Am 8. Juli hat ein Gericht in Moskau die Dramaturgin Swetlana Petriitschuk und die Regisseurin Shenja Berkowitsch zu sechs Jahren Haft verurteilt. Das Theaterstück, das vom Gericht als „Rechtfertigung des Terrorismus“ ausgelegt wurde, hatte zuvor renommierte Preise gewonnen. Es basiert auf Prozessakten aus Verfahren gegen junge Frauen, die aus Russland nach Syrien reisen um Kämpfer des Islamischen Staats zu heiraten. In ihrem Schlusswort vor der Urteilsverkündung erklärte Petriitschuk, dass sie überzeugt war, mit ihrer Arbeit etwas gegen die Ausbreitung des Terrorismus zu tun. Das Gericht sah es anders. Meduza dokumentiert Petriitschuks letzte Rede.
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Swetlana Petriitschuk am 8. Juli 2024, dem Tag der Urteilsverkündung. Rechts neben ihr die Mitangeklagte Regisseurin Shenja Berkowitsch / Foto: Valery Sharifulin, TASS, Imago Images
Das Erste, was mir mein Verteidiger am ersten Verhandlungstag sagte, war, dass Berkowitsch und ich in demselben Aquarium sitzen, in dem damals auch die Angeklagte Warwara Karaulowa ihr Urteil gehört hatte. Er muss es wissen, er war auch ihr Verteidiger. Mein Dozent für szenisches Schreiben hat mir seinerzeit natürlich beigebracht, dass man die Figuren für Theaterstücke so genau wie möglich studieren muss, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass ich ihnen derart nah kommen würde.
Das gesamte Jahr [seit ich in Untersuchungshaft sitze – dek] fühle ich mich als Opfer einer Absurdität größten Ausmaßes. Der größten, die mir je im Leben oder in der Kunst begegnet ist. Und darüber hinaus bin ich auch gekränkt: Denn vor sechs Jahren, als ich das Stück schrieb, war ich mir sicher, dass ich etwas tat, dass von den Strafverfolgungsbehörden unbedingt begrüßt werden müsste: Mit den Mitteln, die mir als Schriftstellerin zur Verfügung stehen, wollte ich helfen, Verbrechen vorzubeugen. Ich habe versucht, Motive hinter Straftaten zu erforschen – genau wie das bereits Dutzende Schriftsteller vor mir getan haben. Ich habe geschrieben, dass es solche Frauen [gemeint sind die Frauen, die vom Islamischen Staat angeworben wurden und nach Syrien reisten – dek] gibt – und Sie, verehrtes Gericht wissen das besser als alle anderen. Wir haben mehr als 20 Zeugen gehört, die bestätigt haben, dass es in dem Stücke keine Rechtfertigung von Terrorismus gibt. Und letztlich geht es doch um einen Text in russischer Sprache, ohne schwieriges Vokabular oder Fachterminologie. Um festzustellen, ob die Autorin für den IS wirbt oder nicht, muss man weder promovierte Kunsthistorikerin sein noch Linguistin. Es reicht aus, Russisch zu sprechen und einen mittleren Schulabschluss zu haben.
Nach Auffassung der Anklage haben im Verlauf von sechs Jahren sowohl einige Hundert professionelle Theaterleute nicht gemerkt, dass dieser Text eine Rechtfertigung von Terrorismus enthält. Außerdem auch das Kulturministerium, der Theaterverband, der Strafvollzugsdienst sowie Tausende Zuschauer und Hunderte Menschen, die uns während der vergangenen 14 Monaten in Untersuchungshaft geschrieben haben. Ja, selbst einige Linguisten; einer von ihnen schreibt Bücher über die Methoden linguistischer Gerichtsgutachten. Aber die Anklage weiß es besser.
Der 15. Monat unserer Untersuchungshaft ist angebrochen. Und es ist höchste Zeit, dass diese Absurdität ein Ende hat. Damit Berkowitsch und ich endlich wieder etwas Sinnvolles tun können – arbeiten, uns um unsere Nächsten kümmern, unsere Liebsten umarmen und unsere Gesundheit wiederherstellen. Möge der gesunde Menschenverstand endlich siegen.
Die beiden russischen Theatermacherinnen Swetlana Petriitschuk und Shenja Berkowitsch wurden zu sechs Jahren Haft verurteilt – für ein Theaterstück. dekoder bringt einen Ausschnitt aus dem Werk in deutscher Übersetzung.
Alexej Nawalny ist in den Hungerstreik getreten – so protestiert er gegen ausbleibende medizinische Hilfe und Schlafentzug im Gefängnis. Alexander Dubowy gibt einen Einblick in das russische Strafvollzugssystem – und die Behörde dahinter, den Föderalen Strafvollzugsdienst FSIN.
Er gilt als einer der weltweit talentiertesten Theaterregisseure, auch seine Filme räumen renommierte Preise ab. Im Juni 2020 wurde Serebrennikow wegen Veruntreuung von Staatsgeldern zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Warum ausgerechnet er? Diese Frage gibt Anlass zu einer Fülle von Spekulationen, die viel über die politische und gesellschaftliche Situation im Land verraten.
Während Russland versucht die Ukraine einzunehmen, fotografiert Alexander Gronsky die Straßen und Vorstädte Moskaus. Die Stadt sieht aus wie zuvor, aber sie so anzuschauen wie früher, gelingt nicht.
„Unser freundliches Konzentrationslager“ – so nennt Alexej Nawalny sein derzeitiges Zuhause, die Pokrowskaja-Kolonie. Mitte März 2021 wurde der Oppositionspolitiker in diese sogenannte Besserungsarbeitskolonie mit allgemeinem Regime (IK-2) verlegt. Die Kolonie liegt in der Oblast Wladimir, rund 100 Kilometer östlich von Moskau und ist die in Russland am häufigsten anzutreffende Art der Justizvollzugsanstalt. Mit einem Gefängnis westlichen Typs ist sie kaum vergleichbar – wie sich auch das gesamte russische Strafvollzugssystem grundlegend vom westlichen unterscheidet.
Noch nie gab es in russischen Gefängnissen so wenige Insassen: Rund 480.000 Menschen haben im März 2021 ihre Haftstrafe verbüßt. Im Jahr 2000 waren es noch etwa doppelt so viele, nach den USA war Russland das Land mit den meisten Gefangenen pro 100.000 Einwohner.
Hinter dem System des Strafvollzugs steht in Russland der Föderale Strafvollzugsdienst FSIN (federalnaja slushba ispolnenija nakasani). Die Behörde begründet den massiven Rückgang der Insassenzahlen mit der zunehmenden Anwendung von Strafen ohne Freiheitsentzug: Hausarrest gehört etwa dazu oder Verbüßung der Strafe zu Hause bei regelmäßiger Meldung in der zuständigen strafrechtlichen Exekutivinspektion. Der FSIN führt außerdem auch eine allgemeine „Liberalisierung“ der Strafvollzugspolitik an1: Das, was früher mit einer Haft bestraft wurde, wird heute vermehrt mit Geldstrafen geahndet; vor allem die Anzahl der Freiheitsstrafen im Wirtschaftsstrafrecht ist dadurch zurückgegangen.2
Dies sowie der allgemeine Rückgang der Kriminalität haben dazu geführt, dass die russischen Strafvollzugsanstalten heute nur zu etwa 73 Prozent ausgelastet sind, der gesamteuropäische Durchschnitt liegt dagegen bei rund 90 Prozent.3
„Folterkolonien“
Eine gesunkene Auslastung der ehemals notorisch überfüllten Gefängnisse müsste sich eigentlich in besseren Haftbedingungen widerspiegeln. Doch Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese nach wie vor als menschenunwürdig. Wegen massiver Korruption in russischen Haftanstalten können sich manche Häftlinge zwar tatsächlich besondere Privilegien von der Gefängnisleitung erkaufen, wie sie beispielsweise Olga Romanowa, Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja, beschreibt. Insgesamt sei das russische Gefängniswesen laut Romanowa aber systematisch darauf ausgerichtet, Menschen zu brechen.4
Auch Oleg Senzow gab nach seiner Freilassung aus rund fünfjähriger Haft einen traurigen Einblick in die russische Gefängniswelt: Diese sei nur dazu geschaffen, um die Gefangenen zu entmenschlichen, so der ukrainische Regisseur. In manchen Anstalten herrschen laut Senzow menschenunwürdige Verhältnisse: Erniedrigungen und Folter seitens der Justizmitarbeiter oder Mitinsassen gehörten dort faktisch zum System. Ähnliches wurde bereits mehrmals aus der Anstalt berichtet, in der Nawalny einsitzt. Als berüchtigte „Folterkolonie“ sorgte die IK-2 vor allem zu der Zeit für Schlagzeilen in unabhängigen Medien, als deren Abteilung für interne Verbrechensbekämpfung und Kriminalprävention noch von Roman Saakjan geleitet wurde. Dieser wechselte im Januar 2020 seinen Arbeitsplatz und wurde Leiter der Strafkolonie IK-6 in Melechowo, ebenfalls in der Oblast Wladimir. Was er laut einem im März 2021 veröffentlichten Bericht des Insassen Iwan Fomin offenbar aus der IK-2 mitgebracht hatte, war für viele erschütternd: Systematische Folter und sexuelle Gewalt gehören in der IK-6 laut Fomin zur Tagesordnung, außerdem berichtete er über einen Mord an einem Mitinsassen, den der Gefängnisleiter Saakjan wohl abgesegnet hatte.
Das Ziel – Bestrafung statt Resozialisierung?
Oft heißt es: Während man im Westen auf Resozialisierung setze, sei das wichtigste Vollzugsziel in Russland die Bestrafung. Dabei ist die Resozialisierung der Verurteilten offiziell auch die Hauptaufgabe der russischen Strafvollzugsanstalten. Doch die Praxis ist vielschichtig und widersprüchlich.
Obwohl der Gesetzgeber vorsieht, dass die Häftlinge ihre Strafe in der Nähe ihres Wohnortes verbüßen sollen, um so ihre Resozialisierung zu erleichtern, verbringen sie die Strafe oftmals sehr weit weg von ihrem Zuhause und ihren Angehörigen. Auf diese Weise wird das Besuchsrecht de facto eingeschränkt.
Bis heute gibt es kein einheitliches staatliches Resozialisierungsprogramm oder auch nur eine klare Vorstellung von staatlichen Resozialisierungsmaßnahmen. Die Resozialisierung wird vor allem von NGOs wie Rus Sidjaschtschaja übernommen. Diese erhalten nicht nur wenig bis keine staatliche Unterstützung, sondern werden zu allem Überdruss auch noch mit unzähligen bürokratischen Hürden konfrontiert.5 So wurde Rus Sidjaschtschaja aufgrund einer finanziellen Zuwendung der EU – es ging um den Aufbau juristischer Beratungszentren in einzelnen Regionen – zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt.
Die Arbeit von NGOs wird zusätzlich von der weit verbreiteten Praxis der sogenannten Etappierung erschwert: eine Verlegungs- und Transport-Routine, die laut Rus Sidjaschtschaja keiner besonderen Logik und Logistik folgt.6 Der FSIN hält alle Informationen über die Verlegung von Häftlingen und deren späteren Haftort geheim, weswegen weder die Häftlinge noch deren nahe Verwandte oder Anwälte vor Beginn der Etappierung über das endgültige Ziel informiert werden. Die Strafgefangenen werden damit praktisch von der Außenwelt abgeschnitten, teilweise bis zu einem Monat oder länger. Während der Überführung befinden sich die Häftlinge in überfüllten Spezialwaggons und Gefangenentransportern – sogenannten Stolypin-Waggons –, teils unter grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen: Bis zu 16 Menschen können laut Gesetz auf einer Fläche von dreieinhalb Quadratmetern zusammengepfercht werden, Bettwäsche und Matratzen werden nur selten zur Verfügung gestellt.
An Zwischenstationen werden die Häftlinge in Transitbereichen in Untersuchungshaftanstalten (SISO) untergebracht, wo sie manchmal wochenlang bleiben, bis sie wieder etappiert werden. Auf jeder Etappe dieses Transports findet in den Transitgefängnissen eine oftmals erniedrigende körperliche Untersuchung statt. Hinzu kommt, dass vermögende Häftlinge – die sogenannten kabantschiki– nicht selten systematisch auf Reisen geschickt werden, um sie auf jeder Etappe finanziell zu schröpfen. Der FSIN, so heißt es manchmal in diesem Zusammenhang sarkastisch, sei eben ein Konzern – ein gewinnorientiertes Unternehmen.
Archipel FSIN
Seit der Gulag-Epoche bleibt der Strafvollzug in Russland ein Staat im Staate: isoliert, unbarmherzig, entmenschlicht.7 Geschaffen wurde das System vor rund 100 Jahren, nur ein Mal wurde es seitdem laut Olga Romanowa reformiert – 1953, unter Lawrenti Berija.8
Die Insassen werden in diesem System nicht als Menschen, sondern vielmehr als Arbeitsressource betrachtet. Wie der Gulag ist auch der FSIN ein geschlossenes System, das fast alle Daten über seine Wirtschaftstätigkeit geheim hält. Die wenigen vorhandenen Informationen stammen von Menschenrechtlern, die vor allem im europäischen Teil Russlands arbeiten.
Das Wirtschaftssystem umfasst unzählige Agrarbetriebe, Bauunternehmen und Fabriken. Die Insassen fertigen eine breite Palette von Produkten an. Im Jahr 2018 verfügte der FSIN mit umgerechnet 3,5 Milliarden Euro über das europaweit größte Gefängnisbudget. Zugleich hat Russland mit 2,40 Euro die niedrigsten täglichen Ausgaben pro Person9 – im europäischen Durchschnitt sind es 68,30 Euro pro Häftling und Tag. Laut Waleri Maximenko, stellvertretender Direktor des FSIN, wurden die Verpflegungskosten von 24 Milliarden Rubel im Jahr 2012 auf 15 Milliarden Rubel im Jahr 2017 gekürzt.10 Damit kostet die Verpflegung pro Insasse und Tag rund 72 Rubel (damals umgerechnet etwa 1 Euro) – ein Betrag, der laut Maximenko die notwendige Menge an Kalorien deckt. Ein Grund für die geringen Verpflegungskosten besteht wohl darin, dass der FSIN nur einen Teil der Lebensmittel zukauft, der Großteil wird von den Kolonien in eigenen Nebenbetrieben selbst produziert. Grundsätzlich wird pro Häftling damit sogar weniger ausgegeben, denn de facto finanzieren sich die Gefangenen selbst, nicht selten verdient die Gefängnisleitung sogar an ihnen.
Dies geschieht einerseits direkt, etwa dadurch, dass vom Arbeitslohn der Insassen Versorgungsleistungen der Strafkolonie abgezogen werden: In einem besonders krassen Fall bekam ein Insasse der IK-13 in Nishni Tagil laut Lohnabrechnung vom Juli 2015 1,99 Rubel (damals umgerechnet 0,03 Euro).11 Andererseits verdienen Gefängnismitarbeiter auch an kriminellen Machenschaften der Insassen: So wurde im Juli 2020 beispielsweise im landesweit bekannten Moskauer Untersuchungsgefängnis Matrosenruhe ein Call Center entdeckt, aus dem Betrugsanrufe getätigt wurden. Die Kosten der beschlagnahmten technischen Anlagen wurden dabei auf sieben Millionen Rubel beziffert (damals rund 82.000 Euro).12 Die bei der Razzia verhafteten FSIN-Mitarbeiter bilden womöglich nur die Spitze des Eisbergs: Olga Romanowa etwa ist überzeugt, dass die Verbindungen des FSIN zur organisierten Kriminalität mittlerweile schon zum System gehören.13
Arten von Justizvollzugsanstalten
„Die Zone“, sona, so heißt in Russland dieser spezifische Ort der Haft mit seinem streng hierarchischen System und seinen Erniedrigungen. Insgesamt gibt es allerdings acht unterschiedliche Arten von Justizvollzugsanstalten, und nur rund 1300 (von insgesamt 480.000) Menschen sitzen in Gefängnissen ein. Die Gefängnisse sind nur für besonders schwere Verbrechen wie Terrorismus, Flugzeugentführungen oder etwa Geiselnahme vorgesehen. Genauso wie in sogenannten Spezialkolonien herrschen hier die strengsten Haftbedingungen.
Am anderen Ende der Skala steht die sogenannte Ansiedlungsstrafkolonie, kolonija posselenije – so etwas wie offener Vollzug. In den Ansiedlungsstrafkolonien befinden sich 2021 rund 30.000 Menschen.
Ersttäter verbüßen ihre Strafe häufig in den sogenannten Strafkolonien (isprawitelnaja kolonija) mit allgemeinem Regime. Die Unterschiede von diesen zu sogenannten Besserungsarbeitskolonien mit strengem Regime sind nicht allzu groß, sie betreffen vor allem die Anzahl der Besuche und Postpakete sowie der Höhe der Geldsummen, die die Insassen empfangen oder ausgeben dürfen. Es gibt insgesamt 670 Straf- und Besserungsarbeitskolonien in Russland, sie beherbergen rund 80 Prozent aller Häftlinge.
Die 209 Untersuchungshaftanstalten Russlands (SISO) dienen in erster Linie der Unterbringung von Beschuldigten. Rund 100.000 Menschen sitzen hier derzeit ein.
Außerdem gibt es in Russland 18 Erziehungskolonien (wospitatelnaja kolonija), wo derzeit etwa 1000 Jugendliche ihre Strafen verbüßen.
Frauen können zur Haft nur in Erziehungskolonien und Medizinischen Justizvollzugsanstalten (letschebnoje ispravitelnoje utschreshdenije) oder in Besserungsarbeitskolonien mit allgemeinem Regime und in einer Ansiedlungsstrafkolonie verurteilt werden. Im Februar 2021 waren rund 40.000 Frauen in Haft, den Frauenstrafkolonien sind 13 Kinderheime angeschlossen, in denen 330 Kinder leben.14
Selbstverwaltung und Disziplinierung
Die Besonderheit des russischen Strafvollzugs ist: In den Straf- und Besserungskolonien gibt es keine Zellen. Die Häftlinge sind meistens in schlafsaalartigen Baracken mit Stockbetten untergebracht. Die Insassen werden in Gruppen eingeteilt, die gemeinsam leben. In diesen Gemeinschaftsunterkünften können sie sich frei bewegen und miteinander kommunizieren.
Das System der Gemeinschaftsunterkünfte wirkt sich auch auf die Organisation der Selbstverwaltung von Insassen aus. So gibt es formale Verwaltungspositionen, die von Insassen bekleidet werden, etwa die sogenannten sawchosyoder dnewalnyje. Diese agieren ähnlich wie Verwaltungsangestellte und genießen gegenüber einfachen Insassen bestimmte Privilegien.
Daneben gibt es Zonen, in denen die sogenannten Diebe im Gesetz (wory w sakone) einsitzen. Diese kriminellen Autoritäten etablieren nicht selten auch eine von den Justizbeamten unabhängige Selbstverwaltung von unten. Die Diebesgesetze der Berufskriminellen gelten für alle Insassen, die Justizbeamten lassen das traditionell zu und greifen dabei nur in den allerseltensten Fällen ein.
Die Informationsbeschaffung und Kontrolle durch die Justizwache erfolgt nicht selten über einzelne Häftlinge selbst, die als Augen und Ohren der Beamten agieren. Die Kontrolle gründet dabei auf einem Netz von Spitzeln und sehr harten Strafen – selbst für geringfügige Vergehen. Weil eben jeder jeden beobachtet, gelingt es auch einer sehr geringen Zahl an Beamten eine große Anzahl von Insassen zu überwachen.
Alexej Nawalny wurde in der Besserungskolonie IK-2 jedenfalls im sogenannten Sektor mit erhöhten Kontrollmaßnahmen A untergebracht, mit fünf weiteren Häftlingen. Da der Oppositionspolitiker als fluchtgefährdet eingestuft ist, wird er nachts zur Kontrolle einmal pro Stunde geweckt. Er darf weder Besuche noch Postsendungen empfangen. Da den Häftlingen das Gefühl vermittelt werden soll, dass sie stets unter Zeitdruck stünden, hat Nawalny für das Verfassen von Briefen an nahe Angehörige pro Woche lediglich 15 Minuten Zeit. Im März 2021 beklagte er in einem Brief, dass ihm auch eine angemessene ärztliche Behandlung seiner Rückenschmerzen verwehrt würde. Ende März trat er aus Protest gegen die schlechte medizinische Versorgung und gegen Folter durch Schlafentzug in den Hungerstreik.
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Gesellschaft – von Aljona Schpak , Victoria Ivleva
Maria Noel war schwanger, als sie ins Gefängnis kam. Ihren Sohn brachte sie während der Haft zur Welt. Dort erlebte Noel eine starke Stigmatisierung und Entmündigung als Mutter. Heute macht sie sich für Gefangene und deren Neugeborene stark. Ein Interview.
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