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Immer wieder hört man auch im westlichen Internet von einem russischen Projekt namens VKontakte (VK) munkeln. Dort, heißt es, sei alles chaotischer, rauer – aber auch freier. Manche sehen in VK gar eine Fluchtmöglichkeit aus facebook und allgemein aus dem „überregulierten“ europäischen Netz. Tatsächlich ist auf VK im Vergleich zu seinem amerikanischen Konkurrenten viel mehr erlaubt, mit daraus resultierenden Diskussionen um Copyright-Verletzungen, Daten- und Minderheitenschutz.
VKontakte (sprich: fkontaktje, wörtlich „in Kontakt“) selbst bezeichnet sich schlicht als „Europas größtes soziales Netzwerk mit mehr als 100 Millionen aktiven Nutzern“. Das Unternehmen markiert damit ungeachtet der räumlichen und sprachlichen Verortung in Russland seine Positionierung im globalen Web.1 VK ist auch in Ländern des postsowjetischen Raums mit einem hohen russischsprachigen Bevölkerungsanteil beliebt, etwa in Belarus, der Ukraine oder Kasachstan. Laut Alexa Internet Ranking gehört das Netzwerk, das seinen Hauptsitz in St. Petersburg am traditionsreichen Newski-Prospekt hat, zu den Top Zwanzig der globalen digital player.2
VKontakte wurde im Jahr 2006, in der Boomzeit der social-media-Anwendungen, von den Brüdern Nikolaj und Pawel Durow gegründet. Zwei Jahre später, mit der Öffnung facebooks für russischsprachige User, stellte sich VK auch der ausländischen Konkurrenz, als deren Analogon oder sogar Klon es gilt.3
VK wird von den russischen Usern aufgrund seiner größeren Anarchie und weniger starken Normiertheit geschätzt.4 Das Netzwerk gilt im Vergleich zu facebook als „russischer“, wobei dies nicht mit einer patriotischen Gesinnung gleichzusetzen ist, sondern mit etablierten Kommunikationsnormen. Viele russische Internet-User bedienen sich zudem verschiedener social networks gleichzeitig, halten Profile auf dem „russischeren“ VK und dem „westlicheren“ facebook und stellen damit ein flexibles Identitätsmanagement unter Beweis.
VK verfügt über rund 80 Spracheinstellungen, darunter auch ins Deutsche, daneben existieren für die russischsprachige Community ein sowjetisches und ein zaristisches Design, Relikte eines Faibles des unkonventionellen Firmengründers Pawel Durow für Aprilscherze. Ersteres enthält beispielsweise die Navigationspunkte „Meine Genossen“ oder „Emigration“.
Seine besondere Popularität verdankt VK der Möglichkeit, digitale Daten und Content in großem Umfang auszutauschen und zu konsumieren. Daraus ergeben sich zahlreiche Konflikte im Bereich des Copyright. Russische und ausländische Firmen, insbesondere aus dem Musikbereich, klagen regelmäßig gegen die Plattform wegen Verletzung von Urheberrechten.
Ein kontroverses Thema stellt auch der Datenschutz dar. Dies bezieht sich auf das Hacken von Nutzer-Profilen und die Auswertung der Profile durch staatliche Institutionen sowie durch wirtschaftliche und private Akteure. VK wird zudem oft die Verbreitung von Pornographie, Hassrede und Rassismus vorgeworfen.
Unlängst berichten insbesondere deutsche Medien über die verstärkte Nutzung des Netzwerks durch deutsche neonazistische Kreise, die aus facebook „auswandern“, da dort hetzerische und verfassungswidrige Beiträge strikter gelöscht werden.5
Von früh an begleiten die Entwicklung des Netzwerks Diskussionen um das Verhältnis zum russischen Geheimdienst FSB, der dieses angeblich sogar finanziell unterstützt haben soll.6 Im Zuge der Proteste 2011 bis 2013 bekam Pawel Durow Anfragen von Seiten der Sicherheitsdienste zur Blockierung einzelner User-Accounts und Gruppen.7 Durow, der als bekennender Anhänger eines deregulierten Internets gilt, twitterte schließlich eine provokative Absage an weitere Begehrlichkeiten von Seiten staatlicher Institutionen: ein Foto, auf dem ein Hund mit Hoodie den Ermittlern die Zunge herausstreckt.8 Der Konflikt verschärfte sich im Winter/Frühjahr 2013/2014 im Zuge der pro-europäischen Proteste in Kiew.9 Der FSB verlangte die Löschung der Accounts von Maidan-Aktivisten. Durow lehnte dies ab.10
Bereits Ende des Jahres 2013 verkaufte er seinen Anteil an VK und verließ Russland, das „leider mit dem Internet-Business nicht mehr vereinbar sei“.11 Inwiefern dabei auch ein Prozess gegen Durow wegen eines mutmaßlichen Verkehrsdelikts eine Rolle spielte,12 durch den möglicherweise Druck gegen ihn aufgebaut wurde, blieb im Unklaren. Aktuell ist das Netzwerk im Besitz der russischen Medienholding Mail.Ru Group, deren Haupt-Anteilseigner der kremlnahe Unternehmer Alischer Usmanow ist. Die Änderungen in der Eigner- und Führungsstruktur werden oft als Versuch interpretiert, die digitalen Netzwerke von Seiten des Kreml stärker zu kontrollieren.13
VK spiegelt die Charakteristika und Probleme der russischen Netzgesellschaft sowie die intensive Verflechtung von Politik und digitaler Kommunikation in Russland wider.14 Dies betrifft vor allem Fragen der – direkten oder indirekten – staatlichen Kontrolle der Netzkommunikation, des Datenschutzes, des Minderheitenschutzes oder des Schutzes des geistigen Eigentums.
Besonders symptomatisch ist in diesem Kontext der deklarierte staatliche Schutz von Minderheiten vor Hassrede und Rassismus. Dies vollzieht sich vor dem Hintergrund einer fragwürdigen Definition des Begriffes Extremismus in der russischen Gesetzgebung (Extremismusparagraphen 280 und 282).15 Zunehmend werden Einträge in sozialen Netzwerken als extremistisch qualifiziert und User sogar zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Die Anzahl von Verurteilungen ist im Zeitraum von 2012 bis 2015 um das Dreifache gestiegen. Rund die Hälfte der Verfahren betreffen Posts in VK, da das Unternehmen bereitwilliger mit den russischen Behörden zusammenarbeitet als facebook oder Twitter.16