind moralisch verfault, wir stehen für die wirklichen Werte (Duchownost, Skrepy). 3. Sie sind Heuchler und haben Doppelstandards (Kosovo, NATO-Osterweiterung, Irak), wir stehen für Gerechtigkeit („in der Wahrheit liegt die Kraft“, „Gott ist mit uns“, „Krim nasch“). 4. Sie sind an allem Schuld, weil sie schon immer andere unterworfen und ausgebeutet haben (Kolonialismus, Imperialismus, Irak) – wir kämpfen immer für die Entrechteten und sind deshalb ihr nächstes Ziel. 5. Wir haben die Atombombe.
Wofür Lawrow selbst steht, das lässt sich hinter dieser Rhetorik immer schwerer erahnen. Gewiss ist nur, dass Lawrows persönliches Interesse in einem Punkt deckungsgleich ist mit dem Interesse seines Landes: Lawrow erwartet Respekt. Früher wurde er ihm für seine Gescheitheit und seine Erfahrung entgegengebracht. Die Lacher auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 haben gezeigt, dass der Respekt verloren geht, je weiter Russland die Wahrheit verdreht. Im März 2023 wiederholte sich die Situation, als Lawrow auf einer Konferenz in Indien behauptete, Russland sei in der Ukraine der Angegriffene. Immer öfter greift Lawrow daher zur Drohung, um sich Respekt zu verschaffen. Am Ende dieser Entwicklung bleibt die Angst, die Russland mit seinen Atomkriegs-Szenarien auszulösen in der Lage ist, als letzter außenpolitischer Erfolg, den die Regierung noch erzielen kann.
Dimitri Peskow ist seit dem Machtantritt Putins für dessen Pressearbeit zuständig und gilt als offizielles Sprachrohr des Kreml. Üblicherweise für die Krisen-PR verantwortlich, sorgte er mehrfach selbst für negative Schlagzeigen, unter anderem im Rahmen der Panama Papers.
Wo Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge protestieren, hat oft auch das russische Fernsehen seine Hand im Spiel. Wer sind die Protagonisten der Sendungen? Eine Recherche.
Nachdem Putin im September 2011 angekündigt hatte, wieder Präsident werden zu wollen, und im Dezember zahllose Wahlbeobachter über massive Wahlfälschungen berichteten, bildete sich in Russland die größte Protestbewegung seit dem Ende der Sowjetunion. Sie bewies erstaunliches Durchhaltevermögen, versiegte jedoch im Jahr 2013 aufgrund von inneren Streitigkeiten und der repressiven Reaktion des Staates.
Wie war das eigentlich Anfang der 1990er Jahre? Welche Fehler der Westen damals in Russland begangen hat und was er heute zusammen mit Russland tun kann, um sie zumindest ein bisschen zu korrigieren, kommentiert der Historiker und Spezialist für russisch-amerikanische Beziehungen Ivan Kurilla.
Vor 14 Jahren brach der Russisch-Georgische Krieg aus. Er forderte rund 850 Tote und tausende Verletzte und machte etwa 100.000 Menschen zu Flüchtlingen. Der Krieg zementierte die de facto-Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens von Georgien. Sonja Schiffers über Ursachen, Auslöser und Folgen des Konflikts.
Das militärische Eingreifen der Sowjetunion in Afghanistan dauerte von 1979 bis 1989 an. In der sowjetischen Armee dienten neben den Eliteeinheiten vor allem junge Wehrpflichtige. Auf der sowjetischen Seite wurden 15.000 Soldaten getötet und 54.000 verwundet. Der Krieg führte bei der Bevölkerung zu einem Trauma, das bis heute nachwirkt und die Deutung des aktuellen Einsatzes der russischen Luftwaffe in Syrien nicht unerheblich beeinflusst.
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