... liebe dekoder-Leser, funktioniert ja meist ziemlich anarchisch. Nur selten hangelt er sich zielstrebig von einem Gedanken fort zum nächsten. Seine Bewegung gleicht eher dem Gang über ein lockeres Wolkenfeld: Da ist zwar manchmal ein gezielter Sprung von einem wattigen Gebilde zum nächsten angesagt, an anderen Stellen aber wollen so viele Assoziationen, Erinnerungen, Vermutungen andocken, dass es einen nach rechts und links und noch in mehrere Diagonalen zugleich weiterzieht.
Im Zeitalter der papierenen Bücher und der Bibliotheken war es eine mühsame Sache, solchen Querverbindungen des Geistes zu folgen. Man musste sich durch Fußnoten, Verweisapparate und Bibliographien kämpfen, es dann mit Zettelkatalogen und Bibliothekaren aufnehmen, und wenn man schließlich die nächste ersehnte Gedankeninsel in den Händen trug, war der Grund, aus dem man sie aufsuchen wollte, vielleicht schon fortgeweht.
Das Internet macht es uns heute viel einfacher, in alle Richtungen zugleich zu lesen – so, wie die Dynamik unseres Geists und unseres Hirns es uns vorschlägt. Der Hyperlink hat aus dem Text das gemacht, was er ursprünglich schon einmal gewesen sein sollte: eine Textur, ein Gewebe, in dem die Fäden in Kreuzform ineinandergelegt sind.
Das muntere Sprießen des Netzes bringt aber auch eine Gefahr mit sich: die nämlich, von den allseits lockenden Linkkaskaden fortgetragen zu werden. Jeder hat ja schon erlebt, wie sich ein neugieriger Klick auf eine vermeintlich notwendige Zusatzinfo hinterrücks in eine ausgewachsene Prokrastinations-Sitzung verwandelte. Nicht, dass nicht auch das gelegentlich produktiv sein könnte. Aber will man bei einem Thema bleiben, dann ist eben das richtige Verhältnis zwischen grob angepeiltem Kurs und seitlichen Sprung- und Abzweigungsmöglichkeiten entscheidend.
Sie ahnen, worauf ich hinaus will. Natürlich können Sie einen journalistischen Artikel hernehmen und immer dann, wenn ein Begriff Ihre Aufmerksamkeit erregt oder ein Fakt nach Überprüfung ruft, ein weiteres Browserfenster öffnen und dort Google oder Wikipedia befragen. Aber nicht nur bekommen Sie dabei Material höchst unterschiedlicher Güte geboten, das Sie zunächst selbst wieder auf seine Verlässlichkeit überprüfen müssen. Sie laufen auch Gefahr, sich nach einiger Zeit nicht auf einer tragfähigen und für Ihre Frage relevanten Gedankenscholle wiederzufinden, sondern weit abseits, in irgendeinem Wolkenkuckucksheim.
Deshalb ist bei dekoder die Grundidee, dass sich alles bereits beieinander befindet, was man für den Ritt durch ein Thema benötigt: Der Haupt-Text, der zu einem Ziel will, und der Kon-Text, der sich beidseits von ihm aufbauscht. Auf langgestreckten Wolkenbahnen kann man so seiner eingeschlagenen Richtung folgen und dennoch den Bedürfnissen des lesenden Geistes nach dem Links und dem Rechts, dem Kreuz und dem Quer nachgehen: Man hat gewissermaßen das Beste beider Welten.
In solchen hybriden Textformen steckt viel Zukunft, davon bin ich überzeugt. Stand das vielleicht mit dahinter, als dekoder Ende Juni in Köln mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde? Der renommierte Preis geht an „herausragende Beiträge, die demonstrieren, wie das Internet oder Apps für aktuelle Formen des Online-Journalismus und der Informationsvermittlung eingesetzt werden können“. Die Auszeichnung jedenfalls ist gerade für ein so junges Medium wie dekoder von hochmotivierendem Wert.
Eine flüssige Juli-Lektüre wünscht – egal ob längs, kreuz oder quer – Ihr
Martin Krohs
Herausgeber